Zentrum und Peripherie

Zentrum und Peripherie

Inhaltsverzeichnis

1 Methodische Fragen

Z. u. P. gehören zu den allgemeinen Raumgliederungen der Geschichte. Für das Begriffspaar ist konstitutiv, dass Informationen und Waren, Lebensstandard und Karrieremöglichkeiten im Zentrum zugänglicher sind als in der Peripherie. Solche Phänomene werden auch im Rahmen des Paares Hauptstadt und Provinz diskutiert und waren für Imperien ähnlich kennzeichnend wie für absolutistische Staaten und moderne zentralisierte Nationen. In der russischen Tradition werden solche Probleme in der Gegenüberstellung Stadt und Dorf oder auch im Rekurs auf den literarischen Topos von der russischen Weite abgehandelt. Auch unter dem Konzept des Grenzlandes geht es um ungleiche Entwicklung.

War für die Antike die Hauptstadt-Provinz-Differenz kennzeichnend, entstand im Mittelalter zwischen Rom und London eine Zone, in welcher Zentrumsfunktionen für ganz Europa ausgeübt wurden – die „europäische Banane“, in welcher nicht nur viele geistliche Hauptorte, sondern auch die Territorien von vier der sieben Kurfürsten Deutschlands und die meisten frühneuzeitlichen Geldumschlagplätze lagen. Gegenüber dieser Zone geriet Europa östlich des Rheins insgesamt in eine Position des Nachholens, der Mission. Innerhalb der Staaten westlich des Rheins wurden zusätzlich eroberte Länder zu inneren Peripherien gemacht und verloren an politischer Selbstbestimmung wie Andalusien nach der Reconquista, der Midí nach den Katharerfeldzügen oder Irland nach der Niederwerfung der katholischen Aufstände. In der Frühen Neuzeit traten ökonomische neben politische Differenzen, z. B. zwischen protoindustriellen Bevölkerungszentren und Absatzgebieten. Mit der Industrialisierung wurden diese Zentrumsbildungen etwa durch die Chemieindustrie am Rhein oder die Montanindustrie in rohstoffreichen Gebieten überlagert. Im 20. Jh. wurden manche Industriestandorte des vorangegangenen Jahrhunderts wieder aufgegeben, dafür entstanden Zentren von Dienstleistungen und Tourismus. Die „europäische Banane“ ist jetzt nicht nur durch moderne Bankplätze gekennzeichnet, sondern auch dadurch, dass mehr Patente je Kopf angemeldet werden als anderswo und das Durchschnittseinkommen höher ist. Sowohl Gebiete des Zentrums wie solche der Peripherien und dazwischen liegende Länder sind als Regionen organisiert, die weitere Ansatzpunkte für Forschung bieten. Die Forschung hat zur Bestimmung innerer Peripherien Kriterienkataloge entworfen, die für unterschiedliche Perioden nach verschiedenen Daten fragen – z. B. für das Mittelalter nach dem Verhältnis von Priestern und Gläubigen (die in den Zentren günstiger zu sein pflegt), für die Frühe Neuzeit nach der Zahl der Universitätsabsolventen je Einwohner, für die Neuzeit nach durchschnittlichen Einkommen, Arbeitslosenraten oder Anteilen der entsprechenden Alterskohorten am tertiären Sektor. Auch für Interaktionen zwischen Z. u. P. wurden Sets von Fragen entwickelt – nach Fachleuten aus dem Zentrum (Militärs, Missionare, dann Lehrer, Unternehmer, Ingenieure); nach den Anordnungen, Produkten (Fertigwaren) und Dienstleistungen (Unternehmen, staatliche Institutionen) und nach aus den Peripherien kommenden Steuern und Abgaben, billiger Wanderarbeit, Produkten (meist Rohstoffen) oder Nutzungen von weniger „verbrauchtem“ Raum – für strategische Ziele, für Tourismus, für Müll. Geographische Daten integrierend, wird gefragt, ob das Gebiet jeweils als Gunst- oder Ungunstraum anzusehen war. Norbotten war im Verhältnis zu Stockholm durch weniger frostfreie Tage und wenig Humus über dem Granit stets benachteiligt; dass das fruchtbare Andalusien zum Armenhaus Spaniens wurde und die karge Meseta zum Zentrum ist allerdings nur als Wirkung von Politik zu erklären. Surplus-Gewinne, welche von Unternehmen aus dem Zentrum in peripheren Räumen realisiert werden, lassen sich selten nachweisen, vielfältige Benachteiligungen der Einwohner solcher Gebiete – z. B. beim Zugang zu Hochschulen oder zu politischen Entscheidungspositionen – dagegen häufig.

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2 Mittelalter und Frühe Neuzeit

Bis zum Hochmittelalter stand der mediterrane Osten Europas hinter dem Westen nicht zurück, im Gegenteil – Konstantinopel war lange die größte und auch urbanste Stadt der Christenheit. Das Römische Reich war in seinem östlichen Teil (für den im 19. Jh. der Begriff „Byzantinisches Reich“ erfunden wurde) durch ein dichtes Netz von kleinen und großen Städten reich gegliedert; neben die Spannung zwischen der (für die Periode riesigen) Hauptstadt, dem Sitz eines ›Thema‹ oder einer einfachen Bischofsstadt trat oft noch eine zweite zu einer ökonomischen Zentralstadt, die manchmal zugleich Patriarchat war, also etwa Alexandria oder Aleppo (heute Halab). Der gesamte christliche Norden Europas war dem Süden gegenüber peripher. In der Periode der Kreuzzüge unterwarfen westeuropäische Mächte den Osten und gliederten ihn als Kolonien ein. Der „Süden des Ostens“ wurde zur Peripherie des Westens gemacht – allerdings nur bis zur Eroberung durch das Osmanische Imperium. Das führte die Zentralisierung in der umbenannten Hauptstadt auf einen neuen Höhepunkt.

Im „Norden des Ostens“ wurde nach den Gründungen neuer Königreiche im 10. Jh. das städtische Organisationsprinzip der Kirche zur Grundlage der Verwaltungsstruktur – ein Bischof hat seinen Sitz in einer Stadt. Neben der Hauptstadt von Polen, Litauen, der Rus, der Walachei und der Moldau, Ungarns, Serbiens und Bulgariens mit dem Metropoliten und Primas des Landes oder dem Patriarchen entstanden Suffragane. Da die gentilizisch denkenden Könige ihre Reiche unter die Söhne teilten, kamen Nebenlinien mit neuen Hauptorten hinzu, welche den Charakter als Provinz infrage stellen konnten – besonders, wenn eine Nebenlinie politisch mächtiger wurde als die Hauptlinie, wie die in Krakau gegenüber Posen oder die in Vladimir gegenüber Kiew. Die Kirche hielt demgegenüber meist am Amtsbegriff für das ganze Land fest, unterstützte eine Wiedervereinigung und damit u. U. die Entwicklung des Sitzes der mächtigsten Linie zur neuen Hauptstadt.

