Lettland
Lettland (lett. Latvija), Kurzform für Republik Lettland (lett. Latvijas Republika).
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1 Statistische Angaben
Lage: | Staat im nördlichen Osteuropa, grenzt m Norden an Estland (Grenzlänge: 343 km), im Osten an Russland (276 km), im Südosten an Weißrussland (161 km) und im Süden an Litauen (576 km). Die Küstenlänge beträgt 498 km, die Fläche des Staatsterritoriums beträgt 64.589 km².
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Einwohner (2005): | 2.294.590, davon 46,1 % männlich, 53,9 % weiblich; Altersstruktur 0–14 Jahre: 14,8 %, 15–64 Jahre: 68,7 %, 65 Jahre und älter: 16,5 %; Bevölkerungsdichte: 35,5 Einwohner/km²; 65,4 % im arbeitsfähigen Alter (Männer 15–64, Frauen 15–59); 69,5 % Beschäftigte (von den Personen im erwerbsfähigen Alter); 7,5 % Arbeitslose; Bevölkerungsentwicklung 1950–2005: 0,29 % jährlich, 1990–2005: –0,93 % jährlich; Nationalitäten (2004): 1.357.099 Letten (58,8 %), 660.684 Russen (28,6 %), 88.287 Weißrussen (3,8 %), 59.011 Ukrainer (2,6 %), 56.511 Polen (2,5 %), 31.717 Litauer (1,4 %), 9883 Juden (0,4 %), 8491 Roma (0,4 %), 3788 Deutsche (0,2 %), 2537 Esten (0,1 %), 28.046 ohne Angabe u. a. (1,2 %). Religionszugehörigkeit: 23,7 % Lutheraner, 18,5 % Katholiken, 15,0 % Russisch-Orthodoxe.
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Hauptstadt und größere Städte (2005): | Riga (727.578), Daugavpils (109.482), Liepāja (85.915), Jelgava (66.087), Jūrmala (55.602), Ventspils (43.806), Rēzekne (36.646), Valmiera (27.523), Jēkabpils (26.737).
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Währung: | 1 Lats (Ls) = 100 Santīms |
Wappen: | Das Staatswappen vereinigt die Embleme zweier historischer Provinzen, den livländischen Greif und den kurländischen Löwen unter einer aufgehenden Sonne. Darüber symbolisieren drei Sterne die historischen Provinzen Kurland (Kurzeme), Livland (Vidzeme) und Lettgallen (Latgale).
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Flagge: | Zwei waagerechte dunkelrote Streifen mit einem schmalen weißen Mittelstreifen in den Proportionen 1:2 (Breite:Länge).
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Hymne: | Dievs svētī Latviju („Gott schütze Lettland“), Text und Melodie von Kārlis Baumanis (1834–1904). |
Feiertage: | Staatliche Feiertage: 1. Januar (Neujahr), 11. November („Sieg über die Bermondt-Truppen 1919“), 18. November („Ausrufung der Republik 1918“); sonstige Feiertage: 23. Juni (Līgo, Mittsommerfest), 25. Juni (Jāņi, Johannistag), 15. August (Mariä Himmelfahrt), Ostermontag (beweglich), 1. November (Allerheiligen), 25. und 26. Dezember (Weihnachten), 31. Dezember (Silvester).
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Zeit: | Osteuropäische Zeit |
Staatssprache: | Lettisch |
Staatsform: | parlamentarische Republik |
Staatsoberhaupt: | Staatspräsident (derzeit Valdis Zatlers) |
Regierungschef: | Ministerpräsident (derzeit Aigars Kalvītis) |
Politische Parteien: | Jaunais Laiks (JL, „Neue Zeit“); Latvijas Pirmā Partija (LPP, „Lettlands Erste Partei“) und Latvijas Ceļš (LC, „Lettlands Weg“); Par Cilvēka Tiesībām Vienotā Latvijā (PCTVL, „Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland“); Saskaņas Centrs (SC, „Harmoniezentrum“); Tautas Partija (TP, „Volkspartei“); Tēvzemei un Brīvībai/Latvijas Nacionāli Konservatīvā Partija (TB/LNNK, „Für Vaterland und Freiheit/Nationale Konservative Partei Lettlands“); Zaļo un Zemnieku Savienība (ZZS, „Union der Bauern und der Grünen“): Latvijas Zemnieku Savienība (LZS, „Lettlands Bauernunion“), Latvijas Zaļā Partija (LZP, „Lettlands Grüne Partei“).
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Bruttoinlandsprodukt (2005): | 13,895 Mrd. US-Dollar, 6014 US-Dollar je Einwohner |
Bruttosozialprodukt (2005): | 15,879 Mrd. US-Dollar, 6903 US-Dollar je Einwohner |
Auslandsverschuldung (2005): | 15,177 Mrd. US-Dollar |
Haushaltsdefizit (2005): | 26,8 Mio. US-Dollar (0,2 % des BIP) |
Außenhandel (2005): | Importe 8,639 Mrd. US-Dollar: 19,9 % Maschinen und Maschinenteile, 12,7 % Mineralstoffe und Öle, 10,9 % Transportmittel; Hauptlieferländer (2004): 14,6 % Deutschland, 12,5 % Litauen, 8,7 % Russland, 7,2 % Estland, 6,5 % Finnland; Exporte 5,130 Mrd. US-Dollar: 30,5 % Holz und Holzprodukte, 14,1 % Metallerzeugnisse und Fertigwaren, 10,7 % Textilien; Hauptabnehmerstaaten (2004): 13,0 % Großbritannien, 12,4 % Deutschland, 10,3 % Schweden, 9,5 % Litauen sowie 8,4 % Estland.
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Mitgliedschaften: | Council of the Baltic Sea States (CBSS), Europarat, EU, European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), Inter-Parliamentary Union (IPU), International Labour Organization (ILO), International Monetary Fund (IMF), International Organization for Migration (IOM), Interpol, NATO, OSZE, UNO, Weltbank, WHO, World Trade Organization (WTO).
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Anmerkung der Redaktion: Stand der statistischen Angaben ist, wenn nicht anders vermerkt, das Publikationsdatum des Artikels.
2 Geographie
2.1 Naturraum
L., das mittlere der drei baltischen Länder, wird in die vier (historischen) Landschaften Kurland (Kurzeme) im Westen, Semgallen (Zemgale) im Süden, Livland (Vidzeme) im Nordosten und Lettgallen (Latgale) im Südosten unterteilt.
Die überwiegend hügelige und seenreiche Oberflächenstruktur L.s entstand während der letzten Eiszeit. Die Erhebungen reichen von 150 m in der „Kurländischen Schweiz“ (Kurzemes Šveice) bis über 300 m in den „Südlivländischen Höhen“ (Vidzemes Centrālā Augstienē). Der höchste Berg L.s und zweithöchste des Baltikums ist Gaiziņkalns (dt. hist. Gaising) des Landes mit rd. 312 m.
Die lettische Küste besteht aus flachen und sandigen Ausgleichsküsten und greift in der Rigaer Bucht weit ins Land hinein. Die zumeist mäandernden Flüsse münden vorwiegend in die Ostsee. Der längste Fluss des Baltikums, die Düna (Daugava), fließt auf 352 km durch lettisches Territorium. Einen mit 452 km längeren Verlauf nimmt nur der Fluss Gauja (dt. hist. Livländische Aa), gefolgt von Venta (Windau) mit 346 km. Im Norden und Osten sind als Überbleibsel der Vereisung zahlreiche Seen vorhanden. Die größten sind Lubāns mit 80,7 km², Rāznas mit 57,6 km², Engures mit 40,5 km² und Burtnieku ezers mit 40,1 km². Der tiefste See ist mit 29,9 m Rušons ezers in Rēzekne.
L.s Klima ist eines des Übergangs vom maritimen zum kontinentalen Klima. An der Küste ist das Klima milder, mit einer Durchschnittstemperatur von –5 bis –3 °C im Januar und 16-16,5 °C im Juli, während die mittleren Temperaturen im Osten des Landes im Januar auf –7 bis –4 °C und im Juli 16,5–17 °C erreichen. Im Jahr fallen an der Küste durchschnittlich ca. 640–690 mm und im Osten des Landes ca. 600–650 mm Niederschläge. Der Verdunstungswert ist so niedrig, dass in den Böden ein Feuchtigkeitsüberschuss herrscht. In L. gibt es zahlreiche ausgedehnte Moorgebiete und größtenteils wenig fruchtbare Böden (Podsole).
