Alphabetschriften

Alphabetschriften

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

Das Alphabet ist die spezialisierteste aller Schreibtechnologien, die im Verlauf der Jahrtausende alten Schriftgeschichte ausgebildet worden sind. Das Schreibprinzip, das allen A. zugrunde liegt, ist die Eins-zu-Eins-Entsprechung von Schriftzeichen und Sprachlaut. Ein Zeichen (Buchstabe) entspricht jeweils einem Einzellaut (im Gegensatz zu Silbenschriften, wo ein Schriftzeichen die Kombination mehrerer Einzellaute wiedergibt). Das Ursprungsgebiet der Entstehung von A. liegt im Nahen Osten. Von dort ist die Kenntnis dieser Schreibtechnologie um die Wende vom 2. zum 1. Jt. v. Chr. ins südliche Europa gelangt.

Im östlichen Europa sind seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden A. verwendet worden. Von diesen hat das griechische Alphabet die längste Geschichte (s. Abb.1). Die Vielfalt der Funktionen, für die Schrift eingesetzt worden ist, hat zur Ausbildung verschiedener Schreibstile geführt. Deren Variantenreichtum ist vielleicht im Fall des Griechischen am größten. Im Anfang herrschte die Lapidarschrift vor, die sich im 6. Jh. v. Chr. in die Capitalis ausgliederte. Spätere Schreibstile waren die Unzialschrift, die die westgotische Schrift und die koptische Schrifttradition in Ägypten geprägt hat. Seit dem 3. Jh. v. Chr. wurde auch eine griechische Kursive verwendet, deren Spätform die Minuskelschrift des 1. Jh. ist.

Die älteste Alphabetschrift, die diakritische Zusatzzeichen verwendete, war die griechische (Spiritus asper, Spiritus lenis). Die meisten modernen Alphabete im östlichen Europa verwenden diakritische Zusatzzeichen, und zwar z. T. in beträchtlichem Umfang wie bspw. das lateinische Alphabet zur Schreibung des Litauischen. Durch ihre Vielfalt an Diakritika unterscheiden sich diese Schriften von den westeuropäischen, wo die Zahl der verwendeten Diakritika (z. B. im Spanischen oder Französischen) deutlich geringer ist.

Die diakritischen Zusatzzeichen in den Alphabetschriften des östlichen Europa sind spezifisch für lokale Schriften und erfüllen jeweils konventionell festgelegte Funktionen. So wird etwa die Länge von Vokalen im Lettischen durch einen horizontalen Strich über dem Vokalzeichen markiert. Im Ungarischen dagegen erfüllt die gleiche Funktion ein Akutakzent. Das finnische Schriftsystem weicht von allen anderen östlichen Alphabeten auf der Basis der Lateinschrift dadurch ab, dass es keinerlei Diakritika verwendet. Die Länge von Vokalen und Konsonanten wird im Finnischen durch Doppelschreibung markiert (rakas „lieb“ versus raaka „roh“).

Die Variante des kyrillischen Alphabets, mit dem das Russische geschrieben wird, kommt ohne diakritische Zusatzzeichen aus. Dagegen findet sich eine Vielfalt von Diakritika in den Alphabeten auf der Basis der Kyrilliza, in denen die nichtrussischen Sprachen Russlands verschriftet worden sind (z.B. Mordwinisch, Komi-Syrjänisch, Baschkirisch).

Anfang

2 Die Anfänge des Experimentierens mit Alphabetschriften in Europa

Die Anfänge des Experimentierens mit der phönizischen Alphabetschrift im europäischen Osten liegen im 9. Jh. v. Chr. Die ältesten Schriftzeugnisse sind aus dem 8. Jh. v. Chr. erhalten. Noch vor wenigen Jahren war über das Kulturmilieu wenig bekannt. Inzwischen weiß man weitaus mehr und es ist auch eine Identifizierung der Herkunftsquelle für diejenigen Buchstaben im griechischen Alphabet gelungen, die eindeutig nicht aus dem phönizischen Alphabet abgeleitet sind.

