Aschkenasim
Aschkenasim (hebr./jidd. Aškenasim, auch: [engl.] Ashkenazim).
Als A. werden seit dem Mittelalter im weiteren Sinne die jüdische Bevölkerung Mittel-, Ostmittel- und Osteuropas, im engeren Sinne v. a. die ostmittel- und osteuropäischen Juden (Ostjuden) bezeichnet. Der Name leitet sich vom biblischen Ausdruck ›Aschkenas‹ ab, der sich erstmals in Gen 10, 3 findet und dort zum einen den dritten Enkel Japhets, den Sohn Gomers meint und zum anderen in Jer 51, 27 die Bergregion am oberen Euphrat, nördlich des seit dem babylonischen Exils bestehenden jüdischen Siedlungsraumes in Mesopotamien, umschreibt. Er erscheint ca. im 12. Jh. erneut im Zusammenhang mit der Bezeichnung jüdischer Siedlungen in der Rheinregion, wurde hier zunächst parallel zum Ausdruck ›Loter‹, einer judaisierten Form des Personennamens Lothar(ius), die sich auf das Land Lotharingien bezieht, das damals neben dem heutigen Lothringen auch das Moselgebiet sowie Teile des Mittel- und den gesamten Niederrheinraum (damit die ältesten jüdischen Zentren im Deutschen Reich) umfasste, verwendet, und setzte sich dann als Bezeichnung – zunächst ausschließlich – der deutschen Juden durch.
Eine allgemein anerkannte Theorie für die Ursache der Namensübertragung gibt es nicht. Plausibel erscheint jedoch, dass bei der Verlagerung des jüdischen Schwerpunkts aus Babylonien in den westlichen Mittelmeerraum im ausgehenden 1. Jt. die Bezeichnung für das Land in bzw. hinter den nördlichen Bergen mitgenommen und auf die neuen Gegebenheiten übertragen wurde.
Zu Beginn des 14. Jh. umfasste der Terminus dann ebenso Juden, die ursprünglich aus (Nord-)Frankreich, Norditalien oder auch aus England stammten. Seit dem 14. Jh. führten Pogrome und Vertreibungen sowie politische und wirtschaftliche Gründe zur Verlagerung des Siedlungsschwerpunktes der A. nach Ostmittel- und Osteuropa, hauptsächlich nach Polen-Litauen. Aufgrund der Verfolgung der sephardischen Juden seit dem späten 14. Jh. und der Vertreibung aller Juden aus Spanien und Portugal 1492/96 stieg das aschkenasische Judentum im ausgehenden Mittelalter zum bedeutendsten Zweig des Judentums auf. Es waren v. a. Pogrome, die seit der Mitte des 17., insbesondere aber im 19. Jh. zu (Rück-) Wanderungsbewegungen führten. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, vor der Schoah betrug der Anteil der A. am weltweiten Judentum 90 %. Die Überlebenden und ihre Nachkommen finden sich seither über den gesamten Globus verstreut, mit Schwerpunkten in Israel und den USA. 1990 stellten A. ca. ein Drittel der jüdischen Israelis, seit 1989 machen sie durch Migration aus der ehemaligen Sowjetunion die Mehrheit der Neueinwanderer aus.
Die spezifische Kultur der A. entwickelte sich in soziokultureller und sprachlicher Koexistenz mit verschiedenen Umgebungen, die deutliche Spuren in den Bereichen: Ansiedlungsmuster, der demographischen Struktur, Formen des Gemeindelebens, Kunst, Literatur, Religion, Sprache sowie vielen politischen und rechtlichen Einrichtungen hinterlassen haben.
Die Entstehung des Jiddischen (http://www.uni-klu.ac.at/eeo/Jiddisch.pdf) wird hauptsächlich auf soziale Kontakte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung zurückgeführt. Das Westjiddische ging aus der Fusion des zunächst von den A. gesprochenen Altitalienischen bzw. Altfranzösischen mit verschiedenen deutschen Dialektvarianten und dem Hebräischen hervor. Slawische Anteile spielten bis um 1250 keine sprachbildende Rolle, sie werden erst später infolge der Migration v. a. im Ostjiddischen integriert. Durch Assimilation und Akkulturation besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurde das Jiddische als Muttersprache der A. stark zurückgedrängt und meist durch die jeweilige Landessprache bzw. das Neuhebräische (Ivrit) ersetzt.
Religiös und spirituell bedeutsam für die aschkenasische Identität war die Gruppe der ›Hassidei Aškenas‹ (hebr., „Fromme von Aschkenas“), die ausgelöst durch die Judenpogrome während der Kreuzzüge die Verherrlichung des Martyriums begründeten. Identitätsstiftend wurde ebenso die Festlegung auf die Einehe durch Gerschom ben Jehuda (MeʾOr Ha-Golah, 960–1028). Verbindliche Orientierung im Bereich jüdischen Rechts und in der Kultausübung bot die sog. Responsenliteratur, die schriftliche Beantwortung von religiösen, kultischen und rechtlichen Fragen durch bedeutende Rabbiner (z. B. Moses Isserles, gen. Rema).
Goodman M. (Hg.) 2002: The Oxford Handbook of Jewish Studies. Oxford. Jacobs N. G., Loon J. C. 1992: The Geography of Ashkenaz: On the Development of an Ethno-Geographic Information System (EGIS).