Litauen (Großfürstentum, Überblick)
Litauen, Großfürstentum (litau. Lietuvos Didžioji Kunigaikštystė, poln. Wielkie Księstwo Litewskie, ukrain. Velike Knjazivstvo Litovsʹke, weißruss. Bjalikae Knjastva Litoŭskae).
Zu Beginn des 14. Jh. konnte sich in Aukštaitija und Žemaitija eine litauische Herrschaft, die territorial an das Königreich des Mindaugas (1253–63) anknüpfte, gegen den sich seit dem 13. Jh. in der Region ausbreitenden Deutschen Orden durchsetzen und unter Gediminas und seinen Söhnen konsolidieren und ausdehnen. Deren Expansionspolitik führte im Laufe des 14. Jh. zur Eingliederung zahlreicher Fürstentümer und Städte der Rus (Brėst, Černyhiv, Hrodna, Kiew, Lucʹk, Minsk, Polack, Smolensk, Turaŭ-Pinsk und Vicebsk) in den Herrschaftsverband. Hauptstadt des Vielvölkerreiches, das zur „zeitweilig beherrschenden Macht in Osteuropa“ (Hellmann 1989: 738) aufstieg und sich wie Moskau gleichfalls Großfürstentum zu nennen begann, wurde Wilna.
Unter Vytautas (1392–1430) erreichte es seine größte Ausdehnung, die von der Ostsee und den Grenzen der Fürstentümer Pskov, Novgorod, Tverʹ und Moskau im Norden und Osten bis zum Schwarzen Meer im Süden reichte, das gesamte Einzugsgebiet des Dnjepr und seiner Zuflüsse und, sich im Südwesten bis an den Dnjestr erstreckend, Wolynien, Podlachien und Podolien umschloss. Versuche, Moskau zu erobern, scheiterten.
An der Wende zum 16. Jh. kam es zu ersten Gebietsverlusten L.s im Osten. Durch die Heirat mit der polnischen Königin Jadwiga, der ein dem polnischen Adel gegebenes Taufversprechen vorausgegangen war, wurde Jogaila (litau., poln. Jagiełło) 1386 König von Polen und beide Herrschaften in Personalunion (bis 1572 durch die Dynastie der Jagellonen) und im Bündnis gegen den Deutschen Orden zusammengeführt. Durch Jogaila erfolgte die Christianisierung der noch heidnischen Litauer nach römischem Ritus. Die Vorstöße des Deutschen Ordens fanden dennoch erst nach dessen Niederlage gegen das litauisch-polnische Heer 1410 in der Grunwald (poln., dt. hist. Tannenberg) ein Ende.
Die Teilfürstentümer der früheren Rus wurden im Verband des Großfürstentums aufgehoben. Die Kompetenzen der abgesetzten Teilfürsten gingen an den Großfürsten und sein Beratergremium, die sog. Rada, und eingesetzte Woiwoden über. Die Aufnahme in den polnischen Adel (poln. Szlachta) verlieh den Bojaren des Großfürstentums weitgehende Standesprivilegien und beförderte deren Polonisierung, die in der Selbstbezeichnung ›gente Lithuani, natione Poloni‹ Ausdruck fand. In der Union von Lublin vereinigten sich Polen und L. schließlich 1569 zu einem Doppelstaat (poln. Rzeczpospolita Obojga Narodów, litau. Abiejų [auch: Žečpospolita] tautų respublika; „Republik Zweier Völker“) mit gemeinsamem Reichstag (poln. Sejm), den die polnische Szlachta und Magnaten des Großfürstentums L. (prominent die Familien Radvila/Radziwiłł, Sapeha/Sapieha und Pac/Pacas) dominierten, die hier den König und Großfürsten wählten sowie weite Bereiche der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft regelten.