Immer noch weit verbreitet ist das Vorurteil, dass die griechische Gesellschaft schriftlos war, als die Phönizier ihre Schreibtechnologie nach Europa exportierten. Dies trifft nicht zu. Die Zeit ohne Schriftgebrauch war tatsächlich nur auf dem griechischen Festland „dunkel“. Dort wurde nach dem Zusammenbruch der mykenischen Macht das Griechische zwischenzeitlich nicht geschrieben, allerdings wurde das Griechische (in kyprisch-syllabischer Schrift) in den Jahrhunderten bis zur Einführung der Alphabetschrift in den Kulturzentren der mykenischen Emigranten auf Zypern geschrieben.

Insofern ist der Aufbruch in die am Alphabet orientierte Schriftlichkeit bei den Griechen nicht in einem schriftlosen Milieu erfolgt. Vielmehr war die aktive Kenntnis zumindest eines altägäischen Schriftsystems (kyprisch-syllabisch) verbreitet. Das kulturelle Gedächtnis derjenigen, die Griechisch in der kyprisch-syllabischen Schriftart schrieben, könnte auch von der Erinnerung an ältere Silbenschriften der Region geprägt gewesen sein. Lebendig war eine solche Erinnerung nachweislich auf Kreta, wo sich zu Beginn des 1. Jt. v. Chr. die günstigsten Bedingungen für eine Modernisierung der Schreibtechnologie finden.

Anfang

3 Die griechisch-minoische Kultursymbiose und die Entstehung des „griechischen“ Alphabets

Kreta war um die Wende vom 2. zum 1. Jt. v. Chr. eine wirtschaftliche wie kulturelle Drehscheibe, wo nahöstliche Einflüsse mit ägäischen Traditionen zusammentrafen. Die Insel lag auf der nördlichen Handelsroute phönizischer Kaufleute, die von den Seehäfen an der Ostküste des Mittelmeers in die Ägäis und weiter zum griechischen Festland fuhren. Im 10. Jh. v. Chr. intensivierten sich die Handelskontakte zwischen den phönizischen Städten und Kreta. Aus jener Periode stammt auch der älteste Fund einer phönizischen Inschrift auf Kreta, der gleichzeitig das älteste Zeugnis für die Alphabetschrift im gesamten griechischen Kulturkreis der damaligen Zeit ist.

Die dorische Invasion Kretas in der nachmykenischen Ära hatte keine rasche Assimilation der einheimischen Bevölkerung zur Folge. Das Eteokretische, eine Spätform des Minoischen, hielt sich noch Jahrhunderte und ging endgültig erst in der hellenistischen Periode unter. Auch gibt es Indizien dafür, dass die altkretischen Schriftsysteme (die Linearschriften) nicht vollständig in Vergessenheit geraten waren, selbst wenn damit nicht mehr geschrieben wurde. Noch aus dem 3. Jh. v. Chr. ist der Gebrauch linearer Schriftzeichen aus Ostkreta bekannt.

Vieles deutet darauf hin, dass diejenigen, die als Erste mit der phönizischen Schrift auf Kreta experimentiert haben, nicht ausschließlich Griechen waren. Vielmehr ist mit einer Kultursymbiose zu rechnen, wo das Kulturschaffen dorischer Griechen und einheimischer Eteokreter in ein bikulturelles und bilinguales Kontaktmilieu eingebettet war. Das vermeintlich rein griechische Alphabet resultiert tatsächlich aus der Kooperation von Vertretern jenes zeitgenössischen bikulturellen Umfelds (griechisch eteokretische Kooperation).

Die altägäische Literalität auf Kreta hinterließ ihre Spuren in dieser schreibtechnologischen Innovation. Zwar ist die Mehrzahl der Buchstaben zur Schreibung des Griechischen aus dem Repertoire phönizischer Buchstabenzeichen adaptiert worden, dies gilt aber nicht für alle Schriftzeichen. Die Buchstaben zur Wiedergabe der Laute [phi], [ksi] und [psi] sind nicht phönizischer Herkunft, und alle Versuche, sie aus irgendeiner der nahöstlichen Schrifttraditionen zu erklären, sind unbefriedigend geblieben.