Mit 44,7 % seiner Gesamtfläche ist L. allerdings sehr waldreich; es wachsen überwiegend Kiefern, Birken und Fichten. Häufig gibt es Wacholder, aber auch Linden und Eichen. Stark verbreitet sind auch Waldbeeren und Pilze. Im Osten und Norden L.s sind über 50 % der Fläche bewaldet. 16,3 % des Staatsterritoriums sind als Schutzflächen ausgewiesen.
L. verfügt über kaum nennenswerte Bodenschätze. Nutzbar sind neben Kalkgesteinen und Gips allein Sande, Tone und Torf. Problematische Umweltbelastungen herrschten bis in die jüngere Gegenwart v. a. an den Mündungen der durch Industrieabfälle verschmutzten Flüsse, so etwa an der Düna.
2.2 Bevölkerung
Bei einer Bevölkerungszahl von 2.294.590 erreichte L. 2005 eine Bevölkerungsdichte von 35,5 Einwohnern pro km². Seit 1990, als das Land noch 2.658.161 Einwohner zählte, nimmt die Bevölkerung L.s kontinuierlich ab (bis 2005 um 15,8 %). Seit 1991 ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung negativ. Der Sterbeüberschuss erreichte 1992 mit –2,2 pro 1000 Personen sein vorläufiges Maximum. Inzwischen beläuft er sich auf –0,5 (2005). Als im selben Jahr die Auswanderung um 53.474 Personen die Einwanderung überstieg, erreichte das Wanderungssaldo den vorläufigen Tiefpunkt (–2,0). Seit 1998 oszilliert es um –0,1 bis –0,2.
Etwa 60 % der Bevölkerung lebt in Städten, davon rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung allein in der Hauptstadt Riga und seiner Agglomeration mit den nahe gelegenen größeren Städten wie Jūrmala und Jelgava, wo viele tägliche Pendler leben.
Der hohe Anteil der russischsprachigen Bevölkerung (2005: 28,5 %) ist vorwiegend auf die sowjetische Bevölkerungspolitik im Rahmen der forcierten Industrialisierung nach 1945 zurückzuführen. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte der Anteil der slawischen Bevölkerung in L. knapp unter 13 % gelegen (darunter 8,8 % Russen). Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen Mitte der 90er Jahre ist der zwischenzeitlich deutlich höhere Anteil (1990: 34,0 %) wieder signifikant gesunken. Seither verlassen russischstämmige Einwohner L. Richtung Russland aus wirtschaftlichen Gründen in deutlich geringerem Ausmaß, waren es im Jahr 1995 noch 11.558, so sind es seit 2000 etwa 10.000. Russland, vor Deutschland und Großbritannien, bleibt jedoch das wichtigste Aufnahmeland für Emigranten aus L. V. a. Russen, Weißrussen und Ukrainer verlassen das Land.
Die nicht zur Titularnation zählende Bevölkerung lebt v. a. in den industrialisierten Gebieten und in der südöstlichen Region Lettgallen. In allen größeren Städten beträgt der Anteil zwischen einem Drittel und über drei Viertel (Daugavpils: 82,1 %). In Riga lebt eine etwa gleich große Anzahl lettischer und russischer Bevölkerung, bei deutlichen Mehrheiten in einzelnen Stadtvierteln. Neben den Russen stellen Weißrussen (3,8 %), Ukrainer (2,5 %) und Polen (2,4 %) die zahlenmäßig größten Minderheiten. Während sich die Ukrainer v. a. in größeren Städten konzentrieren, stellen die Weißrussen im Kreis Krāslava 16,9 % der Bevölkerung und in der Umgebung von Daugavpils (Stadt und Landkreis) machen Polen 14,0 % aus.
Lettisch ist zwar die einzige Staatssprache, aufgrund des hohen russischstämmigen Bevölkerungsanteils hat die russische Sprache jedoch eine ungebrochen große Bedeutung. Die Bevölkerung L.s ist in der Regel zwei-, lettisch- und russischsprachig.
Im Unterschied zur Regelung in der Zwischenkriegsrepublik hat mit den nach 1945 aus anderen Teilen der Sowjetunion Zugezogenen ein Teil der Minderheiten heute keinen Staatsbürgerstatus, denn L. hat nach Erklärung der Unabhängigkeit 1991 die sowjetischen Immigranten zunächst von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Sie müssen einen Sprach- und Geschichtstest ablegen, um die lettische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Inzwischen erhalten in L. geborene Kinder die Staatsbürgerschaft automatisch. Mehr als ein Viertel aller Ehen sind Mischehen.
Die zahlenmäßig stärkste Konfession in L. ist das Luthertum, zu dem sich knapp ein Viertel der Bevölkerung bekennen. Die lettische Evangelisch-lutherische Kirche gilt als sehr konservativ. Die katholische Bevölkerung konzentriert sich v. a. auf Lettgallen. Die russischsprachige Bevölkerung gehört überwiegend der Russisch-orthodoxen Kirche an.
2.3 Staat und Gesellschaft
Das unabhängige L. hat 1993 die Verfassung von 1922 wieder in Kraft gesetzt. Der dort nicht enthaltene Grundrechtskatalog wurde dafür nachverabschiedet. Festgeschrieben sind politische Grundrechte sowie soziale Rechte, die aber der gesellschaftlichen Realität vielmals noch nicht entsprechen und eher Verfassungsanspruch darstellen. Sie stehen auch Nichtstaatsbürgern zu. Verfassungsänderungen verlangen eine 2/3-Mehrheit der in drei Lesungen anwesenden Parlamentsabgeordneten, wichtige Änderungen sind nur durch Volksabstimmung möglich.
Das Einkammer-Parlament ›Saeima‹ hat 100 Abgeordnete, die zunächst wie vor dem Zweiten Weltkrieg auf drei Jahre gewählt wurden. Sogar der historische Wahltermin im Herbst wurde mit der zweiten Wahl 1995 eingehalten, die Legislaturperiode dadurch etwas verkürzt. Mit der Wahl 1998 wurde die vierjährige Wahlperiode eingeführt. Die Gesetzesinitiative liegt nicht nur beim Kabinett und dem Parlament mit mindestens fünf Abgeordneten, auch der Präsident und das Volk können Gesetzentwürfe einbringen. Hierfür sind 1/10 der Wahlberechtigten erforderlich. 1/10 der stimmberechtigten Bürger oder 1/3 der Abgeordneten können eine Volksabstimmung über ein Gesetz verlangen. Zur Verabschiedung bedürfen Gesetze der Zustimmung der einfachen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten. Das suspensive Veto des Staatspräsidenten kann mit einfacher Mehrheit überstimmt werden. ›Saeima‹ ist ein Arbeitsparlament, die Ausschüsse tagen öffentlich. Die starke Stellung des Parlaments kommt darin zum Ausdruck, dass das Recht zu seiner Auflösung weder dem Staatspräsidenten noch dem Ministerpräsidenten uneingeschränkt zusteht.
Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht, bei dem über lose gebundene Listen abgestimmt wird, die vom Wähler verändert werden dürfen. Durch eine „Plus“-Kennzeichnung kann Vorzug, durch „Ausstreichen“ eines Namens Ablehnung ausgedrückt werden. Die zunächst geltende Vier-Prozent-Klausel wurde 1995 auf fünf Prozent erhöht. Die Wähler müssen nicht unbedingt an ihrem Wohnort abstimmen. Ein Stempel im Pass belegt, dass bereits gestimmt wurde. Wahlberechtigt sind alle lettischen Staatsbürger ab Vollendung des 18. Lebensjahres.
Die Regierung besteht aus dem Ministerpräsidenten und seinen Ministern, die dem Parlament nicht unbedingt angehören müssen. Der Regierungschef wird vom Parlament gewählt, wofür die absolute Mehrheit nicht erforderlich ist, und vom Staatspräsidenten ernannt. Die Minister müssen ebenfalls vom Parlament bestätigt werden. Auch Minister ohne Mandat können an den Sitzungen des Parlaments teilnehmen und Gesetzesvorschläge einbringen. Der Regierungschef (und mit ihm das gesamte Kabinett), wie auch einzelne Minister können durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden.