Im Spätmittelalter wurden Serbien, Bosnien und Bulgarien, im 16. Jh. Ungarn und Kroatien großteils vom Osmanischen Reich erobert und damit zur Provinz von Istanbul. Die orthodoxen Nationalkirchen wurden zu einem „Millet“ zusammengefasst, welcher von dem Patriarchen im Phanar-Viertel Istanbuls geleitet wurde. Nicht nur wurde die politische Herrschaft am Goldenen Horn zentralisiert, sondern auch die religiöse – es kam zu einer neuen Gräzisierung der Orthodoxie. Sozial wurden die Gebiete südlich der Donau umgestülpt, weil der einheimische Adel in Abwehrkämpfen unterging bzw. deklassiert und ein neuer muslimischer Adel etabliert wurde, der mit dem Land nur über eine Steuerpfründe verbunden war (›timar‹) und es leichter verlassen konnte als bodenständiger Adel; sozusagen ein Reichsadel, selbst wenn er in der Provinz lebte. Nur in der Walachei und der Moldau blieb der alte Guts besitzende Bojarenadel bestehen, als die Fürsten die osmanische Oberhoheit anerkannten; in Siebenbürgen blieb ebenfalls ein – hier aber magyarischer – grundbesitzender Adel neben den stärker kommunitaristisch verfassten „Nationen“ der Szekler und Sachsen existent.

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Böhmen, Polen, Litauen und Livland wurden im Spätmittelalter zu ständischen Gesellschaften mit weitgehender Selbstverwaltung der Gutsbesitzer in oft kleinen Territorien. In der Frühen Neuzeit kontrollierte der Adel in Polen auf dem jeweiligen Landtag (›sejmik‹) der Woiwodschaften Politik und Sozialverfassung vor Ort und wählte die Vertreter für die Landbotenstube auf dem Reichstag (Sejm), welche eine der drei Stände bildete (neben Magnaten im Senat und dem König, der in Polen ein Stand war). Die Selbstbestimmung der Regionen war also groß, wenn auch allein in der Hand des Adels. Nur in einigen Hafenstädten herrschten bürgerliche Obrigkeiten, besonders im reichen (lutherisch-deutschen) Danzig, das in dem von Holländern organisierten Export agrarischer Rohstoffe in den Westen vermittelte. Auch die königlich privilegierte Selbstorganisation der Juden in Polen war in vier „Länder“ unterteilt; einmal im Jahr tagte der jüdische „Vierländersejm“, der nicht zuletzt für die Aufbringung der Sondersteuern zuständig war. Böhmen blieb im 16. Jh., seiner ökonomischen Potenz entsprechend, ein selbständiges Königreich unter den Habsburgern; erst im 17. Jh. wurde nach dem Scheitern des Winterkönigs der tschechische Adel durch kaisertreue Familien ersetzt und das Königreich auf Autonomie reduziert, behielt aber seine eigenen Stände. In Russland wurden im 15. Jh. die vielfältigen Großfürstentümer und Fürstentümer der Familie der Rurikiden von Moskau unterworfen, ebenso Novgorod und als letzte zuletzt 1510 Pskov. Deren Organe der Selbstverwaltung (Bojarenrat und Volksversammlung) wurden aufgelöst und es gab in den Provinzen (Woiwodschaften) keine Stände. Allerdings gewährte Moskau regionalen und religiösen Sondergruppen (Muslime, Kosakenheere, baltischer Adel) viele Autonomien. Nicht zuletzt weil die regionale Basis fehlte, blieb die Ständebewegung in Russland überhaupt schwach und konnte bei der Durchsetzung des Absolutismus unter Peter I. durch Nichteinberufung von Bojarenrat (Duma) und Reichstag (›sobor‹) leicht aufgehoben werden.

Die Auflösung oder Einschränkung der vielen sozialen, religiösen und regionalen Autonomien des Moskauer Staates durch den petrinischen Absolutismus bedeutete eine Zentralisierung an der Oberfläche, welche einer Verdichtung von Herrschaft eher entgegenlief. Katharina II., wohlbelesen in der verfassungspolitischen Literatur des 18. Jh. und insbesondere Montesquieu, versuchte durch die Einrichtung von Adelsgesellschaften in der Provinz der Überzentralisierung entgegen zu wirken; es erwies sich aber nicht als einfach, einen der politischen Partizipation entwöhnten Adel an Politik heranzuführen – v. a. weil die Zarin die großen Entscheidungen dann doch wieder in der Hand behielt. „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“ scheiterte; mit den Teilungen Polens wurde vielmehr eine wirklich funktionierende, regional verankerte Adelsgesellschaft, welche in der Maiverfassung 1791 immerhin die Vertretung eines Bürgerstands einrichtete, zwischen den drei Nachbarn aufgeteilt. Damit war die Unterwerfung regional und ethnisch verankerter Adelsgesellschaften unter den Absolutismus von Österreich, Russland und Preußen abgeschlossen; alles außerhalb von Wien, St. Peterburg und Berlin wurde zur Peripherie gemacht. Dort entwickelte sich eine eigene Kultur der Provinz, nicht zuletzt im Bereich der Literatur.

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3 Das lange 19. Jahrhundert

Preußen konnte allerdings stets nur die Gebiete östlich der Elbe auf Berlin ausrichten und schon gar nicht jene deutschen Staaten, die 1815 bzw. 1866 im Westen annektiert oder die 1871 Bundesstaaten im Deutschen Reich wurden. Österreich musste Zentralisierungsversuche nach der Niederlage 1866 einschränken, als der ungarische Adel 1867 im Ausgleich eine sehr weitgehende Autonomie erreichte, welche selbst wieder zu einer Peripherisierung der von der Hauptstadt räumlich und vom Magyarentum ethnisch entfernteren Gebiete genutzt wurde. Und selbst Russland billigte dem russischen Teil Polens 1815 eine eigene Verfassung und ein eigenes Heer zu, ließ dem baltische Adel seine Privilegien lutherisch-deutscher Landesherrschaft und akzeptierte in Finnland eine weitere, deutlich stabilere lutherisch-schwedische Autonomie. Mit der Auflösung der polnischen Autonomie nach den Aufständen von 1830/31 und 1862 sollte Polen jedoch in „Weichselprovinzen“ verwandelt werden und in den 1870ern begannen Russifizierung und Zentralisierung auch in den baltischen Provinzen.