Anfang

Sichtet man allerdings den Zeichenschatz der altkretischen Linearschriften (Linear A und B), dann lassen sich die griechischen Buchstabenformen leicht identifizieren. Die Kultursymbiose auf Kreta hat also der Alphabetschöpfung ein Zusatzelement vermittelt: Zeichen für die Schreibung von Lauten, die im Griechischen vorkommen, im Phönizischen dagegen unbekannt sind, und für die es auch keine phönizischen Buchstaben gab.

Der Sachverhalt, dass die Zeichen im Bestand der griechisch-eteokretischen Schrift aus verschiedenen Quellen stammen, ist nicht außergewöhnlich. Die meisten A. der Antike sind nicht einheitlich und setzen sich aus Zeichen verschiedener Herkunft zusammen. Diese Technik ist als „Steinbruchprinzip“ bezeichnet worden. Ältere Schriftsysteme werden gleichsam wie ein Steinbruch ausgebeutet.

Einen weiteren Hinweis auf das zweisprachige Kulturmilieu Kretas in der damaligen Zeit vermitteln die ältesten Inschriften in dem neu geschaffenen Alphabet. Diese sind nämlich nicht in Griechisch, sondern in Eteokretisch geschrieben. Allerdings ist auch das Griechische bald in der neuen Schriftart dokumentiert.

Das griechisch-eteokretische Alphabet gliederte sich schon bald in regionale Varianten aus. Neben der archaischen Version, die bis ins 7. Jh. v. Chr. auf Kreta und Thera in Gebrauch war, bildeten sich eine östliche Variante (in Athen und Milet) und eine westliche Variante (das lakonische Alphabet) heraus. Im 4. Jh. v. Chr. setzte sich vielerorts das Alphabet der klassischen Periode (des 6. und 5. Jh. v. Chr.) durch. Schon früh wird das griechisch-eteokretische Alphabet selbst zur Quelle von Schriftsprachen oder Schriften bildenden Sprachen: in Kleinasien (Karisch, Lydisch, Phrygisch, u. a.), in Ägypten (Koptisch) und in Italien (Etruskisch). Der kulturelle Einfluss der Etrusker wiederum hatte weitere Schriftadaptionen für italische Sprachen zur Folge (Lateinisch, Umbrisch, u.a.); (s. Abb. 1).

Wie der Zeichenschatz des griechisch-eteokretischen Alphabets selbst, so rekrutiert sich auch das Buchstabeninventar der abgeleiteten Schriften vielfach aus verschiedenen Quellen. In der karischen Schrift sind Zeichen aus dem Repertoire des westgriechischen Alphabets und der kyprisch-syllabischen Schrift kombiniert. Im koptischen Alphabet gibt es einige Zusatzzeichen demotischer Herkunft, und der Schöpfer der kyrillischen Schrift hat den aus dem Griechischen adaptierten Zeichenschatz durch Buchstaben des hebräischen Alphabets (z. B. das Zeichen zur Schreibung des sch-Lauts) ergänzt.

Anfang

4 Schriftneuschöpfungen und Ableitungen von Alphabetschriften in Osteuropa

Zwischen dem 4. und 14. Jh. sind eine Reihe von A. in Osteuropa entweder neu geschaffen worden oder wurden von der griechischen Schrift abgeleitet. Nach ihrer Entstehung und Ausstrahlung stehen diese Schriftarten in einer bestimmten kulturchronologischen Abfolge zueinander. Dieses Kaleidoskop einheimischer Alphabete wird im Laufe der Zeit durch Kulturimporte aus Asien (die hebräische und arabische Schrift) ergänzt (s. 5.).

Die älteste der Ableitungen ist die westgotische Schrift, in der Texte des religiösen Übersetzungsschrifttums aufgezeichnet wurden. In Osteuropa sind keine gotischen Handschriften überliefert, sondern nur einige spärliche Runeninschriften. Der Missionar und spätere Bischof Ulfila verbreitete im 4. Jh. die christliche Lehre bei den Westgoten in Transsilvanien. Zum Zweck der Übersetzung biblischer Texte schuf Ulfila eine eigene Schriftart, die sich an der zeitgenössischen griechischen Schrift orientierte. Zum Bestand der Zeichen gehörten außer adaptierten griechischen Buchstaben auch einige germanische Runen (z. B. zur Schreibung des o-Lautes).