Das Oberhaupt des Staates, der Staatspräsident wird vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählt. Ab dem dritten Wahlgang muss der jeweils schwächste Kandidat ausscheiden. Vereinigt kein Kandidat in fünf Wahlgängen eine absolute Mehrheit auf sich, so können völlig neue Kandidaten aufgestellt werden. Der erste Staatspräsident nach der Unabhängigkeit, Guntis Ulmanis (*1939) von der LZS, ein Neffe des selbsternannten autoritär regierenden Vorkriegspräsidenten Kārlis Ulmanis (1877–1942), wurde 1996 sofort im ersten Wahlgang bestätigt. 1999 konnten sich die Koalitionsparteien nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, weshalb nach fünf erfolglosen Wahlgängen die Exillettin Vaira Vīķe-Freiberga (*1939) nominiert und dann auch gewählt wurde.
Die Amtszeit betrug der Verfassung von 1922 folgend zunächst drei und wurde schließlich auf vier Jahre verlängert. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Das Amt umfasst vorwiegend repräsentative Aufgaben, der Staatspräsident hat jedoch das Recht, die Veröffentlichung eines Gesetzes abzulehnen und eine erneute Diskussion zu verlangen, was Vīķe-Freiberga im Zusammenhang mit den Novellen zur Staatsbürgerschaft nutzte. Aufgabe des Staatspräsidenten ist es weiterhin, dem Parlament einen Ministerpräsidenten vorzuschlagen; dieses Recht verleiht ihm einen gewissen Einfluss auf die Regierungsbildung. Genutzt wurde dies von G. Ulmanis 1995, als er den Vertreter der stärksten Partei nicht berief, um eine Regierungsbeteiligung des von ihm als extremistisch eingestuften Deutschletten Joachim Siegerist (*1947) zu verhindern. Der Staatspräsident kann das Parlament aufzulösen, worüber allerdings eine Volksbefragung durchgeführt werden muss. Wird das Anliegen abgelehnt, muss er zurücktreten. Eine 2/3-Mehrheit der Abgeordneten kann den Staatspräsidenten abwählen.
Aufgrund der staatsrechtlichen Kontinuität des jetzigen lettischen Staates zur Zwischenkriegsrepublik wurden ähnlich wie bei der Übernahme der alten Verfassung einige Rechtsgrundlagen nicht neu geschaffen, sondern die alten, vorsozialistischen wieder in Kraft gesetzt; so das ›Bürgerliche Gesetzbuch‹ aus dem Jahre 1937. In der Strafgesetzgebung wurden hingegen sozialistische Regeln novelliert.
Das Verfassungsgericht ist für die Kontrolle von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zuständig, die Entscheidungen sind endgültig. Es gibt die konkrete Normenkontrolle auf Veranlassung eines Gerichts wie auch die abstrakte Normenkontrolle von Gesetzen und untergesetzlichen Rechtsnormen. Das Antragsrecht bei der konkreten Normenkontrolle ist eingeschränkt und nur über den Obersten Gerichtshof möglich ist. Die abstrakte Normenkontrolle kann neben dem Staatspräsidenten und der Regierung auch ein Fünftel der Abgeordneten beantragen. Verfassungsrichter werden vom Parlament ohne Wiederwahl auf zehn Jahre bestimmt. In L. muss die Bestellung sämtlicher Richter vom Parlament bestätigt werden.
Von beständigen Umbrüchen geprägt ist das Parteiensystems L.s und damit die Zusammensetzung der Regierungen nach 1991. Zugpferde der zahlreichen Parteineugründungen sind bis in die Gegenwart oft Persönlichkeiten, die nicht aus der Politik kommen, wie etwa der Komponist Raimonds Pauls (*1936), der bereits für mehrere Parteien kandidierte.
1990 hatten mit der Streichung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei aus der lettischen Verfassung und der anschließenden Trennung der lettischen kommunistischen Partei (KPL) von der KPdSU die alten sowjetischen Strukturen aufgehört zu bestehen. Die politische Landschaft L.s ließ sich zu diesem Zeitpunkt in vier Gruppierungen gliedern: Kommunisten, der „Volksfront Lettlands“ (Latvijas Tautas Fronte, LTF), der als erste Oppositionspartei 1987 von ehemaligen Dissidenten gegründeten LNNK und der „Internationalen Front der Werktätigen L.s“ (Latvijas Darbaļaužu Internacionālā Fronte), kurz ›Interfront‹, die gegen die nationale Unabhängigkeit antrat und vorwiegend russischsprachige Mitglieder der Kommunisten umfasste.
Die LNNK vereinte die radikalsten Verfechter einer sofortigen staatlichen Unabhängigkeit im Gegensatz zur mit den Reformkommunisten zusammenarbeitenden LTF, in welcher vorher aktive Persönlichkeiten wie Anatolijs Gorbunovs (*1942) mitwirkten. Die KPL spaltete sich im April 1990. Die aus ihr hervorgehende mehrheitlich lettische Mitglieder zählende „Demokratische Partei der Arbeit L.s“ (Latvijas Demokrātiskā Darba Partija, LDDP) orientierte sich in Richtung Sozialdemokratie, obwohl sich innerhalb der Volksfront schon eine „Sozialdemokratische Arbeiterpartei L.s“ (Latvijas Sociāldemokrātu Strādnieku Partija, LSDSP) als Wiedergründung der sozialdemokratischen Partei der Zwischenkriegszeit konstituiert hatte. Die LTF zerfiel bald in mehrere Fraktionen und nach der Unabhängigkeit 1991 endgültig in verschiedene Parteien.
Bezeichnend für die politische Landschaft nach der Unabhängigkeit ist die Popularität nationaler Orientierungen, die ihre Gründe in der spannungsreichen Beziehung zwischen lettischer und nichtlettischer Bevölkerung L.s hat. Eine programmatische Einteilung der Parteien ist schwierig, in der Staatsbürgerschaftsfrage restriktive Argumentationen korrespondieren häufig mit wirtschaftspolitisch staatsinterventionistischen. Die häufigste Selbstbezeichnung ist „mitte-rechts”.
Den Gegenpol bildete einzig die auf die ›Interfront‹ zurückgehende Organisation ›Līdztiesība‹ („Gleichberechtigung“), aus der später die „Sozialistische Partei L.s“ (Latvijas Sociālistiskā Partija, LSP) hervorging, die v. a. die russischstämmigen Immigranten vertrat. 1995 vereinigte sich die „Demokratische Partei“ (Demokrātiskā Partija, DP) mit ›Saimnieks‹ („Der Hausherr“), deren Vorsitzender Ziedonis Čevers (*1960) 1997 Innenminister wurde. ›Saimnieks‹ war zur Kommunalwahl 1994 ins Leben gerufen worden und wurde in der Öffentlichkeit mit der von Čevers zum Schutz vor Schutzgelderpressung gegründeten Stiftung „Sicherheit“ (Drošiba) in Verbindung gebracht.
Als links gilt auch die aus der Volksfront hervorgegangene „Partei der Volksharmonie“ (Tautas Saskaņas Partija, TSP) des ersten Außenministers L.s nach der Unabhängigkeit, Jānis Jurkāns (*1946), und des früheren Kommunisten Mavriks Vulfsons (*1918), weil sie für ein positives Verhältnis zwischen den Nationalitäten und damit für gemischtnationale Familien und liberal orientierte Wähler wirbt. Trotz beider unterschiedlicher Herkunft gab es einige Jahre eine Fraktionsgemeinschaft mit der LSP unter dem Namen „Für die Menschenrechte in einem integrierten L.“ (Par Cilvēka Tiesībām Vienotā Latvijā, PCTVL), die allerdings 2004 von Jurkāns aufgekündigt wurde. Eine Abspaltung hatte 1994 die Regierung von Māris Gailis (*1951) unterstützt, welche die Regierungskoalition von LC mit LZS unter Valdis Birkavs (*1942) ablöste.
Die meisten Parteien in L. zählen jedoch im weitesten Sinne und aufgrund ihrer Selbstbezeichnung zum konservativ-liberalen Lager, ungeachtet der Herkunft ihrer Politiker aus Kommunisten- oder Dissidentenkreisen.