Allerdings hatte die Zentralisierung durch die spätabsolutistischen Regierungen etwas Scheinbares. Selbst auf der politischen Ebene zeichnete sich die Entstehung von immer mehr Einheiten ab: im ungarisch-österreichischen Ausgleich, in den Nationalbewegungen der Esten und Letten, denen in der von Petersburg ausgehenden Russifizierung an Stelle der baltisch-deutschen Ritterschaften ein neuer Gegner entstand oder im Kampf polnischer Schüler und Lehrer gegen Maßnahmen zur Germanisierung in Preußen: die Nationalbewegungen, die ja immer auch Regionen gegen ein Zentrum vertraten, gewannen an politischer Macht, ob in Riga oder Posen. Zuerst gelang es ihnen im Konflikt mit dem Osmanischen Reich, nach der Unabhängigkeit Montenegros, Griechenlands, Serbiens und schließlich Bulgariens neue Hauptstädte zu entwickeln.

Die Menschen begannen aber auch jenseits aller Nationalbewegungen durch Wanderungen vom Land in die Stadt die Einheitlichkeit Osteuropas aufzubrechen und neue Subzentren zu bilden. So änderten sich in Prag und Riga, 1815 noch weithin deutschsprachige Städte, im Verlauf des Jahrhunderts durch die Zuwanderung von tschechischer oder lettischer Landbevölkerung die Mehrheiten – in Prag wurden sie lange vom Stadtregiment der Altstadt ferngehalten, indem die Tschechen sich v. a. in den „explodierenden“ Vorstädten ansiedelten; in Riga und Reval bestimmten lettische bzw. estnische Politiker trotz des Dreiklassenwahlrechts seit der Jahrhundertwende im Rat, als sie in den beiden untersten Kurien die Mehrheiten errangen. Zunehmend entstand auch eine nationale Intelligenz mit einem umfangreichen Vereinswesen; in Riga mit Sängervereinen und Publikationshäusern; in Prag dann auch mit einer tschechischen Universität. Ganz ähnlich wurde aus dem schwedischen Helsingfors ein finnisches Helsinki; Wilna blieb aber polnisch und jüdisch – die litauische Zuwanderung war gering und die jiddische Stadtbevölkerung vermehrte sich nicht nur selbst schnell, sondern wurde auch durch Zuzug aus den litauischen Schtetl vermehrt. So wurde eher Kaunas zum Zentrum litauischer bäuerlicher Wanderung. Subzentren erlebten eine Wiederauferstehung oder entstanden neu, sie blieben aber noch politisch unterrepräsentiert. Die Realität veränderte sich hinter dem Rücken der Mächtigen.

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Die Veränderungen waren demographisch, industriell und verkehrstechnisch. Die Bevölkerung der osteuropäischen Staaten verdreifachte oder vervierfachten sich zwischen 1795 und 1914; in Russland z. B. stieg sie (ohne Bevölkerung der Eroberungsgebiete) von 37 auf 134 Millionen. Das bedeutete z. B. für die Bevölkerungsdichte des zentralen Gewerbegebiets einen Anstieg von 14 auf 38, für die des Schwarzerdegebietes von 13 auf 55 und die Weißrusslands von 21 auf 70 je km²; die Bevölkerungsdichte Sibiriens verachtfachte sich – von 0,1 auf 0,8 je km². Auch an den Migrationen nahmen mehr Menschen teil. Schon im 16. und 17. Jh. haben die ersten industriellen Zentren Arbeitsmigranten angezogen, z. B. aus Westfalen in die Niederlande. Im 18. Jh. wuchs die damals arbeitskraftintensive Textilproduktion in vielen Ländern Osteuropas. In Moskau waren es v. a. Altgläubige, welche auf den ihnen zugestandenen Friedhöfen umfangreiche Textilbetriebe anlegten und vielen aus dem Verstecken oder der Leibeigenschaft auf dem Lande kommenden Glaubensbrüdern ein städtisches Leben ermöglichten. Zugleich entwickelte sich eine altgläubige Fabrikantenschaft. In Warschau wuchs die Bevölkerung zwischen 1870 und 1900 von 276.000 auf 684.000; in Lodz sogar um das Sechsfache von 50.000 auf 315.000. Die Stadt bildet das Musterbeispiel für ein textil-industrielles Zentrum, das „mitten im Lande“ entstand. Nach der vierten polnischen Teilung 1815 waren (etwa 55.000) deutsche Kolonisten in das Königreich eingewandert, die als Zinsbauern angesiedelt wurden und protoindustriell wirtschafteten, also v. a. häusliche Textilproduktion trieben. Schnell wurden dann speziell bei Lodz Fabriken gebaut, wobei die Fabrikanten oft Deutsche und Juden waren, aber der schnelle Zuzug polnischer Landbevölkerung den ursprünglichen Charakter deutscher „Kolonien“ schnell aufhob. In Russland entstand ein ähnliches Textilzentrum in Iwanowo; hier waren es oft altgläubige Bauern, welche auf adligen Gütern den Schritt vom Organisator von Heimgewerbe mit Zuarbeit von anderen Höfen zum Fabrikanten machten. Eine neue Bourgeoisie entstand, die später – meist nachdem sie ihren Frieden mit der Staatskirche gemacht hatte – die Kunst des russischen Mittelalters sammelte.

Die Montanindustrie des Russischen Reiches war dadurch geprägt, dass die Eisenverhüttung mit Holzkohle an Konkurrenzfähigkeit verlor und die vom Zaren privilegierten Städte und Eisenwerke im Ural stagnierten. Die neue Eisenindustrie auf der Basis verkokbarer Steinkohle entstand im polnischen Teil des schlesischen Beckens und v. a. am Donec, wo im „Doneckij Bassejn“ (Donbass) mit französischem, belgischem und englischem Kapital das neue Industriezentrum des Imperiums entstand, in das westeuropäische sowie polnische Ingenieure und russische sowie ukrainische Bauern wanderten. Die Zuckerindustrie, welche in Südrussland, der Ukraine, Schlesien und Böhmen/Mähren entstand, blieb meist ländlich strukturiert und wurde selten zum Ausgangspunkt neuer Städte – schon weil der Arbeitskräftebedarf saisonal war und die Arbeiter nach der Saison wieder in die Dörfer zurückkehrten.