Im 5. Jh. erlebte die christliche Kultur im Kaukasus den entscheidenden Durchbruch. Zwei einheimische Sprachen (Armenisch und Georgisch) werden verschriftlicht. Die beiden Schriftsysteme sind jeweils originär. Sie sind beide A. mit jeweils eigenem Zeichensatz. Als Schöpfer beider Schriftarten gilt der Armenier Mesrop, der zuerst die armenische, dann die georgische Schrift schuf.

Wie die bisher erwähnten Schriftarten, sind auch die zwischen dem 8. und frühen 12. Jh. verwendeten Kerbschriften, und zwar in einer awarischen und in einer ungarischen Variante, auf lokalspezifische Kulturmilieus begrenzt.

Wesentlich größer ist die funktionale Reichweite der beiden slawischen Schriften, die im Laufe des 9. Jh. entstanden. Die ältere dieser Schriftarten ist die Glagoliza, die zeitlich vor der anderen, der jüngeren Kyrilliza geschaffen wird. Die Zeichen beider Alphabete weisen auf eine Beziehung zur griechischen Schrift. Diese ist im Fall der glagolitischen Schrift wesentlich lockerer, weswegen ihr auch ein gewisser Grad an Originalität zuerkannt werden kann. Die Abhängigkeit der kyrillischen Schrift vom griechischen Vorbild ist wesentlich eindeutiger und enger. Als Schöpfer der Glagoliza ist allgemein Kōnstantinos (gest. 869) anerkannt. Die Urheberschaft der Kyrilliza ist nicht eindeutig. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass Kyrills Schüler Kliment Ochridski die kyrillische Schrift nach dem griechischen Vorbild adaptierte und sie dann nach seinem Lehrer, um diesen zu ehren, benannte.

Anfang

Die glagolitische Schrift war in Makedonien (mit seinem Kulturzentrum Ohrid) und in Bulgarien (mit seinem Kulturzentrum Preslav) vom 9. Jh. bis zum frühen 13. Jh. in Gebrauch. Allerdings dominierte die kyrillische Schrift bereits im Verlauf des 12. Jh. Später besetzte die Glagoliza einige lokal-kulturelle Nischenplätze, wo sie sich noch jahrhundertelang behaupten konnte: Sie wurde zur Aufzeichnung liturgischer Texte in Serbien und Bosnien, vom 14. bis 16. Jh. auch in Böhmen und im südlichen Polen verwendet.

Am längsten blieb die Glagoliza in Kroatien lebendig, wo Texte in dieser Schriftart noch im 19. Jh. aufgezeichnet wurden. Zwar verschwand sie im 17. Jh. endgültig aus dem öffentlichen Gebrauch und blieb seither auf die Kirchenadministration und das liturgische Schrifttum an der Küste und auf den Adriainseln beschränkt, in der Spätphase wurden aber noch Messbücher in Venedig, Rom und Tübingen gedruckt. Das letzte dieser Messbücher erschien im Jahre 1893 in Rom.

Die kyrillische Schrift setzte sich bereits im Verlauf des Mittelalters gegen die andere slawische Schrift durch und dominiert seither die Schriftkultur in den Regionen Osteuropas, wo sich das östliche, orthodoxe Christentum in regional-nationalen Varianten behauptete, d. h. in Bulgarien, Serbien und in den ostslawischen Regionalkulturen. Seine größte Erweiterung erlebte die kyrillisch geprägte Schriftkultur im zaristischen Russland und später in der Sowjetunion in einem kontinuierlichen Prozess der Verschriftung von Dutzenden nichtrussischer Sprachen seit dem 18. Jh.

Im Zuge der Ausweitung ihres Funktionsbereichs musste sich die kyrillische Schrift einer Vielzahl von Sprachen, deren Lautstruktur teilweise erheblich von der des Russischen abweicht, anpassen. Das Inventar kyrillischer Buchstaben (unter Einschluss diakritischer Sonderzeichen) ist sukzessive erweitert worden, so dass die Gesamtzahl der in den Sprachen Russlands verwendeten kyrillischen Zeichen um ein Vielfaches größer ist als das Inventar der Zeichen zur Schreibung des Russischen ist (s. Abb. 2).