Die LC war aus der LTF und dem „Klub 21“ (Klubs 21), hervorgegangen, einem Diskussionszirkel von Intellektuellen und Exilletten, welcher nach der Unabhängigkeit entstanden war. Die Wahl 1993 wurde mit prominenten und populären Personen wie A. Gorbunovs deutlich gewonnen. Die 1990 gegründete LZS versteht sich als Nachfolgerin der „Union der lettischen Bauern“ (Latviešu Zemnieku Savienība) der Zwischenkriegszeit, nennt sich jedoch „Union der Bauern Lettlands“ (Latvijas Zemnieku Savienība). An ihre einstige Bedeutung konnte sie nicht anknüpfen, seit 1995 gelangte sie nur in Wahlkoalitionen ins Parlament. Die LNNK konstituierte sich 1994 als national-konservative Partei. Ihre Reste vereinigten sich 1997 mit der deutlich radikaleren TB. LNNK, LZS und diverse christdemokratische Parteien – „Christdemokratische Union L.s“ (Kristīgo Demokrātu Savienība, KDS; 1993), „Neue Partei“ (Jaunā Partija, JP; 1998), „L.s Erste Partei“ (Latvijas Pirmā Partija, LPP; 2002) – welche auch die Reste der Volksfront mit weiteren religiös motivierten Splitterparteien in ihre Reihen aufgenommen haben, bildeten im Laufe der Jahre verschiedene Listenkoalitionen. Bei den Wahlen 2002 zog eine Fraktion aus LZS und LZP ins Parlament ein, die 2004 für einige Monate mit Indulis Emsis (*1952) den Regierungschef stellte und mit Ingrīda Ūdre (*1958) die Parlamentspräsidentin, die auch für ein EU-Kommissariat nominiert war.
Die 1998 gegründete TP geht auf Andris Šķēle (*1958), der zuvor als Unternehmer erfolgreich tätig war und als parteiloser Regierungschef einer Regenbogenkoalition im zersplitterten Parlament von 1995 bis 1998 viel Ansehen gewonnen hatte, zurück. Sie löste LC als wichtigste Kraft ab und konnte ihre Bedeutung auch nach dem Rückzug ihres Gründers erhalten. Von 2000 bis 2002 akzeptierte die Partei mit Andris Bērziņš (*1951) zwar als Regierungschef einen Vertreter der kleineren Partei (LC), stellte aber nachfolgend mit Aigars Kaltvītis (*1966) selbst als kleinere Partei den Regierungschef. Auch 2002 wurde vor den Wahlen durch Einars Repše (*1961), einst Mitbegründer der LNNK, später Präsident der Nationalbank, mit JL eine neue Partei gegründet. In der Wahl 2006 wurde erstmals eine amtierende Regierung bestätigt und gestärkt. Zu den drei bisherigen Koalitionspartnern TP, LZS und LPP wurde TB/LNNK hinzugeladen, um eine größere Mehrheit als 51 Mandate zu haben.
L. ist ein unitarischer Staat. Das Verwaltungssystem aus sowjetischen Zeiten wurde noch nicht durch eine grundlegende Reform verändert. Bis zu ersten Regierung unter A. Šķēle ab 1995 gab es ein zweistufiges System lokaler Verwaltung mit 26 Landkreisen (rajons), sieben kreisfreien Städten (republikas pilsētas) – Riga, Daugavpils, Liepāja, Jūrmala, Jelgava, Rēzekne und Ventspils. Die Landkreise werden in 53 Städte (rajonu pilsētas) und 441 ländliche Gemeinde (pagasts) unterteilt. Seit einigen Jahren können Gemeinden sich zu „Gebieten“ (novads) vereinigen, was einige Gebietskörperschaften bereits vollzogen haben, Ende 2005 gab es 29 solcher Einheiten. Staatenlose haben gegenüber in L. lebenden EU-Bürgern kein Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Die Zuständigkeit der gewählten Verwaltungsorgane ist sehr eingeschränkt.
2.4 Wirtschaft
Die vor dem Zweiten Weltkrieg bereits gut entwickelte Landwirtschafts- und Industriestruktur L.s blieb während der Sowjetzeit im Wesentlichen erhalten. L. galt als die am stärksten industrialisierte der drei baltischen Republiken. Nach 1991 kam es infolge der Lösung der engen Beziehungen zu den anderen Sowjetrepubliken zunächst zu einem dramatischen Einbruch.
Von den wirtschaftlich dominierenden Großbetrieben „Staatliche Elektronikfabrik“ (Valsts Elektroniskā Fabrika, VEF), dem Waggonproduzenten ›Rīgas Vagonu Rūpnīca‹ (RVR), dem Produzenten von Kleinbussen ›Rīgas Automobilu Fabrika‹ (RAF) sowie dem Unterhaltungselektronik produzierenden Rigaer Unternehmen ›VEF Radiotehnika RRR‹ haben nur RVR und RRR überlebt.
Umfangreiche Wirtschaftsreformen waren nicht zuletzt im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur EU erforderlich. Die Privatisierung der verbliebenen Staatsbetriebe ist inzwischen weit fortgeschritten, aus politischen Gründen jedoch nach wie vor noch nicht abgeschlossen, so bspw. im Falle der Reederei ›Latvijas Kuģniecība‹ (LASCO) und dem Energieproduzenten ›Latvenergo‹. 2000 drohte eine Unterschriftensammlung, zu einem Referendum gegen dessen Privatisierung zu führen. Die damalige Regierung hielt daraufhin gesetzlich fest, dass das Energiemonopol nicht privatisiert werden darf.
Die Beobachtung des Arbeitsmarktes bleibt schwierig, weil viele Arbeitslose wegen der geringen staatlichen Unterstützung – im Schnitt 101,2 Euro (Dezember 2005) – eine Registrierung nicht anstreben. Gleichzeitig ist die Schwarzarbeit gerade im Handwerk sehr verbreitet. Das Durchschnittseinkommen zu ermitteln, wird dadurch erschwert, dass viele Menschen mehr als eine Arbeitsstelle haben, offiziell oft nur das Minimaleinkommen beziehen, während ihnen der Rest im Umschlag ausgezahlt wird. Das offizielle Durchschnittseinkommen liegt bei 353 Euro (2005), die Arbeitslosigkeit bei 7,2 % (Juni 2006).
Im Vergleich zu Westeuropa ist der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung in L. mit 12,1 % immer noch recht hoch. Die landwirtschaftliche Nutzfläche beträgt 38,3 %.
In der Sowjetzeit blieben die meisten landwirtschaftlichen Leistungen z. T. stark hinter denen der Zwischenkriegszeit zurück, so lag bspw. der Ertrag pro ha bei den bedeutenden Anbaupflanzen bis 1990 (mit Ausnahme der Zuckerrübe) niedriger als 1938.
In L. werden heute insbesondere Getreide (v. a. Weizen – 676,5 Tsd. t, Gerste – 357,1 Tsd. t, Hafer – 122,0 Tsd. t und Roggen – 87,2 Tsd. t) – 1314 Tsd. t (2005), Kartoffeln (658 Tsd. t), Zuckerrüben (519,9 Tsd. t) und Raps (145,7 Tsd. t) angebaut. Die Anbaufläche für Kartoffeln, dem dominierenden Anbauprodukt der lettischen Landwirtschaft bis 1990, hat sich stark verringert (1980: 105,9 Tsd. ha, 2005: 45,1 Tsd. ha). Raps wird dagegen erst seit 1990 in bedeutenden Mengen angebaut.
Aufgrund der geographischen Lage ist der kommerzielle Anbau von Obst und Gemüse unbedeutend. 2005 erbrachte die Obsternte 55 Tsd. t , die Gemüseernte 172 Tsd. t. Die Gewinnung von Flachsfaser, die vor dem Zweiten Weltkrieg bei 20,8 Tsd. t lag ist auf 1,2 Tsd. t zurückgegangen (2005).
In L. werden vorwiegend Geflügel (4092 Tsd.), Schweine (428 Tsd.) und Rinder (385 Tsd., davon 285 Tsd. Milchkühe) gezüchtet. Die Schaf- (42 Tsd.), Ziegen- (15 Tsd.) und Pferdezucht (14 Tsd.) hat eine deutlich geringere Bedeutung. Die Tierbestände haben sich seit dem Zerfall der UdSSR stark verringert und liegen heute auch deutlich unter dem Vorkriegsniveau. Zu den wichtigsten Tierprodukten des Landes gehören Eier (545,7 Tsd.), Fleisch (76,7 Tsd. t), Milch (810,3 Tsd. l) und Wolle (94 t).
Infolge des wirtschaftlichen Umbruchs, der die kollektivierten Strukturen liquidierte, leben heute viele Landwirte mehr oder weniger von Subsistenzwirtschaft. Während in der UdSSR privater Landbesitz kaum eine Rolle spielte, wird inzwischen der überwiegende Teil der Landwirtschaftsproduktion in privaten Betrieben erwirtschaftet.