Die verkehrstechnische Revolution des 19. Jh. war die Eisenbahn. In ganz Osteuropa wurden Linien angelegt, in der Regel auf Staatskosten und nach auf die gesamten Imperien ausgerichteten Plänen, welche dann neue Unterschiede an Zugänglichkeit und neue abgelegene Räume schufen. Die Eisenbahnen förderten auch neue Bevölkerungszentren, die oft Städte wurden, wie etwa Baranoviči östlich des alten Zentrums Slonim im heutigen Weißrussland.

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In Österreich begann man erst 1775 damit, die Monarchie zu einem einheitlichen Zollgebiet zusammenzufassen – ein Prozess, der erst 1879 mit der Einbeziehung Dalmatiens beendet wurde. Bis zum Zeitpunkt der Einbeziehung lag die Macht zur ökonomischen Gestaltung des Raums (durch Außenzölle und Binnenmauten) bei den jeweiligen Ständen, danach setzten Zentralisierungen und Peripherisierungen ein, welche die Gesamtmonarchie umfassten. Hatten im 18. Jh. Heimgewerbe z. B. im Waldviertel noch eine große Rolle gespielt, so übernahmen im 19. Jh. Fabriken in Wien und Umgebung die hauptsächliche Produktion, so dass – meist tschechisch sprechende – Arbeitssuchende aus Mähren und Böhmen sowie – meist deutsch sprechende – aus den Erbländer nun in die Hauptstadt zogen. Die alte Eisenindustrie der Steiermark hatte jedoch damit zu kämpfen, dass Holzkohle in der Verhüttung an Bedeutung verlor und es verkokbare Steinkohle nur in Böhmen gab; die böhmische Eisenindustrie entwickelte sich entsprechend schnell; ihr Zentrum Pilsen wurde von einer deutschen Landstadt zu einer tschechischen Großstadt. Auch die Peripherien wurden industrialisiert und in neue Märkte integriert, allerdings abhängig vom „pull“ der Zentren.

Die Kontrolle der Wanderungen wurde in Russland durch die Umteilungsgemeinde ausgeübt; solange sie für Steuern und – nach der Bauernbefreiung – für die Entschädigungen der Gutsbesitzer verantwortlich war, entließ sie niemand aus dem Dorfverband – dafür stellte sie ja auch bei der periodischen Umverteilung Acker zur Verfügung. Nationale Erwägungen spielten hier keine Rolle; die Bürokratie folgte in ihrer Politik jedoch agrarromantischen Vorstellungen und der Hoffnung, dass die Bauern immun gegen Klassenkampfparolen sein würden – eine Hoffnung, die sich schon in der Revolution von 1905 als falsch erwies. Im Deutschen Reich wurde die Zuwanderung der polnischen und westrussischen Saisonarbeiter durch eine strenge Polizeigesetzgebung erschwert, die erzwang, dass die Arbeiter zum Jahresende das Land wieder zu verlassen hatten; die Ansiedlung reichsdeutscher Polen aus Oberschlesien und Posen z. B. im Ruhrgebiet konnte aber nicht eingeschränkt werden – hier versuchte die Regierung, die Vereine zu kontrollieren (z. B. durch ein Verbot des Polnischen als Vereinssprache) In Österreich wurden durch das „Heimatgesetz“ von 1863 die Bürger an den Herkunftsort festgeschrieben; sie konnten dorthin abgeschoben werden, wenn sie auffällig wurden oder der Gemeinde zur Last fielen; in Wien waren 1900 nur 38 % und in Prag sogar nur 20 % der Anwesenden heimatberechtigt.

Die konservativen bzw. zunehmend nationalistischen Regierungen Osteuropas versuchten vor dem Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weise, die mit der Industrialisierung zusammengehende Bildung neuer städtischer Zentren zu kontrollieren. In Russland gab es z. B. 1897 36 große Dörfer mit mehr als 10.000 Einwohnern, die kein Stadtrecht hatten. Formaljuristisch wurde so das Bild geschaffen, dass die polnische Bevölkerung Ostdeutschlands, die tschechische Wiens und Prags oder die bäuerliche Einwohnerschaft Moskaus deutlich geringer war, als jede Zählung der Anwesenden (zumindest während der Saison) ergeben hätte. Sozialpolitisch wurde ermöglicht, soziale Kosten (v. a. bei Krankheit und Alter) den Herkunftsorten aufzudrücken. Machtpolitisch konnten die Zuwanderer von lokaler Mitbestimmung ferngehalten und in der Organisation von Arbeiterbewegungen behindert werden (durch das Auseinanderfallen von Wohnsitz und „Heimat“ oder Dorf) sowie die Kontrolle der Vereine. Intellektuell ergab sich die Möglichkeit, aus der Realität rasanter sozialer und ökonomischer Veränderungen in eine Scheinwelt von Kontinuität zu entfliehen, die dann durch Vorurteile gegen „Polacken“ oder „Bauern“ immunisiert wurde; ähnlich, dem Verhalten der Holländer gegenüber der Zuwanderung aus Deutschland vom 17. bis ins 19. Jh. Die Kontrolle der Pull- und Push-Faktoren in der Arbeitsmigration lag in beiden Fällen ganz in der Hand der Zentren. Die Vorteile wirkten zusammen, um die Zentren der „belle epoque“ auf Kosten der Peripherien zu bevorzugen.

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4 Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg

In den Friedensschlüssen zwischen 1911 und 1921 wurde Ostmitteleuropa, der Raum zwischen Berlin und Wien sowie Reval, Bukarest und Athen neu strukturiert. Eine lange Kette relativ kleiner Staaten zwischen Finnland und Griechenland trat an die Stelle der geschlagenen vier Imperien, und je nach der politischen Stärke und den Zielen, die im Konzert der Mächte durchgesetzt wurden, erhielten die neuen Staaten Grenzen, welche manchmal historisch, manchmal ethnisch und manchmal strategisch, aber nie ökonomisch begründet wurden; die Grenzen der neuen Nationalstaaten durchschnitten vielmehr alte Wirtschaftsräume mit bestehenden Zentren und Peripherie-Verhältnissen, wie den Raum der Zuwanderung nach Wien oder das Absatzgebiet des Textilindustrie von Lodz. 1910 waren 26 % der polnischen Textilwaren in der heutigen Ukraine sowie 16 % in Sibirien und nur 36 % im Königreich selbst verkauft worden. Alle neuen Nationalstaaten bauten eine Bürokratie und einen Militärapparat auf, der ganz überwiegend in der jeweiligen Hauptstadt saß; alle förderten die einheimische Industrie – meist versuchten sie, wenigstens eine nationale Textilindustrie aufzubauen – die in wenigen Inseln über das Land verteilt war. Zwischen 40 % (Tschechoslowakei) und 80 % (Jugoslawien) der Bevölkerung lebten auf dem Land, während es in Nordwesteuropa etwa 10 % waren. Eine Modernisierung der Landwirtschaft hätte eine massive Abwanderung der Landbevölkerung vorausgesetzt, aber für diese Menschen gab es keine industriellen Arbeitsplätze. So stieg in fast allen Ländern die agrarische Überbevölkerung – es lebten viel mehr Menschen dort, als selbst bei einem niedrigen Produktionsniveau auf den Höfen Arbeit finden konnten. Zugleich wurden die grenzüberschreitenden Migrationen unmöglich – in Südosteuropa durch die Zerschneidung der Habsburger Monarchie, zwischen Deutschland und Polen durch die Krise in Deutschland und in die USA durch die Einwanderungsgesetze, welche den Anteil der Zuwanderung von Menschen aus Ostmitteleuropa (und insbesondere den der Juden) beschränken sollten (mehr als 51.000 Einwanderer aus Deutschland und 28.567 aus Irland waren erlaubt, aber nur 5982 aus Polen, 2248 aus Russland und 100 aus Bulgarien). Der Stopp der Westmigrationen für Ostmitteleuropa machte unmissverständlich klar, dass das Zentrum die Bedingungen festlegte und in einer schwierigen Zeit die Zuwanderung einschränkte.

Die statistischen Daten erlauben eine Schätzung des Brutto-Sozial-Produkts je Kopf je Nation lagen 1929 Belgien, die Niederlande und Großbritannien bei über 1000 US-Dollar, Rumänien, Jugoslawien und Rumänien bei unter 350 US-Dollar, also etwa einem Drittel. Das allgemeine West-Ost-Einkommensgefälle setzte sich als inneres Gefälle in den Staaten fort, besonders krass in der Tschechoslowakei zwischen Egerland und der Karpato-Ukraine, deutlich aber auch in Polen, wo man zwischen Polen A (westlich der Warthe), B und C (östlich des Bug) unterschied. Nimmt man den Zugang zu primärer Bildung als Indikator, dann reicht das Gefälle von 1,5 % Analphabeten im polnischen Teil Schlesiens bis zu 50 % in den Distrikten Pinsk und Luck östlich des Bug. In Jugoslawien wird das West-Ost- von einem Nord-Süd-Gefälle überlagert, das ohne die Situation der kulturellen Eroberung der muslimischen Länder nicht zu erklären ist, in Bosnien z. B. lag die Analphabetenrate noch 1948 bei 45 % (sicher hatten mindestens alle Jungen Koranarabisch gelernt, aber das wurde von der staatlichen Statistik nicht abgefragt).

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Die Sowjetunion reproduzierte in der Wiederaufbauphase die ererbten Disparitäten der Zarenzeit, setzte sich aber in den ersten Fünfjahresplänen das Ziel, das gesamte Land auf den industriellen Standard der entwickelten Länder des Westens zu bringen. Dazu sollten neue Industriekombinate an den Standorten errichtet werden, die v. a. von der Rohstoffausstattung her günstig waren; neben den Donbas trat der Aufbau einer Stahlindustrie im Ural auf Kohlekoksbasis, wobei der Koks aus dem „Kuznecker Kohlerevier“ (Kuzneckij bassejn, Kuzbas) in Westsibirien kam. Die Arbeitskräfte sollten aus ideologischer Motivation (mit religiösen und magischen Obertönen) freiwillig an die neuen Arbeitsplätze gehen (Magic Mountain); aber besonders an den Peripherien des Imperiums gewann Zwangsarbeit eine strukturelle Bedeutung. Die UdSSR hat von Anfang an (Umsiedlung der Terek-Kosaken 1919/20) Zwangsumsiedlung für ein legitimes Instrument ihrer Politik gehalten und 1927 hat man in der KPdSU darüber diskutiert, ob man von jenen 13,5 Mio. Bauern, die wegen der agrarischen Überbevölkerung nicht genug Arbeit hatten, nicht 7,5 Mio. zwangsweise umsiedeln solle. Im Kontext der Zwangskollektivierung wurden ab 1930 in der Tat etwa 2,5 Mio. Großbauern (sog. Kulaken) an die Peripherien umgesiedelt.

Zum Hintergrund der stalinistischen Zwangskollektivierung gehörte der kulturelle Hochmut von Intellektuellen der ersten Generation von Städtern, welche sich desto deutlicher vom Landleben distanzierten. Die sowjetische Regierung hat deshalb nicht interveniert und vorhandene Vorräte nicht zur Verfügung gestellt, als es 1932 in den Getreidegebieten der UdSSR zu einer Hungersnot kam, der über 6 Mio. Menschen zum Opfer fielen. Dieses Verhungernlassen spiegelt die Machtverhältnisse zwischen dem Moskauer bürokratischen Kopf der Union und den abgelegenen Feldern der Ukraine oder am Don vielleicht am deutlichsten wider: man entschied in Moskau, wie man in der Ukraine verfahren sollte.

Das Deutsche Reich wollte nach 1933 Osteuropa bewusst zu einem „Wirtschaftsergänzungsraum“ zurückentwickeln: die Region sollte Rohstoffe für die Industrie Deutschlands liefern; an erster Stelle agrarische Produkte, aber selbstverständlich auch Industrierohstoffe wie Erdöl aus Rumänien, Kupfer aus Jugoslawien oder Aluminium aus Ungarn. In der Region nicht beschäftigte Arbeitskräfte sollten als billige Saisonarbeiter ins Reich kommen, um dort die groben und schlecht bezahlten Arbeiten zu erledigen. Während des Krieges wurden solche Ideen teilweise schon in die Realität umgesetzt. Kamen aus den verbündeten Staaten Südosteuropas geworbene Arbeiter, so wurde für die unterworfenen Länder, Polen und die besetzten Gebiete der UdSSR, eine regelrechte Arbeitspflicht eingeführt. Ende 1944 arbeiteten 8,2 Mio. ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene in der Wirtschaft des Dritten Reiches – neben 23 Mio. Deutschen und 700.000 KZ-Häftlingen, von denen viele ebenfalls Ausländer waren, denn wenn ein „Ostarbeiter“ sich auch nur wenig zuschulden kommen ließ, kam er schnell in ein KZ . Osteuropa sollte Deutschland aber auch für die Realisierung der negativen Utopie dienen, der Verstädterung Deutschlands eine agrarische Peripherie als rassischen Jungbrunnen entgegenzusetzen. Um den „leeren Raum“ für eine solche landwirtschaftliche Siedlung zu schaffen, wurde häufig die jüdische und slawische Bevölkerung ermordet. Und erst in der Peripherie verlor der antisemitische Mordwille der Nationalsozialisten so sehr jede Rücksicht, dass der Plan des vollständigen Genozids gefasst und in den Vernichtungslagern in Polen sowie den systematischen Massakern in der UdSSR auch realisiert wurde.

