Perestroika
Perestroika (russ. Perestrojka, „Umbau“, „Umgestaltung“).
Inhaltsverzeichnis |
1 Gesellschaftspolitik
2 Wirtschaftspolitik
Infolge der systemimmanenten Funktionsmängel des realisierten Wirtschaftssystems (sowjetisches Wirtschaftssystem) fiel die Sowjetunion Anfang der 80er Jahre des 20. Jh. drastischer als bisher erkennbar hinter die wirtschaftliche und technologische Entwicklung in den westlichen Industrieländern zurück. Erstmals seit Jahrzehnten wurden nun die Ursachen hierfür im bestehenden Wirtschaftssystem selbst gesucht: Im Zurückbleiben des Systems der Produktionsverhältnisse hinter dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte zum einen, in der systemhaften Hintanstellung individueller und gruppenspezifischer Interessen gegenüber dem von der KPdSU definierten gesamtgesellschaftlichen Interesse zum anderen. Die parteioffizielle Zurkenntnisnahme eines „tatsächlichen sozialen Konflikts“ zwischen ersteren und dem sog. „gesamtgesellschaftlichen Interesse“ stellte insoweit das ideologische Postulat der „Harmonie der Interessen“ zur Disposition (Studie von Nowosibirsk 1984).
Die P., d. h. der institutionelle Umbau des Wirtschaftssystems, begann mit programmatischen Absichtserklärungen Gorbatschows ab 1985. Als Ziele der Reform wurden genannt: Befriedigung der tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnisse entsprechend den grundsätzlich anerkannten Interessendivergenzen, Stimulierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, Übergang zu einem auf intensiver Nutzung der Faktoren beruhenden Wirtschaftswachstum und Erweiterung der wirtschaftlichen Demokratie.
Anders als bei den bisherigen Reformansätzen sollte diesmal die „Theorie der Praxis vorangehen“. Es zeigte sich jedoch bald, dass die Reformpraxis durch schwerwiegende Theoriedefizite bestimmt war: es fehlte eine Vorstellung über die ordnungspolitische Gestaltung der neuen Wirtschaftsordnung als Ganzes. Weder wurden die konstitutiven Ordnungselemente (Art der volkswirtschaftlichen Planung, Eigentums- und Preisbildungsformen) genügend klar definiert, noch auf deren Funktionstüchtigkeit und Interdependenzen hin analysiert.
Zudem blieb die sog. „neue“ Politökonomie in ihren Grundpositionen fast unverändert und damit als ideologische Barriere für einen Übergang zu einer privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft weiterhin wirksam. Im wesentlichen waren es zwei Gesetze, die die ökonomische P. kennzeichneten: Das Gesetz über die staatlichen Unternehmen und Vereinigungen von 1987 und das Gesetz über das Genossenschaftswesen von 1988. Ein Gesetz über das Eigentum und die Novellierung des Unternehmensgesetzes wurden 1990 erlassen. Weitere Gesetze und präsidiale Erlasse (Dekrete) folgten in einer späteren Phase, in der bereits Rechtsakte der Union von einer Reihe der sowjetischen Republiken nicht anerkannt wurden („Krieg der Gesetze“) und insofern dort schon a priori keine Wirkungskraft erlangen konnten.
Das Gesetz über die staatlichen Unternehmen sah zwar einerseits die Übertragung größerer Planungs- und Verfügungsrechte an die Unternehmen vor, doch „Hauptform der Planung und Organisation der betrieblichen Tätigkeit (blieb)... der Fünfjahrplan“. Die nach dem Gesetz nun möglich gewordenen selbständigen Verträge zwischen Unternehmen erwiesen sich als weitgehend unwirksam, da Staatsaufträge, die die Befriedigung „vorrangiger gesellschaftlicher Bedürfnisse“ sicherstellen sollten, vorrangig in den Betriebsplan aufgenommen werden mussten. Hinsichtlich des betrieblichen Eigentums benannte das Gesetz das Arbeitskollektiv (Belegschaft) als Besitzer (russ. chozjajn); dieses konnte seine Eigentumsrechte jedoch nur auf der Grundlage des Prinzips des demokratischen Zentralismus wahrnehmen, so dass letztlich wiederum die betriebliche Parteiorganisation, als „politischer Kern des Kollektivs die Arbeit des gesamten Kollektivs“ steuern sollte. Auch die im Gesetz benannte betriebliche Ergebnisrechnung (russ. chozrasčët) trug nicht zu der erhofften größeren ökonomischen Verantwortung der Betriebe bei, da diesen schon alle ökonomisch relevanten Größen administrativ vorgegeben waren. Ein angekündigtes neues Preissystem, das Angebot und Nachfrage in irgendeinem Maße berücksichtigen sollte, fehlte bis Ende 1991; lediglich die Preisbildungsrechte wurden auf die bürokratischen Instanzen neu verteilt. Die Preise blieben somit weiterhin nur planrechnerische Hilfsgrößen.