Aufgrund kaum vorhandener Bodenschätze gibt es außer dem Abbau von Gesteinen, die als Baumaterial Verwendung finden, in L. keinen nennenswerten Bergbau.
Die Produktion elektrischer Energie in L. hat sich nach dem Zerfall der UdSSR deutlich verringert: Betrug sie 1990 noch 6648 MWh, fiel sie 2005 auf 4905 MWh, so dass zur Deckung des Eigenbedarfs 2855 MWh importiert werden mussten. Gleichzeitig wurden 707 MWh exportiert. Der Energiebedarf wird zu ca. je ein Drittel durch Gas und Holz gedeckt. Einen etwas geringeren Anteil haben Erdölprodukte und ca. 10 % fallen auf Wasser- (in L. gibt es drei Wasserkraftwerke an der Düna) und Windenergie sowie Kohle.
Die lettische Industrie hat seit dem Zerfall der UdSSR an Bedeutung verloren – gegenwärtig konzentriert sie nur 12,7 % der Beschäftigten. Hauptwirtschaftszweige sind heute die Lebensmittelverarbeitung (18,5 % aller Beschäftigten in der Industrie 2005), die Holzwirtschaft (18,2 %), die Textilindustrie (12,6 %) und die Metallverarbeitung (7,0 %). Basis des Wirtschaftswachstums ist vorwiegend der Dienstleistungsbereich, in dem 70,7 % aller Beschäftigten arbeiten (732 Tsd.). Seine wichtigsten Branchen sind Handel (21,6 % aller Beschäftigten in den Dienstleistungen), Transport und Telekommunikation (13,0 %) sowie der Bausektor und das Bildungswesen (je 12,4 %).
Die Währungsreform mit Einführung des lettischen Rubels 1992 und des Lats 1993 leitete die Stabilitätspolitik der Nationalbank ein. Der Lats war ursprünglich an die Sonderziehungsrechte des IMF gebunden. Seit dem 1.1.2005 besteht in Vorbereitung auf den Beitritt zur Europäischen Währungsunion eine Bindung an den Euro. Der Übergang zum Euro - offiziell für 2009 angekündigt - wird voraussichtlich nicht vor 2011 stattfinden.
Zu Beginn der 90er Jahre hatte die Politik den Wunsch, L. zu einem Bankenplatz zu entwickeln. Mit der ›Banka Baltija‹ hatte hier die größte Geschäftsbank des Baltikums ihren Sitz. 1995 musste diese allerdings ihre Zahlungsunfähigkeit wegen überhöhter Zinszahlungen an ihre Anleger einreichen. Die bei der Liquidation verschwundenen Millionen können als größter politischer Skandal seit der Unabhängigkeit 1991 gelten.
L. besitzt mit einer Länge von 51.800 km ein gut ausgebautes Straßennetz. Autobahnähnliche Straßen führen von Riga in die nahe gelegenen Kurorte Jūrmala und Sigulda sowie nach Jelgava. Seit 1990 ist die Anzahl der Pkw von 282.688 auf 742.447 gestiegen. Die für damalige sowjetische Verhältnisse hohe Pkw-Dichte stieg somit von 106 auf 324 Fahrzeuge pro 1000 Einwohner. L. ist nach Litauen das EU-Land mit dem zweitstärksten Zuwachs des Pkw-Bestandes. Die Zahl der Verkehrstoten nimmt einen der höchsten Werte in der EU ein (19,5 auf 100.000 Einwohner).
Das Eisenbahnnetz - in russischer Breitspur (1520 bzw. 1524 mm) - umfasst 2270 km, von denen – bei einem insgesamt sanierungsbedürftigen Zustand – allerdings nur 257 elektrifiziert sind. Überlandbusse übernehmen im gesamten Inland den Hauptteil des Fernverkehrs. Auch in das westliche und östliche Ausland gibt es zahlreiche Busverbindungen, deren vormalige Bedeutung durch Billigfluglinien inzwischen nachlässt. Der Umfang des Warentransports im Schienenverkehr ist indes von 30.574 Tsd. t (1993) auf 60.068 Tsd. t (2005) gestiegen.
Der Flughafen Riga fertigte 2005 rd. 1,9 Mio. Passagiere und gut 2,6 Tsd. t Frachtgut ab. Seit der drastischen Senkung der Flughafengebühren wird Riga auch von Billigfluggesellschaften angeflogen, was die Passagierzahlen stark erhöht hat. Dadurch und dem Beitritt zur EU ist der Tourismus um einen zweistelligen Wert gestiegen. Die drei wichtigsten Häfen L.s sind: Ventspils (27,8 Mio. t Fracht), Riga (24,4 Mio.) und Liepāja (4,5 Mio. t). Gegenwärtig erhält der Ventspilser Hafen zusätzlich zu seinem großen Öl- einen Containerterminal. In L. gibt es 2141 km Pipelines, die hauptsächlich zum Transport von Erdöl- und –produkten dienen.
Der Ausbau des Telekommunikationsnetzes verlief aufgrund der schleppenden Privatisierung eher langsam. Die Zahl der Mobilfunkteilnehmer (657.000) erreichte 2001 annähernd die Zahl der Festnetzteilnehmer (722.000). Erst 2005 wurde ein dritter Mobilfunkanbieter zugelassen. Heute verfügen 40,6 % aller Haushalte über einen PC, 42,2 % davon über einen Internetzugang.
Die Anzahl der Personen in L., die Reisen ins Ausland unternehmen ist zwischen 1996 und 2005 von 1926,0 Tsd. auf 2682,9 Tsd. gestiegen. Die meisten Reisen gehen in die neuen EU-Länder. Von insgesamt 2019,8 Tsd. Reisenden in die EU besuchten nur 327,7 Tsd. die EU-15-Staaten. Die zweite wichtige Zielländergruppe bildet die GUS (574,4 Tsd.). Die meistbesuchten Länder waren Litauen (929,9 Tsd. Besucher 2005), Estland (634,6 Tsd.), Russland (383,3 Tsd.), Weißrussland (163,5 Tsd.), Polen (89,4 Tsd.) und Deutschland (86,9 Tsd.). Die Anzahl der ausländischen Besucher in L. ist im selben Zeitraum von 1712,9 Tsd. auf 3774,4 Tsd. gestiegen. Die meisten von ihnen waren Staatsangehörige Litauens (1328,2 Tsd.), Estlands (970,6 Tsd.), Deutschlands (234,9 Tsd.), Russlands (224,6 Tsd.), Polens (202,1 Tsd.) und Schwedens (146,0 Tsd.). Die Zahl von Unterkünften für den Fremdenverkehr hat sich zwischen 1995 und 2005 von 209 auf 418 (mit 24.045 Betten) fast verdoppelt. Sie wurden 2005 von 1154,7 Tsd. Personen besucht. Die ausländischen Besucher haben insgesamt 1.612.671 Übernachtungen in Anspruch genommen.
2.5 Bildung und Kultur
Das lettische Schulwesen besteht aus einer Grundschule mit vier Klassen. Anschließend besuchen die Jugendlichen die Schulpflicht erfüllend mindestens bis zur 9. Klasse eine sog. Mittelschule, in der alle Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Für den Hochschulzugang ist bis zur 12. Klasse der fortgesetzte Besuch oder der Wechsel auf eine meist Gymnasium genannte weiterführende Schule erforderlich.
L. verfügt über zahlreiche staatliche und private Hochschulen. Eine klare Konzentration gibt es in der Hauptstadt Riga mit der „Universität Lettlands“ (Latvijas Universitāte, LU), der „Rigaer Technischen Universität“ (Rīgas Tehniskā universitāte, RTU) und der aus dem medizinischen Institut hervorgegangenen nach dem Mediziner Paul Stradiņš (1896–1958) benannten Universität (Rīgas Stradiņa universitāte, RSU). Daneben gibt es eine Musik- und eine Kunstakademie. Eine bedeutende Privathochschule ist ›Turība‹ (School of Business Administration). Außerhalb Rigas gibt es kleine z. T. vom Ausland geförderte Hochschulen in Ventspils und Valmiera sowie staatliche Hochschulen in Liepāja und Daugavpils, die sich auf den Pädagogikbereich konzentrieren. Die „Landwirtschaftsuniversität“ des Landes (Latvijas Lauksaimniecības universitāte) hat ihren Sitz in Jelgava.
Zwar gibt es sog. gebührenfreie Budgetplätze, der größere Anteil der Studierenden muss allerdings für die universitäre Ausbildung bezahlen. Dafür gibt es unterstützend sowohl einige Stipendien als auch die Möglichkeit, Kredite bei Banken und beim Staat aufzunehmen. Die nicht universitäre Ausbildung erfolgt in Berufsschulen.
