Riga (Stadt)
Riga (lett. Rīga, russ. hist. R.)
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1 Geographie
R. ist die Hauptstadt der Republik Lettland und größte Stadt im östlichen Ostseeraum nach Sankt Petersburg.
Lage und Administration
Das 307,17 km² große Stadtgebiet R.s erstreckt sich an beiden Ufern der Düna bis zu deren Mündung in die Rigaer Bucht in flachem (stellenweise eingeebnetem) Terrain, das nur zu einem geringen Teil (überwiegend links, d. h. südlich und westlich der Düna) über 10 m ü. d. M. ansteigt. Die mittlere Temperatur im Januar beträgt in R. –4,7 °C, im Juli 16,9 °C, die jährliche Niederschlagsmenge erreicht im Schnitt 636 mm.
R. entstand im 13. Jh. auf dem rechten Flussufer 15 km von der Düna-Mündung entfernt. Von hier dehnte es sich in der Neuzeit auf das linke Ufer und erst spät durch Eingemeindungen auch bis zur Ostsee aus. Die Bildung der selbständigen Stadt Jūrmala 1959 unter Einbeziehung des vormaligen Stadtteils „Rigascher Strand“ (lett. Rīgas Jūrmala) verkleinerte das Stadtgebiet wieder leicht und reduzierte den Meerzugang R.s auf den Mündungsbereich der Düna um den Vorort Bolderāja (dt. hist. Bolderaa).
Der begradigte Fluss und der an ihm liegende Hafen, daneben alte Flussarme, an denen entlang sich Inseln gebildet haben, sowie schließlich die Seen Ķīšezers (dt. hist. Stintsee) und Juglas ezers (dt. hist. Jägelsee) am nordöstlichen Stadtrand machen zusammen einen Wasserflächenanteil am Stadtgebiet von 15,8 % aus.
Unter den Hauptstädten Europas ist R. eine der wenigen ohne eine Vergangenheit als Herrscherresidenz. Während seiner Zugehörigkeit zu Schweden ab dem 17. Jh. und später zum Russischen Reich waren Generalgouverneure die höchsten in R. amtierenden Repräsentanten der jeweiligen Staatsgewalt. Mit der Proklamation der Republik Lettland 1918 wurde R. deren faktische Hauptstadt; zu einer gesetzlichen Bestätigung seines Hauptstadtstatus kam es indes erst 1931.
Nordöstlich, östlich und südlich umschließt das Stadtgebiet ein gesonderter Landkreis R., der einzige der heute 26 Kreise Lettlands, der über 100.000 Einwohner (2005: 156.883) zählt. Das Stadtgebiet selbst gliedert sich administrativ in den „Zentrumsbezirk“ (Centra rajons, 3 km²), den „Kurländischen Bezirk“ (Kurzemes rajons, 79 km²), die „Lettgallische Vorstadt“ (Latgales priekšpilsēta, früher teils „Moskauer Vorstadt“ genannt, 50 km²), die „Livländische Vorstadt“ (Vidzemes priekšpilsēta, früher „Petersburger Vorstadt“, 57 km²), die „Semgallische Vorstadt“ (Zemgales priekšpilsēta, früher „Mitauer Vorstadt“, 41 km²) und den „Nordbezirk“ (Ziemeļu rajons, 77 km²). Letzterer ist der am dünnsten besiedelte Teil R.s; die zweitdichteste Besiedlung nach dem Zentrum weist die „Lettgallische Vorstadt“ auf.
Bevölkerung
Zur Großstadt wurde R. im letzten Drittel des 19. Jh. in einer Geschwindigkeit und Dimension wie nur wenige Städte im damaligen Ostmittel- und Osteuropa. Von 102.590 im Jahre 1867 wuchs es auf ca. 520.000 Einwohner bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs an, eine Zahl, die danach erst unter Sowjetherrschaft wieder erreicht und bis zu deren Ende beinahe verdoppelt wurde. Während der Eigenstaatlichkeit Lettlands bis 1940 überschritt die Bevölkerung der Hauptstadt nie die Zahl 400.000; der signifikante demographische Verlust gegenüber 1914 war eine Folge v. a. der Evakuierungen ins Innere Russlands während des Ersten Weltkriegs.
