Brėst (Stadt)

Brėst (weißruss., russ. Brest; jidd. Brisk; altruss. Berestʹ[e]; altweißruss. Bjarėsce, auch: Berasʹce; Ende 18. Jh. bis 1921 russ. Brest-Litovsk, auch: litau. Brestas bzw. Lietuvos Brasta, poln. Brześć–Litewski, weißruss. B.-Litoŭsk; bis 1939 poln. Brześć nad Bugiem).

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

B. ist Hauptstadt des gleichnamigen Gebietes in der Republik Weißrussland. Die Stadt hat 301.000 Einwohner (2005), besteht aus zwei Stadtbezirken und ist ein Zentrum der polnischen Minderheit in Weißrussland. Weitere Minderheiten sind Russen und Ukrainer; 80 % der Bevölkerung sind Weißrussen. B. liegt im südwestlichen Teil Weißrusslands (Polessje) an der Mündung des Flusses Muchavec in den Westlichen Bug, auf 146 m ü. d. M., etwa 70 km südlich des Nationalparks ›Belavežskaja Pušča‹. Die mittlere Temperatur im Januar beträgt –4,5 °C, im Juli 18 °C. Die jährliche Niederschlagsmenge beläuft sich auf 611 mm.

Die Grenze zu Polen (die gleichzeitig Außengrenze der NATO und der EU ist) verläuft teilweise unmittelbar entlang der westlichen Stadtgrenze. B. ist wichtiger Knotenpunkt des Straßen- und Schienenverkehrs und verfügt über einen Flughafen und einen Binnenhafen (Beginn des „Dnjepr-Bug-Kanals“). In B. befindet sich der wichtigste polnisch-weißrussische Grenzübergang. Die Grenze kann hier mit Kraftfahrzeugen oder der Eisenbahn (dabei kommt es nach dem Grenzübergang zu einem Wechsel der Spurweite) passiert werden.

Nach der Unabhängigkeit Weißrusslands 1991 verzeichnete B. einen starken Rückgang der Industrieproduktion. Heute sind die wichtigsten Industriezweige der Maschinenbau, die Textilindustrie und v. a. die Lebensmittelindustrie bzw. die Landwirtschaft. 1996 wurde hier die erste weißrussische Freihandelzone eingerichtet. B. verfügt über eine Technische Hochschule (seit 1989), eine Universität (seit 1995) und zwei Theater. Neben dem historischen Museum in der Festung von B. gibt es in der Stadt u. a. ein Eisenbahnmuseum, ein landeskundliches Museum und ein archäologisches Museum. Polen und Russland unterhalten in B. ein Konsulat.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Die erste urkundliche Erwähnung B.s geht auf das Jahr 1017 („Erste Novgoroder Chronik“) bzw. 1019 (Nestorchronik) zurück. B. gilt damit als die älteste Stadt Weißrusslands. Das letztere Datum wird als Gründungsjahr B.s gefeiert. Die frühe schriftliche Erwähnung wird auch durch archäologische Funde bestätigt.

Im 11. Jh. kämpften Litauen, Polen und die Kiewer Rus in der Region um die Vormachtstellung. Da B. sich im Grenzgebiet der Einflusssphären dieser drei Regionalmächte befand, kam es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen. Der wichtige Handels- und Festungsstandort B. wurde dabei mehrfach geplündert und teilweise zerstört und stand wiederholt sowohl unter polnischer, als auch unter Kiewer Verwaltung. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jh. war B. Teil des Fürstentums Volodymyr-Volynsʹkyj (das sich 1199 mit dem Fürstentum Halyč zu Galizien-Wolynien vereinigte). 1319 setzte der litauische Großfürst Gediminas die Einverleibung der Stadt ins Großfürstentum Litauen durch.

Um 1380 wurde B., ein Jahr nach der Plünderung durch den Deutschen Orden, Jahrmarktsort. Die Wirtschaft, insbesondere der Handel und die Verarbeitung von Textil- und Lederwaren nahmen einen stetigen Aufschwung. Als erste Stadt im heutigen Weißrussland erhielt B. 1390 das Recht zur städtischen Selbstverwaltung auf Grundlage des Magdeburger Rechts. 1446 sicherte Kasimir IV. Jagellonicus, der litauische Großfürst und spätere König von Polen, Litauen im Unionsvertrag von B. weitgehende Souveränität zu.

Seit dem 14. Jh. siedelten sich verstärkt aschkenasische Juden in B. an, so dass die Stadt im 15. Jh. zu einem der wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Litauen wurde. In der zweiten Hälfte des 16. Jh. gewann die Reformation zahlreiche Anhänger. Zu den bedeutendsten Zeugnissen des B.er Calvinismus zählt die polnische Bibelübersetzung von 1563 (›Biblia Brzeska‹). Seit 1566 war B. Hauptstadt der gleichnamigen Woiwodschaft. Mit der Vereinigung Polen-Litauens 1569 erhielt B. schließlich den Namenszusatz „Litauisch“ (litau. Lietuvos, poln. Litewski, russ. Litovsk[i], weißruss. Litoŭsk[i]).