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5 Nachkriegszeit

Die Nachkriegszeit war in Ostmitteleuropa grundsätzlich durch die Leere gekennzeichnet, welche der deutsche Genozid am jiddischen Volk hinterlassen hat. Letzte jüdische Rückkehrer aus den KZ wurden von der Bevölkerung, welche sich Häuser und Gärten oft schon angeeignet hatte, vielfältig als Kommunisten verdächtigt und ebenfalls zur Ausreise gedrängt. Mit den Ostjuden war eine Bevölkerungsgruppe vernichtet, welche durch ihre kulturelle Distanz zur jeweiligen nationalen Kultur, ihre dem Deutschen nahe Sprache und ihre weltweiten Beziehungen auch in der Provinz Anknüpfungspunkte zur Rezeption der globalen Veränderungen geboten hatte. Nach den Juden wurden die Deutschen aus Ostmitteleuropa vertrieben, sowohl aus den Polen und der UdSSR zugesprochenen überwiegend deutsch besiedelten Gebieten östlich der Oder und dem Sudetenland, als auch aus den deutschen Siedlungsinseln bis nach Siebenbürgen oder Lemberg. Drittens wurde zwischen der UdSSR und Polen ein Austausch von Minderheiten vorgenommen. Die meisten Staaten Ostmitteleuropas waren homogenisiert worden und ethnische Besonderheiten aus Hauptstadt oder Provinz waren zwischen 1939 und 1946 verschwunden; sowohl solche, bei denen eine ethnische Gruppe in der Wirtschaftsstellung und Einkommen über dem Durchschnitt lag (etwa der baltendeutsche Adel, der 1939 „heim ins Reich“ kam oder die jüdischen Fabrikanten von Lodz, welche bis 1943 ermordet wurden), als auch solche, die ärmer waren als der nationale Schnitt – etwa die Roma in den von Deutschen besetzten Gebieten, die bis 1943 ermordet wurden oder die ukrainischen Bauern des Chelmer Landes, welche 1946 umgesiedelt wurden.

In allen Staaten Europas wurde im Kontext des Kalten Krieges die Sozialverfassung des jeweiligen Eroberers durchgesetzt; in den von sowjetischen Truppen besetzten Ländern die sowjetische Form des Monopolsozialismus, aber in der regionalen Form der „Volksdemokratien“ mit einem – wenn auch weithin formalen – Mehrparteiensystem. Gleich ob die in den „antifaschistischen Volksfronten“ zusammenarbeitenden sozialdemokratischen und kommunistischen Gruppen einen großen Teil der Bevölkerung – wenn nicht die Mehrheit – repräsentierten wie in der Tschechoslowakei oder ob sie nur für eine Minderheit standen, wie in Polen – die neuen Regierungen nutzten ihre Macht zu Versuchen, nicht nur die sozialen, sondern auch die regionalen Unterschiede mit den Instrumenten der Planwirtschaft auszugleichen.

In Polen setzte die Vereinigte Arbeiterpartei sich (nach der Wiederaufbauphase) im Sechsjahresplan (1950– 55) das Ziel, im Rahmen der sozialistischen Industrialisierung des gesamten Landes eine gleichmäßigere Verteilung der Industrie zu erreichen. Wirklich stieg die Industrieproduktion um 70 % und die der Landwirtschaft um 13 %. 1960 erreichte der Grad der Verstädterung in Polen erstmals die Hälfte der Bevölkerung. Die Industrieprojekte in den Gebieten östlich der Weichsel scheiterten jedoch, während die neuen Betriebe zwischen Warthe und Weichsel tatsächlich errichtet wurden (Nowa Huta bei Krakau und das neue Industriezentrum Konin). Die folgenden Fünfjahrespläne reagierten darauf, dass Investitionen in den schon bestehenden Industriegebieten deutlich effektiver waren. Zwar stieg der Anteil der Industriearbeiter Ostpolens an der Industrie-Arbeiterschaft des Landes auf 20 %, indem die große agrarische Überbevölkerung abgebaut wurde; der Anteil des zentralen Industriegebiets Oberschlesien allein stieg jedoch auf 29 %. Da die Effektivität auch der Landwirtschaft in Ostpolen unterdurchschnittlich blieb, blieben die Einkommen zurück und erneut wurde das Land in Polen A (die ehemaligen deutschen Ostgebiete), B (zwischen Warthe und Weichsel) und C oder „die östliche Wand“ aufgeteilt.

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In der DDR entsprach der Wille zur Entwicklung der größten ererbten inneren Peripherie, Mecklenburg, dem strategischen Wunsch nach einem Überseehafen für Schiffe mit großem Tiefgang und damit einem von Hamburg unabhängigen Zugang zum Welthandel. Außerdem war die Ostseeküste eine der internen Tourismusmöglichkeiten des Landes, die also keine Devisen kosteten. Mecklenburg profitierte von dieser Situation sowohl in puncto Industrieproduktion wie auch Zuwanderung, auch wenn die volkswirtschaftlichen Kosten der Entwicklung der Ostseeküste vielleicht hoch waren.

In Jugoslawien wurde die Umverteilungspolitik v. a. zugunsten des armen Südens eingesetzt, nicht zuletzt von Bosnien, wo zwischen 1966 und 1975 22,7 % der Investitionen aus dem jugoslawischen Bundesentwicklungsfonds stammten. Das hatte auch strategische Gründe – in Bosnien gibt es zwar kleine, aber vielfältige Bergbaustandorte, es galt als verteidigungsfähig und wurde zum Rüstungszentrum der Republik. Allerdings wurde Bosnien in vielen Sektoren zum Rohstofflieferanten für Fertigwaren aus anderen Republiken der Föderation.