Seit Wiederherstellung der Souveränität Lettlands 1991 ist R.s Einwohnerzahl nunmehr kontinuierlich rückläufig. Betrug sie am 1.1.1992 noch 897.078, so lag sie 2006 (bei zwischenzeitlich deutlich gestiegener Lebenserwartung) nur mehr bei 722.485 (davon 53,9 % Frauen). Dies entsprach einer Einwohnerdichte von 2369 Menschen pro km².
Der Anteil der Letten (42,3 %) und der Russen (42,6 %) an der Stadtbevölkerung ist etwa gleich groß, wobei seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit der Anteil der Letten stark zugenommen und der der Russen stark abgenommen hat. Hinzu kommen Weißrussen (4,5 %) und Ukrainer (4 %) sowie Polen (2,1 %). Für Lettland bleibt die Nationalitätenverteilung in seiner Hauptstadt somit auf längere Sicht durch eine zahlenmäßige Minorität der Staatsnation gegenüber einer slawischsprachigen Mehrheit gekennzeichnet.
R. ist Sitz eines (phasenweise verwaist gewesenen) römisch-katholischen Erzbistums; zur Bischofskirche wurde 1923 St. Jakobi (Sv. Jēkaba baznīca), die kleinste der drei mittelalterlichen Backsteinbasiliken der Altstadt, bestimmt. Weitaus zahlreicher als Katholiken sind unter den Letten R.s evangelisch-lutherische Gläubige. Ins Gewicht fallende Mitgliederzahlen verzeichnen darüber hinaus Baptisten und Adventisten. Für die dem Moskauer Patriarchat zugeordnete russisch-orthodoxe Kirche ist in R. ein Metropolit eingesetzt. Ein weithin sichtbares Gebetshaus nahe der Düna ist Zentrum der R.er Altgläubigen. Mit der Synagoge in der Peitavas-Straße als Mittelpunkt blüht ferner jüdisches Gemeindeleben zunehmend wieder auf.
Wirtschaft und Verkehr
In der vielfältigen Gewerbestruktur R.s sind, abgesehen von Handel und Verwaltung, v. a. Metallverarbeitung, Elektrotechnik, Maschinenbau und Verbrauchsgüterproduktion breiter vertreten. Der Transportmittelbau, ein Produktionszweig mit auf das Zeitalter der Industrialisierung, als mehrere Waggonfabriken entstanden, zurückweisender Tradition, die besonders in der Sowjetzeit gefördert wurde, befindet sich seit deren Ende im Niedergang. Für den durchschnittlich neun Monate im Jahr eisfreien Hafen (Umschlag 2005: 24429,1 Tsd. t und ca. 250 Tsd. Passagiere) spielt immer noch Holzausfuhr eine nennenswerte Rolle; um 1910 war R. zeitweise größter Holzexportplatz der Welt. Eine unverzichtbare Einnahmequelle stellt in jüngster Zeit der Tourismus dar, für den R. eines der frequentiertesten Ziele an der östlichen Ostsee ist und der das für ostmitteleuropäische Metropolen als hoch geltende Preisniveau in der Stadt begünstigt.
R. ist eine der in Bezug auf das zugehörige Staatsterritorium zentralstgelegenen Hauptstädte im östlichen Europa. Es bildet den Knotenpunkt der wichtigsten Nord-Süd-Straßenverbindung des Baltikums mit ebenfalls wichtigen Fernstraßen in west-östlicher und südwest-nordöstlicher Richtung (den Strecken Ventspils-Daugavpils bzw. Liepāja-Pskov). Schienenwege führen von R. in sieben Richtungen. Die Verkehrssituation innerhalb der Stadt bestimmt der Mangel an Brücken über die Düna, der sich aufgrund einer Konzentration der großen Mehrzahl wichtiger Dienstleistungen auf der rechten Flussseite sowie der Lage des internationalen Flughafens auf der linken problematisch auswirkt, zumal in den letzten Jahren der Flughafenverkehr stark zugenommen hat (1878 Tsd. Passagiere und 2,59 Tsd. t Cargo 2005). Nachdem die Düna im Raum R. erst seit dem 20. Jh. überhaupt von mehreren Brücken gequert wird, bleiben zusätzliche Brückenschläge unter- und oberhalb der vorhandenen ein vorrangiges Zukunftsprojekt.