Musik ist ein wichtiger Bestandteil der lettischen Kultur. Besonders weit verbreitet sind Chöre und Volkstanzgruppen, die regelmäßig auch an den landesweiten Lieder- und Tanzfesten teilnehmen. In L. ist neben westlicher Popmusik auch einheimischer Rock und Pop populär, der häufig westliche Elemente mit einheimischer Folklore verbindet. Genreübergreifende Zusammenarbeit ist in L. üblich und häufig werden Dichtungen vertont.
Wichtig für die Musikszene L.s ist die Stadt Liepāja mit ihrem Musikcollege. Aus dieser Stadt stammt auch die seit Jahrzehnten in unterschiedlicher Besetzung spielende Rockgruppe ›Līvi‹ („Liven“). Mit ihrem melodischen Rock sind sie eine typische Erscheinung des lettischen Geschmacks. Besondere Popularität im Bereich der Unterhaltungsmusik genießen die beiden sehr unterschiedlichen Komponisten Raimonds Pauls und Imants Kalniņš (*1941), weiterhin das moderne Folklore-Ensemble ›Iļģi‹, das auf traditionellen Instrumenten eigene Kompositionen spielt. Unter Jugendlichen populär ist die Gruppe ›Prāta Vētra‹, die inzwischen auch im Ausland unter dem Namen ›Brainstorm‹ bekannt ist und im Jahr 2000 am ›Eurovision Song Contest‹ teilnahm. Den Wettbewerb gewann für L. 2002 die lettische Russin Marija Naumova (*1973).
Außerdem erfreut sich klassische Musik großer Beliebtheit und zahlreiche in L. geborene Musiker und Sänger genießen internationale Anerkennung, etwa der Dirigent Mariss Jansons (*1943), der Geiger Gidon Kremer (*1947), der Cellist Mischa Maisky (*1948) oder die 2006 mit dem ›Europäischen Kulturpreis für Musik‹ geehrte Mezzosopranistin Elīna Garanča (*1976).
In Riga gibt es Theater in lettischer und russischer Sprache sowie zahlreiche Kinos und ein Kinostudio. Valmiera und Liepāja haben ebenfalls Theater mit eigenem Ensemble. Neben dem staatlichen – auch auf Russisch ausgestrahlten – Fernsehen ›Latvijas Televīzija‹ mit zwei Kanälen gibt es die privaten Fernsehsender ›Latvijas Neatkarīgās televīzija‹ (LNT, „Unabhängiges Fernsehen Lettlands“, Lettisch und Russisch) und ›TV3‹ sowie weitere regionale. Das staatliche Radio mit - ebenfalls auch auf Russisch gesendeten - drei Programmen wird ergänzt durch die privaten Radiosender ›SWH‹ mit drei Programmen, ›Radio Skonto‹, ›Radio Super FM‹ und viele Lokalstationen.
Der Zeitungsmarkt hat sich in den Jahren nach der Unabhängigkeit wiederholt stark verändert. Konzerne aus den benachbarten skandinavischen Staaten sind meist mindestens Teileigentümer an den lettischen Presseverlagen.
Die wichtigste und auflagenstärkste lettische Tageszeitung ist ›Diena‹ („Der Tag“), die insbesondere in der Hauptstadt gelesen wird. ›Diena‹ entstand 1990 zunächst als Verlautbarungsorgan der Regierung, wurde aber 1992 privatisiert. Sie erschien bis 1999 auch auf Russisch. Die zweithöchste Auflage hat ›Latvijas Avīze‹ („Lettlands Zeitung“), sie wird besonders in den Regionen gelesen. Daneben gibt es zahlreiche Zeitungen, die aus vormals sozialistischen Publikationen entstanden sind, wie ›Neatkarīgā‹ („Die Unabhängige“). ›Vakara Ziņas‹ („Abendnachrichten“) sind ein täglich erscheinendes Boulevardblatt. Ähnlichen Inhalts ist die lokale Abendzeitung ›Rīgas Balss‹ („Die Stimme Rigas“). Unter den Magazinen gibt es neben dem populären ›Rīgas Laiks‹ („Rigaer Zeit“) ohne konkreten Schwerpunkt inzwischen ein politisch-wirtschaftliches Wochenmagazin ›Nedēļa‹ („Die Woche“). Des weiteren werden zahlreiche Frauenmagazine wie ›Ieva‹ und ›Santa‹ herausgegeben, die sich mit Kochrezepten, Handarbeitsanleitungen oder Partnerfragen an ein weibliches Publikum unterschiedlichen Alters und Interesses wenden sowie einige Jugendzeitschriften. Fachblätter beschäftigen sich mit Autos, Garten, Familie etc. Seit 2005 gibt es ›5 Min‹, eine Gratiszeitung, die auch von ›Diena‹ vertrieben wird, ein Modell, das mit ›rītdiena‹ („morgen“), einem Ableger von ›Neatkarīgā‹ kopiert wurde. Beide Gratiszeitung erscheinen auch auf Russisch und werden inzwischen durch den Nahverkehr in Riga verbreitet. Wichtige Wirtschaftszeitung ist ›Dienas Bizness‹ („Wirtschaft des Tages“). Darüber hinaus gibt es mehrere russischsprachige Organe, wie die Tageszeitungen ›Čas‹ („Die Stunde“) und ›Telegraf‹ sowie die Wirtschaftszeitung ›Bisnes & Baltija‹.
L. ist international v. a. im Eishockey erfolgreich und hat 2006 in dieser Sportart auch die Weltmeisterschaften ausgetragen. Daneben gewinnt der Fußball zunehmend an Popularität.
3 Kulturgeschichte
Die Letten gehören zur baltischen Untergruppe der indoeuropäischen Völker. Sie wanderten etwa ein halbes Jahrtausend vor Christi in ihre heutigen Siedlungsgebiete. Im Zuge der deutschen Ostsiedlung kamen diese unter die Herrschaft des Schwertbrüderordens, ab 1237 der des Deutschen Ordens und waren dort Teil der sog. Livländischen Konföderation. In dieser Zeit entstand die vorwiegend deutsch geprägte in die Hanse bzw. den Ostseehandel eingebundene Stadtlandschaft.
Der Konflikt zwischen den Interessen Schwedens und Russlands um die Vorherrschaft im Baltikum führte zum Livländischen Krieg (1558–83).Nach dem Zerfall der Konföderation, 1561, fiel Lettgallen unter polnisch-litauische Oberherrschaft, Livland wurde Schwedisch, Riga wurde zunächst unmittelbar dem deutschen Kaiser unterstellt, und das Kurland und Semgallen, das (ab 1569) innerhalb Polen-Litauens einen autonomen Status behielt.
Der polnisch-litauische König bestätigte im ›Privilegium Sigismundi Augusti‹ von 1561 die Rechte des deutschen Adels, zu denen neben eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit auch die freie Religionsausübung nach lutherischem Bekenntnis gehörte.
Die Reformation hatte auch für die überwiegend bäuerliche lettische Bevölkerung große Bedeutung. Erstmals bemühten sich Geistliche um die Volkssprache. Es wurde in der Landessprache gepredigt und noch im 16. Jh. erschienen Bibel und Katechismus in lettischer Übersetzung.
1629 kam es zur Teilung Livlands in einen schwedischen und einen polnischen Teil (Lettgallen), die sich in der Folgezeit unterschiedlich voneinander entwickelten. In Schwedisch-Livland wurden die Privilegien des deutschen Adels deutlich eingeschränkt, im Zuge der sog. Güterreduktion fünf Sechstel des adligen Grundbesitzes in Staatshand überführt und eine insbesondere der lettischen Bevölkerung zu gute kommende Förderung von Bildung und Kultur eingeleitet.
Einen eigenen Weg nahm Kurland, das unter seinen Herzögen aus dem Geschlecht der Kettler, zu einem modernen absolutistischen Staatswesen wurde, dessen wirtschaftlicher Aufschwung jedoch durch die Nordischen Kriege in der zweiten Hälfte des 17. Jh. beendet wurde.
Als Ergebnis des Großen Nordischen Krieges fiel Riga 1710, Livland 1721, Kurland in Folge der Teilungen Polen-Litauens 1795 an das Russische Reich. Unter der zaristischen Herrschaft verschlechterte sich insbesondere die Situation der Bauern. Die Rechte der deutschen Oberschicht wurden bestätigt, der deutschbaltische Adel Teil der Elite des Zarenreiches.