Die Macht des Adels gründete wesentlich auf der Getreide produzierenden und exportierenden Gutswirtschaft und den hier manifestierten Formen bäuerlicher Abhängigkeit („zweite Leibeigenschaft“). Die Städte verfügten trotz des Magdeburger Rechts nur über eine Teilautonomie. L. verlor in der Union seine süd- und südwestlichen Gebiete (Kiew, Wolynien und Podlachien), die Polen angegliedert wurden. Dennoch blieb es eine selbständige politische Einheit mit eigenen Zentralämtern, einem Heer und einer Staatskasse. Auch besondere Privilegien und Rechtsfestlegungen, wie sie in den litauischen Statuten 1529, 1566 und 1588 festgehalten worden waren, unterschieden das Großfürstentum von Polen. Im Laufe des 17. Jh. begann der Niedergang der Union. Wege der Konsensfindung zwischen Adel und Magnaten wurden immer weniger begangen. Die Reagrarisierung der Wirtschaft führte langfristig zu inneren sozialen Unruhen und einer erhöhten Verwundbarkeit in militärischen Konflikten.
Besonders verheerend waren die Mitte des 17. Jh. beginnenden Nordischen Kriege und der Aufstand der Kosaken. Hauptbevölkerungsgruppen des Großfürstentums waren Litauer, Polen, Juden – die Aschkenasim bildeten einen bedeutenden Anteil der Stadtbevölkerung –, Tataren und Ostslawen. Bis zur Mitte des 17. Jh. war die altweißrussische (ruthenische) Kanzleisprache im Gebrauch; die regional und lokal verbreiteten Sprachen (u. a. Litauisch) und Dialekte blieben erhalten. Vielfältig waren auch die Glaubenszugehörigkeiten. In den litauischen Kerngebieten fand die Reformation, v. a. der Calvinismus starken, wenngleich dauerhaft nur kleinräumig Widerhall. Gegen die von Polen ausgehende Gegenreformation des 16./17. Jh. behauptete sich sowohl das orthodoxe Bekenntnis als auch die aus dieser Begegnung hervorgehende unierte Kirche (begründet 1596 in der Union von Brėst) und modifizierte Formen des alten heidnischen Glaubens. Starke Gemeinden hatten dank der relativen Religionsfreiheit auch Judentum und Islam. Die Aufnahme mitteleuropäischer Geistesströmungen und die Integration in deren Kommunikationskreise spiegelte sich in vielen Bereichen, v. a. des Bildungswesens und der Künste, wider.
Durch die Teilungen Polen-L.s (1772, 1793, 1795) fielen die Gebiete des Großfürstentums mehrheitlich an das Zarenreich, von dessen zentralrussischen Gouvernements sie sich kulturell deutlich unterschieden. Zu Beginn des 20. Jh. entstanden neben den nationalen auch übernationale, v. a. von der polnischsprachigen Bevölkerung ausgehende Bewegungen, die sich auf eine gemeinsame – auf die Zeit des Großfürstentum zurückreichende – Identität von Litauern, Weißrussen und Polen in der Region (poln. krajowość) beriefen. Die litauische Nationalbewegung nach 1863 konzentrierte sich ganz auf das ethnisch litauische Gebiet. Vertreter der sog. Jagellonischen Idee in Polen forderten nach dem Ersten Weltkrieg erfolglos eine Wiederbelebung des polnisch-litauischen Commonwealth.
Hellmann M. 1989: Das Großfürstentum Litauen bis 1569. Ders., Plaggenborg S., Schramm G., Zernack K. (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands Bd. 1, I. Stuttgart, 718–851. Kiaupa Z., Kiaupienė J., Kuncevičius A. (ed.) 2000: The History of Lithuania Before 1795. Vilnius. Niendorf M. 2004: Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit. Das Großfürstentum Litauen 1569–1795 (im Druck). Topolska M. B. 2002: Społeczeństwo i kultura w Wielkim Księstwie Litewskim od XV do XVIII wieku. Poznań.