Die politischen Grundrichtungen der UdSSR unterschieden sich in mehreren Hinsichten von denen der Volksrepubliken. Hier war – jenseits der Grenzen deutschen Vormarsches – weiterhin eine große jüdische Gemeinde vorhanden, die in der KPdSU und den akademischen Berufen (gemessen an ihrer Zahl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung) stets überrepräsentiert blieb, auch wenn es viel subkutanen Antisemitismus gab und viele Juden nicht Berufe ergreifen konnten, die ihrer Begabung entsprachen. Anders als in Ostmitteleuropa wurden die Russlanddeutschen nicht vertrieben, sondern zur Arbeit eingesetzt – die periphere Situation dieser Ethnie im sowjetischen Vielvölkerreich wurde durch das Verbot, an die alten Siedlungsplätze zurück zu kehren, auch gesetzlich festgeschrieben. In der Religionsausübung waren sowohl Juden wie Deutsche eingeschränkt; jiddische und deutsche Grundschulen gab es fast nicht mehr – Russisch wurde immer mehr zur Umgangssprache der beiden Minderheiten. Die UdSSR versuchte lange, die Auswanderung von Juden und Deutschen zu verhindern.

Das wichtigste ökonomische Raum-Problem der UdSSR – nach dem Wiederaufbau – war die Entwicklung der Rohstoffvorkommen in Taiga und Tundra, besonders in Sibirien. So lange über das Lagersystem politische Gefangene, Angehörige „bestrafter Völker“, Kriminelle oder Kriegsgefangene gezwungen werden konnten, auch in klimatisch ungünstigen Gebieten Kohle, Gold oder Erdgas zu fördern, konnten genug Arbeitskräfte herangeschafft werden. Obgleich nicht wenige Lagerinsassen auch nach der Freilassung in dem Gebiet wohnen blieben, geriet die Arbeitskräfteversorgung ins Stocken, sobald das Lagersystem beendet wurde. Trotz überdurchschnittlicher Löhne bestand für die sibirischen Förderstätten stets Arbeitskräftemangel und v. a. gelang es nie, die Angehörigen zentralasiatischer Republiken (wo es versteckte Arbeitslosigkeit gab) dazu zu bewegen, ihr kulturelles Milieu zu verlassen und z. B. aus Taschkent nach Norilʹsk zu ziehen.

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Fraglos bildete Zentralasien eine innere Peripherie der UdSSR, nicht nur wegen der versteckten Arbeitslosigkeit. Die fünf Republiken zwischen Kirgisien und Turkmenistan bildeten einmal ein muslimisches und bei aller Säkularisierung des Sowjetsystems damit gegenüber den Russen eigenes Milieu, das weniger in offenen Bekenntnissen zum Islam als im Festhalten an Traditionen (wie etwa dem Brautkauf) deutlich wurde. Die periphere Situation der zentralasiatischen Republiken wird aber nicht nur in Nachrichten über Lebensformen (›byt‹), sondern auch in den offiziellen Statistiken deutlich. In Zentralasien gab es die geringsten Grade an Verstädterung und die wenigsten Wissenschaftler je Nation innerhalb der UdSSR, die Nationen muslimischen Milieus hatten aber deutlich höhere Nachwuchsraten. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der UdSSR stieg, während jener der Russen (und der anderen Slawen) sank. Der Anteil der zentralasiatischen Republiken am Nettomaterialprodukt der Union lag je Einwohner 1965 jedoch nur bei der Hälfte und 1989 bei einem Drittel der Daten für Lettland, Estland und Russland – den produktivsten Republiken. Die sozialökonomische Differenz innerhalb der UdSSR erweiterte sich also; auch hier führte der Versuch, mehr regionale Gleichheit herzustellen, nur zu begrenzten Erfolgen – einerseits waren Lebensniveau, Hygiene und Schulbildung höher als im südlich angrenzenden Afghanistan oder Persien, andererseits vergrößerte sich der Abstand zum Westen der Union.

Noch schärfer als die offiziellen Statistiken dies für die nordasiatische Fortsetzung des West-Ost-Gefälles verdeutlichen, war allerdings das Stadt-Land-Gefälle innerhalb Russlands. Die offiziellen Statistiken erlauben den Schluss, dass ein Kolchosbauer ca. ein Fünftel des Rubeleinkommens eines Professors oder ein Zehntel eines Akademiemitglieds bzw. Marschalls hatte. Die indirekten Vorteile der Nomenklaturposten – der Zugang zu Sonderläden, zu Ferienplätzen, zu Auslandsreisen usw. – sind dabei nicht mitberechnet. Die Wohnsituation war völlig unterschiedlich – zwar gab es in den meisten Dörfern in der Nachkriegszeit Elektrizität, aber noch 1980 lag der Anteil der Wohnungen mit fließendem Wasser, Kanalisation und Zentralheizung in der Provinz bei rd. 10 %, während er in den Städten bei über 80 % lag. Zwar gab es vom Kolchos oder Sowchos gebaute Mehrfamilienhäuser, aber das typische dörfliche Haus war ein Blockhaus (›izba‹) mit 40–50 m² Wohnfläche, zunehmend jedoch mit einem hohen Mast für den Fernsehempfang. Die Nachteile des Lebens auf dem Dorf wurden vermehrt, weil die Verkehrsanbindung oft schlecht war, man noch weniger Informationen erhielt und weniger Chancen hatte, der schweren täglichen Arbeit auf den Kolchosen zu entkommen. Hinzu kam, dass der durchschnittliche sowjetische Schüler nicht nur die Mittelschule absolvierte, sondern auch studieren konnte, wenn er die Aufnahmeprüfung einer Hochschule bestand. Zwar waren die Lebensbedingungen in den studentischen Gemeinschaftswohnungen (in deren Zimmern stets mehrere Studenten bzw. Studentinnen zusammen lebten) armselig, aber dafür war man der Kontrolle des Dorfes und dem täglichen Besuch auf dem Plumpsklo entkommen. Wer konnte, blieb nach dem Studium in der Stadt. Die Dörfer, die schon die Hauptlast der Verluste des Weltkriegs getragen hatten, entvölkerten sich zusehends und vorwiegend die Alten blieben zurück – v. a. die alten Frauen.

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6 Transformationsperiode

Der Zusammenbruch des Monopolsozialismus führte allgemein zu Erweiterungen im Auseinanderklaffen zwischen Z. u. P. Wo eine zentralistische Bürokratie versucht hatte, die Differenzen klein zu halten, suchte der neoliberale Kapitalismus der Transformationsperiode nun jede Schwäche zu nutzen, um privatwirtschaftliche Gewinne zu machen. Regionale „Rückständigkeit“ war eine solche, gleich ob sie bestand, weil sie in der sowjetischen Zeit nicht überwunden werden konnte oder weil diese Schwäche Teil der sowjetischen Form der Industrialisierung gewesen war.