Agrarreformen und die Aufhebung der Leibeigenschaft in den baltischen Provinzen zwischen 1816 und 1819 bildeten die Voraussetzung für die nationale Emanzipation der Letten. Die Bauern konnten Land erwerben. Industrialisierung und Urbanisierung brachten neue Berufsfelder und Mobilität hervor.
Die lettischen Ostseestädte, unter ihnen an erster Stelle Riga, waren von großer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des Zarenreiches und erlebten in dieser Zeit auch einen neuen architektonischen Aufschwung. Die Holzhäuser der Vorstädte wurden durch Steinbauten ersetzt. Neben Michael Eisenstein (Michail O. Ėjzenštejn, 1867–1920) waren die Deutschbalten Friedrich Scheffel (†1913) und Wilhelm Bockslaff (1858–1945), aber auch Letten wie Eižens Laube (1880–1967) und Konstantīns Pēkšēns (1859–1928) Architekten mit großem Einfluss. Sie zählen zu den Hauptvertretern des Rigaer Jugendstils.
Mit dem nationalen Erwachen im 19. Jh. bildete sich eine nationale Elite in L. heraus, die sich insbesondere gegen die faktisch erforderliche Germanisierung als Voraussetzung für sozialen Aufstieg wandte. Bis dahin hatte es als unmöglich gegolten, dass ein Lette gebildet sein kann. Selbst Letten zweifelten an der Tauglichkeit ihrer Sprache für Literatur. Zunächst erhofften sich die aufstrebenden Nationalisten Unterstützung aus Russland, was sich angesichts der einsetzenden Russifizierungspolitik schnell als Irrtum herausstellte.
In der zweiten Hälfte des 19. Jh. begann der Journalist Krišjānis Barons (1835–1921), systematisch die Volksweisen, die sog. Dainas, zu sammeln. Andrejs Pumpurs (1841–1902) verfasste das Nationalepos „Bärentöter“ (Lāčplēsis). 1873 wurde das erste Sängerfest organisiert. Journalistisch aktiv war der Dichter Rainis (1865–1929), der auch Goethes ›Faust‹ ins Lettische übersetzte, und sein Schwager Pēteris Stučka (1865–1932).
Sozialistische und sozialdemokratische Ideen waren Anfang des 20. Jh. im gesamten Baltikum populär. Es ging gegen die Macht der deutschen Barone. Die Revolution von 1905 erfuhr großen Zulauf und verlief mit Übergriffen gegen (deutschbaltische) Gutsbesitzer und Geistliche auch weitaus gewaltsamer als anderswo im Zarenreich.
Während des Ersten Weltkrieges verlief die deutsch-russische Front bis Sommer 1917 an der Düna. Das besetzte Kurland wurde als ›Land OberOst‹ vom Oberkommando der Ostfront verwaltet. Von September 1917 bis Kriegsende war schließlich das gesamte Baltikum deutsch besetzt. Nach dem Frieden mit dem Deutschen Reich (Brėst-Litovsk) versuchte Sowjetrussland, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern. Gegen die „roten“ Truppen formierte sich eine aus nationalistischen lettischen und estnischen Verbänden gebildete „weiße“ Armee, unterstützt von der ›Baltischen Landeswehr‹, einer von Deutschbalten organisierten freiwilligen Einheit und der ›Eisernen Brigade‹, Freiwilligen aus den Reihen der reichsdeutschen regulären Truppen, die nach Kriegsende auf Wunsch der Entente noch im Land verblieben und später als Freikorps weiterkämpften.
Bereits 1915 waren auch erste nationallettische Truppeneinheiten auf zaristischer Seite aufgestellt worden, die sich nach der Oktoberrevolution den Bolschewisten anschlossen. Diese Regimenter (die sog. Roten Lettischen Schützen, latviešu strēlnieki) wurden an der Düna-Front eingesetzt und stützten die von Stučka geführte kommunistische Räteregierung, die Anfang 1919 die Macht in der am 18.11.1918 ausgerufenen Republik L. übernahmen. Die bürgerliche Regierung unter Kārlis Ulmanis floh aus dem „roten“ Riga nach Libau (Liepāja). Anfängliche Sympathien in der Bevölkerung gingen durch den Terror des Regimes schnell verloren.
Dieses zu stürzen formierten sich unter Graf Rüdiger von der Goltz (1865–1946) und Jānis Balodis (1881–1965) deutsche und lettische Einheiten, sie eroberten Kurland zurück. Vor der Einnahme Rigas (22.5.) kam es am 16.4.1919 zum sog. Libauer Putsch, als Hans Baron Manteuffel (*1860) die den Deutschen unbequeme Regierung Ulmanis stürzte und an deren Stelle Andrievs Niedra (1871–1942) mit der Regierungsbildung beauftragte.
Der Konflikt zwischen nationallettischer – unterstützt durch estnische Einheiten – und deutschbaltischer Seite – auf der neben Landeswehr die lettischen Balodis- und russische Einheiten unter dem Kommando von Fürst Anatol Pavlovič Lieven (1872–1937) kämpften – weitete sich aus und kulminierte am 23.6.1919 in der Schlacht bei Wenden (Cēsis), in der die Deutschen unterlagen und in deren Folge die Regierung Ulmanis wieder an die Macht gelangte. Die aus den Lieven-Einheiten hervorgegangene sog. Freiwillige Russische Westarmee unter Führung Pavel R. Bermondt-Avalovs (1884–1973) beherrschte jedoch noch bis November 1919 weite Teile des Landes. Bei der Zurückdrängung der „Bermondtisten“ von Riga war die britische Marine maßgeblich beteiligt.
Im Frieden von Riga (11.8.1920) anerkannte Sowjetrussland schließlich die Unabhängigkeit L.s. Erstmals waren Kurland, (der südliche Teil von) Livland und Lettgallen in einem Staatsverband vereinigt. L. konstituierte sich als parlamentarische Republik mit einem Präsidenten als Staatsoberhaupt. In der für den jungen Staat zentralen Agrarfrage wurde noch 1920 die (weitestgehend entschädigungslose) Enteignung des großen (deutschbaltischen) Grundbesitzes verfügt. Die auf den Prinzipien von Bildungs- und Kulturautonomie fußende Minderheitsgesetzgebung war vorbildlich – neben der deutschbaltischen Bevölkerung Kurlands und Livlands hatte L. in Lettgallen eine bedeutende polnisch-katholische Minderheit.
Die konservative „Bauernunion“ blieb während der gesamten Zwischenkriegszeit stets stärkste Partei, gefolgt von den Sozialdemokraten und der nationalliberalen „Demokratischen Zentrumspartei“. Aufgrund der Vielzahl von Kleinparteien gab es im Parlament bis zu 27 Fraktionen.
Anfängliche wirtschaftliche Erfolge hatte L. gerade in der Landwirtschaft, es wurde zu einem der größten Butterexporteure Europas, doch während der Weltwirtschaftskrise kam es zu einer verstärkten interventionistischen Wirtschaft. Es konnten kaum noch stabile Regierungen gebildet werden.
Durch die nationalradikale extremistische Bewegung „Donnerkreuz“ (Pērkonkrusts) ausgelöste politische Unruhen wurden von Ministerpräsident Ulmanis zum Anlass genommen, im Mai 1934 den Ausnahmezustand zu verhängen. Er verbot Gilden, schränkte die Kulturautonomie ein, löste das Parlament auf, suspendierte die Verfassung und lettisierte durch Zwangsliquidierungen von deutschen und jüdischen Firmen die Wirtschaft, an deren Stelle große Staatsbetriebe geschaffen wurden. Der anschließende wirtschaftliche Aufschwung trug dazu bei, dass in weiten Teilen der Bevölkerung die Zeit der autoritären Ulmanis-Diktatur bis heute in guter Erinnerung ist.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die ca. 60.000 Personen zählende deutschbaltische Bevölkerung aufgrund einer Vereinbarung der deutschen Reichsregierung und der lettischen Regierung – zumeist gegen ihren Willen – in den eroberten polnischen Warthegau umgesiedelt.
Unter Berufung auf den Hitler-Stalin-Pakt, demnach L. in den sowjetischen Machtbereich fiel, forderte die Sowjetunion noch 1939 ultimativ die Gewährung von Stützpunkten und besetzte schließlich 1940 das Land. Das aus den folgenden manipulierten Wahlen hervorgegangene Parlament beantragte die Aufnahme L.s in die Sowjetunion. Ulmanis wurde wie ca. 15.000 seiner Landsleute nach Sibirien deportiert.