Durch das Genossenschaftsgesetz wurde genossenschaftliches Eigentum, im Rahmen der „führenden Rolle der staatlichen Form des Eigentums“, legalisiert; genossenschaftliche Prinzipien, wie z. B. die Freiwilligkeit des Ein- und Austritts wurden gesetzlich verankert. Doch Sonderregelungen im Gesetz selbst nahmen die landwirtschaftlichen Kolchosen davon aus, beließen diese in ihrem Status als nur quasi-genossenschaftliche Staatsgüter. Die Genossenschaften (Kooperative), zumeist de facto privatwirtschaftliche Kleinunternehmen, erlangten in den folgenden Jahren im Bauwesen und Dienstleistungssektor in einigen urbanen Zentren der Sowjetunion eine spürbare wirtschaftliche Bedeutung. Für die sowjetische Volkswirtschaft insgesamt entfalteten sie bis Ende 1991 nur marginale Wirkungskraft.
Insgesamt blieb der gesetzliche Rahmen der P. ein inkonsistenter Torso, in dem die latente Tendenz des Gesetzgebers zur zentralen Planung und Leitung und zum demokratischen Zentralismus zum Ausdruck kam. Konzeptionell stellte sich die P. als ein erneut mißlungener Versuch der „Vervollkommnung“ (russ. soveršenstvovanie) des zentralgeplanten Wirtschaftssystems dar, deren gesetzliche Regelungen zufolge des Widerstandes der bürokratischen Instanzen in der wirtschaftlichen Realität wenig wirksam werden konnten.
Ab 1990 wurden zudem mehrere Wirtschaftsprogramme erarbeitet, die jedoch ohne Rechtskraft blieben. Hier ist v. a. das sog. Fünfhundert-Tage-Programm der Šatalin-Gruppe zu erwähnen, das deutlich, wenn auch ordnungspolitisch inkonsistent, marktwirtschaftlich orientiert war. Weniger Plan denn Programmabsicht, sollte es nach dem Willen der Autoren v. a. eine Signalwirkung für die Zukunft entfalten. Es stellt ein Zeitdokument insofern dar, als damit Wille und Fähigkeit einer Gruppe jüngerer sowjetischer Ökonomen zum Denken in marktwirtschaftlich orientierten Ordnungskategorien sichtbar wurden.
Der Versuch eines fundamentalen Umbaus (russ. korennaja perestrojka) des sowjetischen Wirtschaftssystems mündete ab Herbst 1990 in ein Krisenmanagement durch zumeist präsidiale Erlasse. Mit der Auflösung der Sowjetunion durch den Vertrag über die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vom 8.12.1991 wurde auch die Periode der P. beendet. Seit Beginn 1992 haben dann die einzelnen – nun selbständigen – Republiken der ehemaligen Sowjetunion jeweils eigene Wege zur Transformation ihrer Wirtschaftssysteme eingeschlagen.
Hamel H., Leipold H. 1989: Perestrojka und NÖS. Arbeitsberichte zum Systemvergleich 12. Marburg. Peterhoff R. 1990: Theoretische Grundlagen des Reformprozesses in der UdSSR: Ordnungspolitischer Konzeptionswandel als Reflex politökonomischen Umdenkens? Cassel D. (Hg.): Wirtschaftssysteme im Umbruch. München, 153–172. Die Studie von Nowosibirsk. Osteuropa-Archiv 1/1984, A1–A25.