Bildung und Kultur
Die nächstgrößten Städte Lettlands über sechsfach an Einwohnern übertreffend, verfügt R. über ein breit gefächertes Bildungswesen. Neben der „Universität Lettlands“ (Latvijas Universitāte), entstanden 1919, existieren eine eigenständige Technische Universität (seit 1958), eine medizinische sowie eine Sporthochschule (gegründet 1950 bzw. 1921), ein Konservatorium, eine Kunstakademie (jeweils 1919 gegründet) sowie über 20 Fachschulen. Führend im Forschungssektor ist die seit 1946 bestehende und während der folgenden Jahrzehnte um immer mehr Einzelinstitute erweiterte Akademie der Wissenschaften (Zinātņu akadēmija).
Zu R.s Kultureinrichtungen zählen eine Oper, eine Philharmonie, mehrere Theater (darunter das lettische Nationaltheater, das Jānis-Rainis-Kunsttheater, das russische Schauspielhaus sowie ein Puppentheater), ein Zirkus und zahlreiche Museen – neben Kunstmuseen u. a. ein Automobil-, ein Kriegs- (Kara muzejs, am und im Pulverturm, einem der letzten Stadtmauerreste) sowie ein weitläufiges ethnographisches Freilichtmuseum (am Juglas ezers an der nordöstlichen Stadtgrenze, 1932 eröffnet). Das älteste R.er Museum, das „Museum für Stadtgeschichte und Schifffahrt“ (Rīgas vēstures un kuģniecības muzejs), befindet sich in den 1888–92 für seine Zwecke aufgestockten Gebäuden um den Kreuzgang des Doms.
2 Kulturgeschichte
Anstoß zu der auf 1201 datierten Stadtgründung im Mündungsgebiet der Düna gaben der Bedarf der von Gotland aus Handelskontakte suchenden norddeutschen Kaufleute an einem festen Stützpunkt und der durch ihre Berichte ausgelöste Missionseifer der bremischen Kirche.
Als Gründer R.s gilt Bischof Albert von Buxhoeveden. Dieser soll den im ›Chronicon Livoniae‹ Heinrichs von Lettland im Kontext des Berichtsjahrs 1198 erstmals erwähnten, teils schon livisch besiedelten ›locus Rige‹ an einem heute nicht mehr existierenden rechten Düna-Nebenfluss – dt. Rige-Bach oder Riesing, lett. Rīdzene genannt –, an dem auch R.s frühester Hafen lag, als Ort für seinen Bistumssitz und die dazugehörige Stadt gewählt haben. Seinen Vorgängern Meinhard und Berthold hatte zuvor die 30 km flussaufwärts an der Düna gelegene Kirche von Ikšķile (dt. hist. Uexküll) als Sitz gedient.
In der während des ersten Jahrzehnts nach der Stadtgründung zunächst halbkreisförmigen Stadtanlage befanden sich in unmittelbarer Nähe der Pfarrkirche St. Petri (Sv. Pētera baznīca) die Burg des 1202 gestifteten Schwertbrüderordens, von der Reste in Gestalt der St. Georgskirche (Sv. Jūra baznīca, heute Kunstgewerbemuseum) erhalten sind, sowie die früheste Bischofspfalz. An ihrer Stelle steht heute die St. Johanneskirche (Sv. Jāņa baznīca), ursprünglich Teil eines 1234 gegründeten Dominikanerklosters.