Die deutsche Besatzungszeit von 1941–44, die Hoffnungen auf erneute Eigenstaatlichkeit nährte, ist der Bevölkerung im Gedächtnis überwiegend positiver erhalten geblieben ist als die sowjetische. Die Problematik der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht ist vielschichtiger als bspw. in Frankreich, sie überlappt sich in allen baltischen Ländern mit der des Widerstands gegen den Zugriff des sowjetischen Imperiums. Es gab lettische Verbände der Waffen-SS, deren Rolle in der NS-Vernichtungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung, aber auch lettische Zivilisten und sowjetische Kriegsgefangene, bis heute umstritten ist.
Nach der erneute Einnahme L.s durch die Sowjetarmee hielt sich bis 1954 eine als „Waldbrüder“ (Mežabrāli) bekannte Partisanenbewegung, in Reaktion darauf wurden ca. 43.000 Personen ins Innere der Sowjetunion deportiert. Die große Deportationswelle von 1949 sollte auch die Zwangskollektivierung vorbereiten. In den folgenden Jahren nahm das wirtschaftliche Interesse Moskaus an L. zu, das handelsstrategisch günstig lag. Mit der forcierten Industrialisierung kamen massenhaft Arbeitskräfte aus anderen Sowjetrepubliken nach L.
Die Anfänge der durch Gorbatschows Reformpolitik (Perestroika) begünstigten nationalen Bewegung lassen sich auf das Jahr 1987 datieren, als erste ökologisch motivierte Proteste vom „Umweltschutzklub“ (Vides aizsardzības klubs) gegen den Bau einer hydroelektrischen Anlage an der Düna und den geplanten U-Bahn-Bau in Riga kamen. Eine von drei Arbeitern unter dem Namen ›Helsinki-86‹ ins Leben gerufene Menschenrechtsbewegung war 1986 noch aufgelöst worden. 1987 fanden an den Jahrestagen des Hitler-Stalin-Paktes vom 23.8.1939 und der Massenverhaftungen vom 14.6.1941 – in der sowjetischen Geschichtsschreibung bis dahin verschwiegenen Daten – auch die ersten großen Demonstrationen statt. Die Menschen versammelten sich am Freiheitsdenkmal in Riga und sangen Volkslieder, was später den Begriff der „singenden Revolution” prägte. Den Höhepunkt der Protestaktionen bildete am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, dem 23.8.1989, eine Menschenkette (Baltijas Ceļš) von Tallinn über Riga nach Wilna.
Daraus erwuchs eine neue Bewegung des „nationalen Erwachens“. Lettisch wurde wieder Staatssprache und die reformkommunistische LTF als auch die Unabhängigkeitsbewegung LNNK wurden gegründet. Mit ihrer Forderung nach mehr Autonomie mobilisierte die LTF als eine Art überparteiliche Organisation Menschen aus den Reihen der Kommunisten wie der Opposition. Mit ihrer Forderung nach mehr Autonomie mobilisierte die LTF als eine Art überparteiliche Organisation Menschen aus den Reihen der Kommunisten wie der Opposition. Die konservativen, für den Verbleib in der Sowjetunion eintretenden Kräfte in der kommunistischen Partei gründeten im Januar 1989 die ›Interfront‹. LNNK und LTF hatten Mitte 1989 8000 bzw. 250.000 Mitglieder. Bei den Wahlen zum Volksdeputiertenkongress 1989 erreichte die LTF 30 der 41 lettischen Mandate.
Im Januar 1990 wurde schließlich, zwei Monate bevor dies auf Unionsebene geschah, das Machtmonopol der Kommunistischen Partei aus der Verfassung L.s gestrichen. Auf seiner letzten Sitzung am 15.2.1990 verabschiedete der Oberste Sowjet L.s eine Deklaration, in der die Frage der staatlichen Unabhängigkeit L.s nach der Souveränitätserklärung vom 28.7.1989 erneut artikuliert wurde. Im folgenden ersten freien Wahlkampf nach 1940 ging es dann vorwiegend um die Frage „erst Unabhängigkeit, dann Demokratie” oder „zur Unabhängigkeit durch Demokratie”. An der Wahl im März 1990 durften damals noch alle Einwohner der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik über 18 Jahre teilnehmen. Sie wurde deutlich von der Volksfront mit 131 von 201 Sitze gewonnen; die KPL errang 59 Mandate und die übrigen elf erhielten unabhängige Kandidaten. Nur neun der früheren Abgeordneten wurden wiedergewählt. Ministerpräsident wurde Ivars Godmanis (*1951).
Als eine der ersten Handlungen der neu gewählten Parlaments erfolgte am 4.5.1990 die Deklaration der Unabhängigkeit L.s, die mit 138 zu 201 Stimmen verabschiedet wurde. Darin wurde eine Übergangszeit proklamiert, die mit den ersten freien Wahlen zum lettischen 5. Saeima enden sollte. Die Beziehungen zur Sowjetunion sollten gemäß dem Friedensvertrag vom 11.8.1920 geregelt werden. Moskau erklärte die lettische Deklaration für verfassungswidrig. L. könne nur den Regelungen der Verfassung der UdSSR folgend austreten, die dieses Recht formal auch einräumte, demnach eine Zweidrittel-Mehrheit der Bevölkerung zustimmen musste, um den Austritt nach weiteren fünf Jahren wirksam werden zu lassen.
Daraufhin beschlossen alle drei baltischen Republiken im Sommer 1990, sich nicht an der Ausarbeitung des neuen Unionsvertrages der Sowjetunion zu beteiligen. Moskau reagierte mit Zugeständnissen und gestattete die Zulassung der alten baltischen Nationalflaggen und Hymnen.
Anfang Januar 1991 besetzten die „Milizeinheiten für besondere Aufgaben“ (OMON, Otdel milicii osobovo naznačenija) das Pressehaus in Riga und stürmten am Abend des 20.1. das lettische Innenministerium. Dabei wurden fünf Personen getötet, darunter die beiden lettischen Kameramänner Andris Slapiņš und Gvido Zvaigzne, sowie mehrere Personen verletzt.
In einem Referendum über die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit am 3.3.1991, zu dem alle Einwohner mit Ausnahme der aktiven Militärs stimmberechtigt waren, stimmte die Mehrheit der Bevölkerung L.s. bei einer Beteiligung von 87,6 % mit 73,7 % für die Unabhängigkeit, 24,7 % dagegen, was zeigt, dass auch viele Russen für die Unabhängigkeit votierten. Am sowjetischen Referendum über den Unionsvertrag vom 17.3.1991 nahmen in L. nur 22,9 % der Wahlberechtigten teil, von denen allerdings 95,1 % für den Erhalt der Sowjetunion stimmten.
Nach dem misslungenen Putschversuch vom 19.8.1991 in Moskau beschloss L. am 21.8. die vollständige Unabhängigkeit, die durch Russlands Präsidenten Jelzin noch im August 1991 und am 6.9. auch von sowjetischer Seite durch Gorbatschow anerkannt wurde. Am 10.9. erfolgte die Aufnahme in die KSZE und am 17. in die UNO. 1994 schließlich erfolgte der Abzug der sowjetischen Truppen. Aufgrund der sich in die Länge ziehenden Diskussion um die Staatsbürgerschaft und die Frage, wer wahlberechtigt sein sollte, verzögerte sich die erste freie Parlamentswahl bis Juni 1993. Bis heute wurden die von der Sowjetunion vorgenommenen Grenzänderungen des Friedensvertrages von Riga 1920 nicht vertraglich fixiert, weil Russland die Ratifizierung des 1995 paraphierten Dokuments mit Hinweis auf Minderheitenprobleme verweigert.
Am 20.9.2003 votierte L. mit 67 % (bei einer Wahlbeteiligung von 72,5 %) für den Beitritt zur EU. Seit 2.4.2004 ist L. Mitglied der NATO, seit 1.5.2004 Mitglied der EU.
Dreifelds J. 1996: Latvia in transition. Cambridge. Laķis P. 1997: Vara un sabiedrība. Varas maiņa Latvijā astoņdesmito un deviņdesmito gadu mijā. Rīga. Rauch G. v. 1990: Geschichte der baltischen Staaten. München. Vēbers E. (Hg.) 1998: Pilsoniskā apziņa. Rīga.