1591 wurde B. Sitz einer orthodoxen Bruderschaftsschule, an der u. a. die Brüder Laŭrėncij und Stafan Zizanij lehrten. Mit der Annahme der Bulle ›Magnus Dominus‹ von Papst Clemens VIII. auf der Synode von B. kam es 1596 zur Union der römisch-katholischen Kirche (sog. Union von B.) mit der orthodoxen Kirche Polens und Litauens (Metropolie Kiew) und damit zur Gründung der (ostslawischen) Unierten Kirche.

Während des Kosakenaufstandes 1648/49 erlitt die Stadt schwere Zerstörungen, es kam zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Im Zweiten Nordischen Krieg 1655–60 setzten sich die Verwüstungen durch russische und schwedische Truppen fort. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jh. nahm B. dann einen neuerlichen wirtschaftlichen Aufschwung. In den 1770er Jahren entstand in der Stadt u. a. eine große Textilmanufaktur.

Nach der zweiten Teilung Polen-Litauens (1793) befand sich B. im russischen Teilungsgebiet (Gouvernement Slonim, seit 1797 Litauen, seit 1802 Grodno) und wurde nach dem sog. Novemberaufstand (1831) zur russischen Festungsstadt ausgebaut. Bis auf wenige Gebäude (wie das Jesuiten- und das Basilianerkloster, der sog. Weiße Palast [russ. Belyj dvorec]) wurde dabei die alte Bausubstanz der Stadt niedergerissen. 1870 wurde B. an das Eisenbahnnetz angeschlossen; der Verbindung nach Warschau folgten 1871 die nach Moskau, 1873 nach Kiew. 1897 zählte B. 46.542 Einwohner (davon ca. 65 % Juden).

Während des Ersten Weltkriegs wurde B. von den Mittelmächten besetzt. In B. befand sich das Hauptquartier der deutschen Ostfront. Hier führten die Sowjetregierung und die Mittelmächte ab Dezember 1917 Waffenstillstandsverhandlungen, die am 3.3.1918 in die Unterzeichnung des Friedensabkommens von B.-Litovsk mündeten. Nach dem Ersten Weltkrieg war B. Bestandteil der „östlichen Gebiete“ (poln. Kresy wschodnie) der sog. Zweiten Polnischen Republik. Während des Polnisch-Sowjetischen Krieges (1920/21) wurde B. zeitweilig von sowjetischen Truppen besetzt. Seit 1922 fungierte B. als Hauptstadt der Woiwodschaft Polessje. 1930 wurden 11 ehemalige Abgeordnete der polnischen parlamentarischen Mitte-Links-Opposition ohne Gerichtsurteil in der Festung von B. inhaftiert. Zum Jahreswechsel 1931/32 kam es in diesem Zusammenhang vor dem Warschauer Bezirksgericht zum sog. Prozess von B. (poln. Brzeski Proces).

Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939 wurde B. am 14.9. Kampfgebiet. Die polnischen Verteidiger unter General Konstanty Pliskowski konnten bis zum 17.9. Widerstand leisten, ehe die Panzerarmee von General Heinz Guderian die Stadt und die Festung einnahm. Im Einklang mit den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes übergab die deutsche Seite die Stadt noch im September 1939 an die Sowjetunion. Anlässlich der Übergabe fand in B. eine gemeinsame Parade von Roter Armee und Wehrmacht statt. Bis 1941 war B. dann Bestandteil der UdSSR. In dieser Zeit wurden v. a. die in B. ansässigen Polen ins Landesinnere der Sowjetunion deportiert.

Nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR am 22.6.1941 leistete die Besatzung der Festung mehrere Wochen lang erbitterten Widerstand. Deshalb wurde der Festung 1965 der Titel „Heldenfestung“ (russ. krepostʹ-geroj) verliehen. Heute befindet sich auf dem Festungsgelände eine weiträumige Gedenkstätte. Während der deutschen Okkupation (1941–44) war B. zunächst dem ›Reichskommissariat Ukraine‹ unterstellt, ehe die Stadt ab 1944 in den ›Generalbezirk Weißruthenien‹ im ›Reichskommissariat Ostland‹ eingegliedert wurde. 1942 wurden die ca. 17.–20.000 Juden des Gettos von B. bei Bronnaja hara ermordet. An sie erinnert heute in B. ein Holocaust-Denkmal und das B.er Getto-Archiv, das von den Nationalsozialisten erstellte Registrierungspapiere (Reisepässe) von 12.000 Juden aus B. enthält.

Bereits im September 1944 schloss Polen (in Gestalt des „Polnischen Nationalen Befreiungskomitee“, Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN) mit der Weißrussischen SSR ein Repatriierungsabkommen über den Transfer der polnischen Bevölkerung aus dieser Republik nach Polen und der weißrussischen Bevölkerung aus Polen in die Weißrussische SSR. Im Zuge dieses Abkommens siedelten bis 1947 ca. 46.000 Polen aus dem Gebiet B. nach Polen über, ca. 12.500 verblieben in Weißrussland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war B. bis zur staatlichen Unabhängigkeit Weißrusslands 1991 Teil der Weißrussischen SSR.

(Kai Witzlack-Makarevich)


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