Mit der Grundsteinlegung des anfangs romanisch, später gotisch gestalteten Doms 1211 und der Verlegung der Bischofspfalz westwärts zur Düna leitete Bischof Albert eine Stadterweiterung ein, durch die R. annähernd den Umfang der heutigen Altstadt und damit seine für Jahrhunderte gleich gebliebenen Ausmaße erreichte. Albert stattete die (zu einem beträchtlichen Teil aus Westfalen stammenden) ansiedlungswilligen Kaufleute mit dem Recht der Deutschen auf Gotland aus; noch im Laufe des 13. Jh. übernahm R. jedoch hamburgisches Recht und entwickelte daraus ein eigenes rigisches Stadtrecht, das im weiteren Verlauf der Mehrzahl der Städte im Gebiet der Livländischen Konföderation verliehen wurde.
Anfänglicher Einfluss der Städte Lübeck, Münster und Soest drückte sich in der Existenz eigener „Höfe“ in R. aus. Derjenige Soests wurde später mit dem Haus der Kleinen Gilde der Handwerker räumlich gleichgesetzt, derjenige Münsters mit dem Haus der Großen Gilde der Kaufleute, dessen erhaltener Festsaal (inzwischen neogotisch umbaut durch die heutige Philharmonie) deshalb als „Stube von Münster“ (Minsteres istaba) bekannt ist.
Das Bistum R. stieg 1255 zum Erzbistum auf. Zur Erzdiözese Alberts II. Suerbeer und seiner Nachfolger gehörten fortan neben den livländischen Diözesen auch die des Ordenslandes Preußen. 1282 trat die Stadt dem Hansebund bei. Ausgeführt wurden u. a. Honig, Wachs und russische Pelze, später auch Getreide und Holz. Die Verhältnisse im mittelalterlichen R. waren durch Konflikte beeinflusst, in denen meist die Stadt an der Seite des Erzbischofs dem Orden – seit 1237 war dies der livländische Zweig des Deutschen Ordens, in dem der Schwertbrüderorden aufgegangen war – feindlich gegenüberstand.
1297 und 1484 zerstörten die Bürger sogar die Burg des Ordens. 1297 handelte es sich dabei noch um die ursprüngliche Schwertbrüderburg, den sog. Jürgenshof nahe der Petrikirche. Beide Male musste die Stadt nach langer Fehde einlenken und für den Schaden aufkommen. 1330–53 entstand so der vierflüglige Konventbau unmittelbar an der Düna, d. h. außerhalb der mittelalterlichen Stadt, der trotz Erweiterungen vom 17. bis ins 20. Jh. bis heute in seinen Grundzügen erhalten ist. Bei seiner Wiederherrichtung ab 1491 wurde er mit zwei mächtigen Rundtürmen verstärkt.
Die Reformation fand, auch unter dem Eindruck der ordensfeindlichen Stimmung, ab 1520 Widerhall in R.; schon 1522 bekannte sich die Mehrheit der Bürger zu Luthers Lehre. Kunstwerke aus vorreformatorischer Zeit im Inneren der Kirchen wurden während der Bilderstürme des Jahres 1524 fast ausnahmslos vernichtet (bemerkenswertestes Ausstattungselement eines R.er Sakralbaus aus heutiger Sicht ist der imposante Orgelprospekt des Doms aus der Zeit um 1600).
Nach Ausbruch des Livländischen Krieges 1558 und der Auflösung der Livländischen Konföderation 1561/62 folgte die Stadt nicht unmittelbar der Entscheidung des Erzbischofs und des Ordens, sich Polen-Litauen zu unterwerfen, sondern favorisierte besonders in den 70er Jahren eine Zukunft als freie Reichsstadt des Heiligen Römischen Reichs. Erst als dessen erhoffte Hilfe ausblieb, brachten neuerliche russische Vormärsche R. dazu, 1581 Polens König Stefan Batory zu huldigen.
Die 40-jährige polnisch-litauische Herrschaft, unter der die Bürger sich gegenreformatorischer Bestrebungen erwehren mussten, endete mit der Eroberung durch Gustav II. Adolf von Schweden 1621. Schwedens Krone behandelte R. entsprechend seinem Rang als zweiter großer Stadt im Reich neben Stockholm und ließ es in Anbetracht der strategischen Bedeutung, die ihm bei der Verteidigung des schwedischen ›Dominium Maris Baltici‹ zukam, aufwändig mit Erdwallsystemen einschließlich einer Zitadelle neu befestigen.