In Ostmitteleuropa war das Ergebnis der Transformation eine deutliche Minderung des Bruttosozialprodukts der beteiligten Länder, viele Industriebetriebe mussten schließen und viele andere gingen mit Entlassungen in westliche Hände über. Die Arbeitslosenzahl stieg und eine Hyperinflation zerstörte in kurzer Zeit die bescheidenen Ersparnisse der einfachen Menschen. Man kann dies eine „periphere EU-Integration“ nennen; da die politische Selbständigkeit jedoch gewahrt wurde, scheint der Terminus „Halbperipherie“ nach wie vor der aussagekräftigste – die ostmitteleuropäischen Länder sind ökonomisch auf das Zentrum bezogen, aber nicht politisch von ihm abhängig und können außenpolitisch gegen die europäischen Schwergewichte agieren. Sie können dagegen angehen, dass Zentrumsländer wie Deutschland ihre Arbeits- und Dienstleistungsmärkte gegen Konkurrenz aus den neuen Ländern ababzuschotten, sie können also auf die Push- und Pull-Faktoren der Arbeitsmigration Einfluss nehmen. Die Zuwachsraten der letzten Jahre waren gut, wenn auch kein Land bisher das Niveau von 1989 wieder erreicht hat. Der Blick auf die Statistiken der EU für 1999 zeigt vielmehr, dass die Differenz zwischen den reichsten und den ärmsten Regionen 10:1 beträgt und alle neuen Mitglieder außer Tschechien und Slowenien weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Brutto-Inlands-Produkts des Europa der 15 aufbringen.

Auch in Russland ging die Transformation mit einer Halbierung des BSP, Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit sowie De-Industrialisierung einher. Zugleich entstand eine kleine Schicht von Superreichen, von denen einige ihr frisch erworbenes Kapital ins Ausland brachten – während die breite Masse der Bevölkerung sehr schell verarmte. Da Russland Großmacht blieb, wird man es ebenfalls als halbperipher einstufen können – es war auch bisher in der Lage, den Zugriff westlicher Firmen auf die wichtigsten Rohstoffe des Landes (Erdöl, Erdgas) zu verhindern.

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Aber nicht nur die sozialen Differenzen zwischen Oben und Unten nahmen in der Transformationsperiode in ganz Osteuropa zu, sondern auch die Differenzen zwischen den Regionen. In Russland stiegen die Differenzen zwischen Hauptstadt und Peripherie durch Abwanderung aus dem Norden und Osten, wo Militärbasen abgebaut wurden und die Holzproduktion mechanisiert wurde sowie durch Abwanderungen aus ethnisch unruhigen Gebieten in die großen Städte, besonders Moskau. Die Beobachtung von 1993, dass die ehemalige DDR sich insgesamt zu einer inneren Peripherie Deutschlands entwickelte, wurde trotz riesiger Subventionen bestätigt – mit der einzigen Ausnahme Sachsens. Mecklenburgs Rolle für die DDR als Konkurrenzregion zu Hamburg wurde aufgegeben, ein eigener Wirtschaftskreislauf entstand nicht und die jungen Leute wandern ab. Innerhalb Polens sackte die „östliche Wand“ Polen C weiter ab – von der Ostsee bis zur Tatra zieht sich östlich der Weichsel ein langer Streifen von Bezirken mit erhöhter Arbeitslosigkeit und geringerem Einkommen. Auch die Hauptstadt-Provinz-Distanz wird bestätigt – nimmt man den Durchschnittsanteil am Bruttosozialprodukt der EU als 100, dann lagen Bratislava und Prag, Warschau und Budapest 1996 mindestens 20, manchmal 40 Punkte über dem jeweiligen Landesdurchschnitt.

Die peripheren Regionen innerhalb der EU können auf Mittel aus dem regionalen Ausgleichsfonds hoffen und die politische Ebene der Regionen, in Deutschland der Länder, gibt die Möglichkeit zur Entwicklung regionaler Eliten. Auch in Russland gibt es Programme zur Unterstützung armer Regionen und bietet die Föderalisierung Voraussetzungen für das Entstehen regionaler Establishments von Kultur und Politik in den Provinzen. Sowohl in der EU wie auch in Deutschland ist der regionale Ausgleich zwischen den Regionen sogar von der Verfassung vorgeschrieben und es werden große Mittel zur Entwicklung der ostdeutschen Länder aufgebracht. Welche Steuerungskraft staatliche – fiskalische – Instrumente besitzen, bleibt allerdings offen; die Mittel aus dem deutschen „Solidarfonds“ haben bisher noch nicht bewirken können, dass die Ost-West-Migration innerhalb Deutschlands beendet wird – im Gegenteil, diese Migration wird durch eine, wenn auch teilweise illegale, Migration aus Osteuropa in den Westen sozusagen unterfüttert. Das legt den Schluss nahe, dass die Peripherisierung bestimmter Regionen andauert oder sogar ansteigt.

Aldcroft D. H., Morewood S. 1995: Economic Change in Eastern Europe since 1918. Aldershot. Becker J., Komlosy A. (Hg.) 2004: Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich (= Historische Sozialkunde/ Internationale Entwicklung 23). Wien. Berend T. I., Ránki G. 1982: The European periphery and industrialization 1780 – 1914. Cambridge. Brakensiek S., Flügel A. (Hg.) 2000: Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert (= Forschungen zur Regionalgeschichte 34). Paderborn. Feldbauer P., Liedl G., Morrissey J. (Hg.) 2001: Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion. Wien. Goehrke C. 2003 – 2005: Russischer Alltag. 3 Bde. Zürich. Hösch E. 1999: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München. Hofbauer H. 2003: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien. Hroch M., Klusáková L. (Hg.) 1996: Criteria and Indicators of Backwardness. Essays on uneven Development in European History. Prag. Jasienica P. 1992: Rzeczpospolita Obojga Narodów. 3 Bde. Warszawa. Lampe J. R., Jackson M. R. 1982: Balkan Economic History, 1550-1950. From Imperial Borderlands to Developing Nations. Bloomington, Ind. Nolte H.-H. u. a. (Hg.) 1991 – 2001: Innere Peripherien. 3 Bde. Göttingen/Stuttgart. Regionen. Statistisches Jahrbuch der EU 2001.

(Hans Heinrich Nolte)

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