Die eigenwilligste Schriftschöpfung Osteuropas ist sicherlich die „Abur“-Schrift der Syrjänen (Komi). Der Zeichenschatz setzt sich aus syrjänischen pas-Zeichen (›Tamgas‹ oder Besitzerzeichen) sowie aus Adaptionen griechischer, armenischer und georgischer Buchstaben zusammen.

Noch bevor die Region dem russischen Machtbereich angeschlossen worden war, bemühte sich Stefan von Permʹ († 1396) darum, das Christentum bei den Syrjänen mit bleibender Wirkung zu verbreiten. Stefan schuf ein eigenes Alphabet zur Schreibung des Syrjänischen und übersetzte religiöse Texte von denen im Original nur einige Ikonentexte erhalten sind. Seit dem 17. Jh. wurde Syrjänisch in kyrillischer Schrift geschrieben.

Anfang

5 Schriftimporte ins östliche Europa

Die hebräische Schrift gelangte als Kulturimport auf zwei voneinander unabhängigen Wegen nach Osteuropa. Die eine Einzugsschneise verlief über die Region am Schwarzen Meer. Nördlich des Kaukasus hatte sich im 7. Jh. das Khaghanat der Chasaren konstituiert. Gegen Ende des 8. Jh. soll der Khagan und die Stammesaristokratie zum Judentum übergetreten sein (in der Forschung werden aber auch Datierungen zwischen 720–860 favorisiert). Die Annahme der jüdischen Religion blieb nicht auf die soziale Elite des Reichs beschränkt, sondern verbreitete sich auch bei der einfachen Bevölkerung. Bei den Karaimen, die lange Zeit in einer abgelegenen Region (im Bergland der Krim) siedelten, hat sich die jüdische Religion bis in die heutige Zeit erhalten.

Die andere Einzugsschneise ist das östliche Mitteleuropa und das westliche Russland. Aschkenasische Juden migrierten seit dem 15. Jh. nach Polen und später auch nach Russland. Das Medium der hebräischen Schrift hatte einerseits Geltung zur Schreibung des Hebräischen als Sakralsprache, andererseits wurde damit Jiddisch, die Alltagssprache der Aschkenasen, geschrieben.

Die arabische Schrift hatte sich bereits fest in Westeuropa (maurisches Spanien) etabliert, als sie auch über die Nordroute der Seidenstrasse nach Osteuropa gelangte. Die Berührung der Chasaren mit dem Islam im 8. Jh. blieb ein Intermezzo ohne Langzeitwirkung. Anders war die Situation bei den Wolgabulgaren, die 922 offiziell den Islam annahmen, wodurch das Kulturmilieu der Turkvölker der Wolgaregion durch diesen nachhaltig geprägt wurde. Später verbreitete sich die islamische Lehre auch bei den Krimtataren, bei den Baschkiren im Ural und bei den meisten Turkvölkern des Kaukasusvorlands. Mit dem Islam gelangten arabische Sprache und Schriftkultur nach Osteuropa. Die Verschriftung der Turksprachen (mit Ausnahme des Tschuwaschischen) stand von Anbeginn im Zeichen der Abhängigkeit vom arabischen Alphabet, das bis ins 20. Jh. in Gebrauch war. Im 19. Jh. gab es auch Alphabetisierungskampagnen bei den islamisierten Turkvölkern in der Kaukasus-Region (bei Balkaren, Karatschaiern und Kumüken). Auch das Tschagataische, die Bildungssprache der islamisierten turksprachigen Elite, wurde mit arabischen Buchstaben geschrieben. Die arabische Schrift wurde Anfang des 20. Jh. von den sowjetischen Sprachplanern abgeschafft (s. 6).