Die ansonsten prägendste Baumaßnahme in schwedischer Zeit ergab sich nach dem Einsturz des gotischen Turms der Petrikirche 1666, an dessen Stelle der Elsässer Rupert Bindenschuh den achteckigen Barockturm mit einer durch drei Galerien unterbrochenen Haube schuf, der bis heute die Stadtsilhouette dominiert. Mit einer (vom Portalschmuck abgesehen) schlichten barocken Fassade verbunden, harmoniert dieser Turm einzigartig mit der übrigen, auf die Rostocker Marienkirche als Vorbild weisenden Basilika, der bedeutendsten Leistung der Gotik in Lettland.
Die prächtigsten Bürgerhäuser der Stadt, das Dannenstern- und das Reuternhaus, stammen aus der vorletzten bzw. letzten Dekade des 17. Jh.; ebenfalls in der Schwedenzeit entstanden die beiden jüngeren der „Drei Brüder“ (Trīs brāļi), des einzigen erhaltenen Ensembles alter R.er Wohnhäuser (heute Architekturmuseum). Während des Großen Nordischen Krieges (1700–21) beschleunigte der Ausbruch der Pest die Kapitulation vor der Belagerung durch Truppen Peters des Großen 1709/10. Unter Bestätigung aller alten Privilegien nunmehr westlicher Vorposten des Zarenreichs, erholte die Stadt sich nur langsam von den Kriegsfolgen. Dennoch zog sie Zuwanderer aus anderen deutschsprachigen Gebieten an; z. B. ließ Johann Friedrich Hartknoch, der Verleger Immanuel Kants, Johann Georg Hamanns und Johann Gottfried Herders, sich hier nieder. Herder selbst hielt sich 1764–69 als Lehrer an der Domschule und Gemeindeprediger in R. auf und ließ sich zum Sammeln lettischer Volksdichtung anregen.
1812 wurden beim Einfall Napoleons ins Russische Reich vorsorglich sämtliche Vorstädte niedergebrannt; obwohl der Korse unerwartet an R. vorbeizog, hatte sein Feldzug insoweit städtebauliche Konsequenzen. Einschneidende Modernisierungsschritte leiteten Mitte des 19. Jh. den Aufstieg zu einer der führenden Industriemetropolen des Zarenreichs ein: u. a. 1857–63 die Niederlegung der Festungswälle, an deren Stelle repräsentative Boulevards und Parks v. a. nordöstlich der Altstadt geschaffen werden konnten, 1858–61 der Bau der Eisenbahnlinie nach Dünaburg (lett. Daugavpils), die R. an die Schienenstrecke Warschau-Petersburg anschloss, sowie 1862 die Gründung des Polytechnikums, einer im Russischen Reich damals einzigartigen (bis 1896 privat organisierten, dann als „Polytechnisches Institut“ verstaatlichten) technischen Hochschule. Das 1866 zur Unterbringung des Polytechnikums errichtete Gebäude am Rainis-Boulevard (Raiņa bulvāris) ist heute Hauptgebäude der Universität Lettlands. Ihm gegenüber wurde als markantester Repräsentationsbau dieser Zeit 1860–63 (nach einem Entwurf von Ludwig F. K. Bohnstedt) das deutsche Theater errichtet, die heutige lettische Nationaloper.
In die Phase beschleunigter Modernisierung um 1860 fiel ferner die Gewährung des Immobilienerwerbsrechts für Juden. Ein allgemeines Niederlassungsrecht war erst 1841/42 gegen den Willen des Rates der Stadt wirksam geworden; in R. Handel treibende Juden konnten sich zuvor nirgendwo in Livland außer in dem bis 1783 kurländischen Ort Schlock (lett. Sloka) westlich von R. registrieren lassen.
