Interfronten
Interfronten; Bezeichnung für Vereinigungen konservativer Kommunisten im Baltikum, die sich gegen die Reformpolitik des KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow richteten. Der Begriff entstand in Anlehnung an die zuvor gegründeten Volksfronten (Estnische Volksfront, Lettische Volksfront, Sajūdis), die Glasnost und Perestroika unterstützten. Nur die lettische Interfront bezeichnete sich indessen als „Internationale Front der Werktätigen der Lettischen SSR zur Unterstützung der Umgestaltung“ (lett. Latvijas Darbaļaužu Internationālā Fronte).
Der estnische Politologe Rein Toomla (*1952) charakterisiert die I. als aus verschiedenen Individuen bestehende Gruppen, die weder Partei noch Lobbyorganisation sind. Die I. waren weniger kommunistisch, als unionistisch ausgerichtet. Sie vertraten den Erhalt der Sowjetunion. Jevgeni Kogan (*1954) verzichtete am 30.11.1988 in Estland bewusst auf die Bezeichnung I., entschied sich stattdessen für „Interbewegung“ (estn. Interliikumine), um den Eindruck von zwei sich gegenüberstehenden Fronten zu vermeiden. In Litauen existierte zwar eine der I. vergleichbare Kraft, namens „Einheit“ (litau. Edinstvo). Sie konnte aber keine politische Bedeutung erringen, da Litauen mit einem geringen Bevölkerungsanteil von Migranten aus anderen Sowjetrepubliken und einer hohen Zahl kommunistischer Parteimitglieder litauischer Nationalität der Nährboden für die Bildung einer I. fehlte.
Die am 8.1.1989 gegründete lettische I., geführt von Alfrēds Rubiks vom konservativ-stalinistischen Flügel der lettischen Kommunisten war somit die radikalste der I. Überraschend war die Niederlage Rubiks gegen die Volksfront bei den Kommunalwahlen im Dezember 1989 – bis dahin war er Vorsitzender des Rigaer Exekutivkomitees (lett. Izpildkomitejas priekšsēdētājs) gewesen –, da in Riga Migranten aus anderen Sowjetrepubliken mit fast zwei Dritteln die Bevölkerungsmehrheit bildeten, bei der die Idee des Erhalts der Sowjetunion populärer war als unter den Letten. Während des Augustputsches in Moskau unterstützte Rubiks die Gegner Gorbatschows und wurde dafür 1993 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, 1997 wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Die lettische I. wurde schließlich verboten und ihren Aktivisten das weitere politische Engagement im Rahmen eines Gesetzes untersagt, dass alle diejenigen von politischen Ämtern ausschloss, die nach dem 13.11.1991 (Übergriffe gegen den Fernsehturm in Wilna) noch Mitglieder der Kommunistischen Partei waren.
Funktionäre wie Rubiks und Tatjana Ždanoka (*1950) in Lettland sowie Kogan in Estland konnten, da sie über die Staatsbürgerschaft der nunmehr unabhängigen baltischen Republiken verfügten – sie gehören nicht zu den Migranten oder deren Nachfahren, die durch Zuwanderung nach dem für die Einbürgerung entscheidenden Stichtag vor dem Einmarsch der Roten Armee 1940 von der automatischen Zuteilung der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen waren – auch weiterhin als Vertreter konservativ-kommunistischer und anti-nationaler Ideen agieren.
In Estland und Litauen gab es mit Ausnahme Kogans keinen Politiker der I., der nach 1992 wieder politisch aktiv wurde. In Lettland hingegen formierte sich die Liste „Gleichberechtigung“ (lett. Līdztiesība), die 1993 ins Parlament einzog. Sie bildete die Basis für die Gründung der Sozialistischen Partei, die ihrerseits später mit der „Partei der Volkseintracht“ (lett. Tautas Saskaņas Partija) die Wahlkoalition „Für Menschenrechte in einem integrierten Lettland“ (lett. Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā) einging. In dieser Koalition vereinten sich vormalige Kräfte der I. mit einer Nachfolgepartei der Volksfront unter Jānis Jurkāns (*1946), dem ehemaligen Außenminister, die sozialstaatliche Programmatik mit russlandfreundlicher Haltung verband. Jurkāns' Streben nach politischer Macht beendete die Koalition. Die Vertreter der I. sind heute weder in der Bevölkerung noch im Parlament mehrheitsfähig oder denkbarer Partner für irgendeine andere Partei.
Latvijas Universitātes žurnāla „Latvijas Vēsture“ fonds, Latvijas Zinātņu akadēmijas Baltijas stratēģisko pētījumu centrs (Hg.) 1998: Latvijas valsts atjaunošana 1986. –1993. Rīga. Lieven A. 1994: The Baltic revolution. New Haven. Matthes C.-Y. 1994: Die Herausbildung des Parteiensystems in Lettland seit Beginn der Perestrojka (=BIAB-Berichte Freie Universität Berlin). Toomla R. 1999: Eesti erakonnad. Tallinn.