Seit dem 15. Jh. verbreitete sich die arabische Schrift auch in den Balkanländern, die dem Osmanischen Reiches angegliedert wurden. Jahrhundertelang war das mit arabischen Buchstaben geschriebene Osmanisch-Türkisch Amtssprache in den von Slawen, Griechen, Rumänen, Albanern und anderen Völkern besiedelten Regionen. Der kulturelle Druck des Islam und der islamischen Schrifttradition zeitigte langfristig auch bei den Einheimischen Wirkung. Das Serbische, Bosnische, Albanische und andere Sprachen wurden zwischenzeitlich im arabischen Alphabet geschrieben. In Bosnien hat die Schreibung des Bosnischen in arabischer Schrift die längste Tradition. Die arabische Schriftadaption für das Bosnische (im 15./16. Jh.) wird ›arebica‹ genannt, das darin verfasste Schrifttum (17.–19. Jh.) nannte man Alhamijado-Literatur (nach dem arabischen Ausdruck für „fremd, nicht-arabisch“).

Anfang

6 Das historische Experiment der sowjetischen Sprachenpolitik

Zu keiner Zeit in der Geschichte des europäischen Kulturschaffens hat es ein staatliches Programm zur Sprachenförderung gegeben, das monumentaler und weitreichender wäre als das in der ehemaligen Sowjetunion. Von den 1920er bis in die 1980er Jahre stand die Entwicklung der Ethnosprachen in der Sowjetunion staatlicher Kontrolle, die teilweise durch rigide Eingriffe den Sprachgebrauch wie auch das Kulturschaffen in den nichtrussischen Kommunikationsmedien lenkte.

Die Schriftsysteme wurden in den ersten Jahrzehnten der sowjetischen Kulturplanung mehrfach umgestellt. Zunächst wurden Anstrengungen unternommen, die Schriftsysteme derjenigen nichtrussischen Sprachen, die bereits in vorsowjetischer Zeit verschriftet waren, auf das lateinische Alphabet umzustellen und somit zu vereinheitlichen (s. Abb.3). Dies betraf in erster Linie die mit arabischer Schrift geschriebenen Turksprachen. Besonderen Auftrieb erhielten die Latinisierungskampagnen durch die Umstellung des Türkei-Türkischen vom arabischen auf das lateinische Alphabet im Jahre 1927. Gegen Ende der 1920er Jahre wurde in Kreisen der Sprachplaner sogar offen über die Vorteile eines möglichen Schriftwechsels auf lateinischer Basis auch für das Russische diskutiert.

Der „Stalinsche Dirigismus“ brachte den Latinisierungstrend zum Stillstand und bewirkte sogar dessen Revision. Innerhalb weniger Jahre wurden die Schriftsysteme erneut umgestellt. Die Lateinschrift wurde zu Gunsten der Kyrilliza gänzlich aufgegeben und nur für diejenigen Sprachen beibehalten, die auf eine historische lateinische Schrifttradition zurückblicken konnten, wie Estnisch, Lettisch, Litauisch. Dies galt für das Estnische, Lettische und Litauische mit ihrer historischen lateinisch geprägten Schrifttradition. Bemerkenswerterweise hat das seit 1991 unabhängigen Aserbaidschan seit 1993 wieder in zur Lateinschrift geschrieben zurückgefunden.

Keine andere der mehr als 70 Schriftsprachen, die während der Sowjet-Ära verwendet wurden, hat in so kurzer Zeit so viele Schriftwechsel erlebt wie das „Moldawische“.

Baldauf I. 1993: Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Rußland- und Sowjettürken (1850–1937): Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Entwicklungen. Budapest. Daniels P. T., Bright W. (Hg.) 1996: The world´s writing systems. New York. Goebl H., Nelde P. H., Stary Z., Wölck W. (Hg.) 1997: Kontaktlinguistik – Contact linguistics – Linguistique de contact. Bd. 2. Berlin. Haarmann H. 1992: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt a. M. Haarmann H. 1993: Die Sprachenwelt Europas. Geschichte und Zukunft der Sprachnationen zwischen Atlantik und Ural. Frankfurt a. M. Haarmann H. 1995: Early civilization and literacy in Europe. An inquiry into cultural continuity in the Mediterranean world. Berlin. Haarmann H. 2001: Babylonische Welt. Geschichte und Zukunft der Sprachen. Frankfurt a. M. Jeffery L. H. 1990: The local scripts of archaic Greece. A study of the origin of the Greek alphabet and its development from the eighth to the fifth centuries B.C. Oxford.

(Harald Haarmann)

Anfang


Views
bmu:kk