Die 1870 eingeführte russische Städteordnung wurde 1877 auch für R. in Kraft gesetzt; an die Stelle der zuvor jahrhundertelang aus Rat sowie Kleiner und Großer Gilde ständisch zusammengesetzten Stadtregierung traten gewählte Stadtverordnete. Dies waren, bedingt durch das nun geltende Dreiklassenwahlrecht, weiterhin mehrheitlich Deutsche, obwohl die Deutschen im letzten Drittel des 19. Jh. als zahlenmäßig stärkste R.er Nationalität von den Letten abgelöst wurden.
Die zumeist als Industriearbeiter zugewanderten Letten stellten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs über 40 % der Bevölkerung, 17 % mehr als zur Zeit der Volkszählung 1867. Die geringe politische Teilhabe der Letten im damaligen R. mindert nicht die Bedeutung der Stadt für die Entstehung der lettischen Nation, denn nur R. und in weit geringerem Maße die Universitätsstadt Dorpat (estn. Tartu) waren natürliche Orte der Begegnung zwischen Letten aus den Gouvernements Livland und Kurland.
Entsprechend bildeten sich hier Vereine, allen voran der ›RLB‹ (›Rīgas latviešu biedrība‹, dt. R.er Letten Verein). Angehörige aller zahlenmäßig bedeutenden Nationalitäten der Vielvölkerstadt prägten um die Wende zum 20. Jh. den R.er Jugendstil, unter ihnen der Lette Konstantins Pēkšēns, der Russe Michail O. Ėjzenštejn, der Jude Paul Mandelstamm (1872–1941) und Deutsche wie Wilhelm Bockslaff. Wenige Jahre zeitversetzt zu den berühmten Jugendstilvierteln verwirklichte sich in Gestalt des neuen Stadtteils Mežaparks (dt. hist. Kaiserwald) im Nordosten R.s erstmals im östlichen Europa die Idee der „Gartenstadt“.
Im Ersten Weltkrieg wurde R., nachdem die deutschen Truppen zwei Jahre lang nicht über die Düna hinaus vorgerückt waren, im August 1917 von diesen besetzt. Bei ihrem Abzug wurde am 18.11.1918 (gerade noch rechtzeitig vor Ankunft der sich formierenden Räteregierung unter Pēteris Stučka, die sich bis Mai 1919 in R. hielt) ein unabhängiges und demokratisches Lettland ausgerufen. Ort der Proklamation war das heutige Nationaltheater, 1902 als russisches Stadttheater fertig gestellt.
Am 11.8.1920 unterzeichnete Sowjetrussland in R. seinen Friedensvertrag mit Lettland, in dem es dessen Selbständigkeit anerkannte, und am 18.3.1921 den mit Polen. Die wichtigsten Verfassungsorgane der jungen Republik wurden in Bauten untergebracht, die auch seit 1991 wieder dieselbe Funktion erfüllen: Für Lettlands Parlament, Saeima, wurde das vormalige Gebäude der Livländischen Ritterschaft hergerichtet; für den Staatspräsidenten wurde das einstige Ordensschloss zum Amtssitz. Für markante Veränderungen im Stadtbild sorgten während der Unabhängigkeitsperiode bis 1940 v. a. ein neuer – damals Europas größter – Zentralmarkt (Centrāltirgus) mit vier monumentalen Hallen (vormaligen Zeppelinhangars, die zerlegt und neu aufgebaut wurden) sowie das 1935 eingeweihte Freiheitsdenkmal, eine Symbiose aus Statue und Obelisk am Beginn des Freiheitsboulevards (Brīvības bulvāris), der nordostwärts aus der Stadt führenden Verkehrsachse. Künstlerisch wie auch als nationales Symbol ähnlich bedeutend ist der 1936 im Nordosten der Stadt vollendete „Brüderfriedhof“ (Brāļu kapi) für Gefallene des Ersten Weltkriegs und des anschließenden Freiheitskriegs.
Im Zuge der sog. Umsiedlung Ende 1939 verließen die meisten der noch etwa 38.000 deutschen Bewohner die Stadt. Die Annexion Lettlands im August 1940 machte diese zur Hauptstadt einer Unionsrepublik der UdSSR. Beim Beschuss durch deutsche Truppen Mitte 1941 verlor R. mit der prächtigen Fassade des Schwarzhäupterhauses (des Gebäudes der gleichnamigen Gilde) sowie der Turmhaube der Petrikirche zwei seiner Wahrzeichen. Letztere wurde bis 1983 wiederhergestellt, hingegen das Schwarzhäupterhaus und das historische Rathaus, deren Ruinen 1948 bzw. 1954 beseitigt worden waren, erst in zeitlicher Nähe zu R.s 800-Jahr-Feier 2001.
Bereits in den ersten Monaten der von Juli 1941 bis Oktober 1944 dauernden deutschen Besatzung wurden Synagogen niedergebrannt und in der Moskauer Vorstadt ein Getto für die einheimischen Juden (dies waren während der 1930er Jahre ca. 11 % der Stadtbevölkerung) angelegt. Nach Erschießung der meisten von ihnen in nahe gelegenen Wäldern (besonders bei Rumbula) und Liquidierung des ersten Gettos Ende 1941 wurden in großer Zahl Juden aus dem Deutschen Reich (einschließlich Österreich und der Tschechoslowakei) durch R. geschleust. Auch sie kamen überwiegend durch Erschießungen um. Das Leiden der Überlebenden einer zweiten Gettoliquidierung im November 1943 setzte sich im Konzentrationslager Kaiserwald fort.
Die sowjetische Rückeroberung R.s hinterließ noch schwerere Zerstörungen als der deutsche Einmarsch drei Jahre zuvor. Die Beseitigung der Schäden erfolgte, teils an Planungen bereits der 30er Jahre anknüpfend, unter groben Eingriffen in die gewachsene Struktur des Stadtkerns. Auffälligstes Relikt der 50er Jahre im Stadtbild ist ein als „Kolchosarbeiter-Haus“ geplantes, seit seiner Fertigstellung jedoch der Akademie der Wissenschaften dienendes Gebäude im Zuckerbäckerstil der späten Stalin-Zeit, das zu den wenigen Hochhäusern dieser Art außerhalb der heutigen GUS-Staaten gehört.
Eine Wende hin zu behutsamerem Umgang v. a. mit der Altstadt vollzog sich um 1970 etwa zeitgleich mit dem Bau eines letzten Fremdkörpers, des „Museums der Lettischen Schützen“ (heute Okkupationsmuseum). Der ungeminderte Zuzug von Industriearbeitern aus anderen Sowjetrepubliken und damit verbundene Gerüchte vom geplanten Bau einer U-Bahn gehörten ab Mitte der 80er Jahre zu den ersten Auslösern lettischen Protests. Trauriger Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung, in die dieser mündete, war in R. der 20.1.1991, an dem bei einer Aktion von Truppen des sowjetischen Innenministeriums ebenso wie eine Woche zuvor in Wilna Tote zu beklagen waren. Seit der im selben Jahr wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands stand das öffentliche Leben in der Hauptstadt für ein Jahrzehnt im Zeichen der Vorbereitung des 800-jährigen Stadtjubiläums. 1997 wurde dabei die Aufnahme der zentralen Teile R.s in die Liste des Weltkulturerbes erreicht. Ausschlaggebend für die UNESCO, dem Stadtensemble unverkennbaren Kriegsnarben zum Trotz universalen Wert zuzusprechen, war die charakteristische Mischung von Jugendstil- und mittelalterlich-frühneuzeitlicher Architektur in der Altstadt sowie von Jugendstil- und älterer Holzbebauung in der nordöstlich angrenzenden Neustadt.
Benninghoven F. 1961: Rigas Entstehung und der frühhansische Kaufmann. Hamburg. Fülberth A. 2005: Tallinn – Riga – Kaunas. Ihr Ausbau zu modernen Hauptstädten 1920–1940. Köln. Larsson L. O. 2002: Riga 1201–2001. 800 Jahre im Spiegel der Architektur. Nordost-Archiv N. F. 11, 11–33. Lenz W. 1954: Die Entwicklung Rigas zur Großstadt. Kitzingen am Main. Misāns I., Wernicke H. (Hg.) 2005: Riga und der Ostseeraum. Von der Gründung 1201 bis in die Frühe Neuzeit. Marburg.