Finnougrische Sprachen
Finnougrische Sprachen
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1 Definition
Die f.n S. gehören zusammen mit den samojedischen Sprachen zur uralischen Sprachfamilie. Im Namen f. S. selbst spiegelt sich die Haupteinteilung in die finnisch-permischen einerseits und die ugrischen Sprachen andererseits wider. In historischer und verwandtschaftlicher Hinsicht werden die f.n S. folgendermaßen unterteilt:
- Ostseefinnisch: Finnisch, Estnisch, Karelisch, Wepsisch, Ingrisch, Livisch, Wotisch;
- Lappisch (Samisch);
- Wolgafinnisch: Mordwinisch, Tscheremissisch (Mari);
- Permisch: Syrjänisch (Komi), Wotjakisch (Udmurtisch);
- Ungarisch;
- Obugrisch: Ostjakisch (Chantisch), Wogulisch (Mansisch).
Während diese Einteilung in 15 f. S. die außerhalb Russlands übliche und traditionelle ist, werden dort selbst offiziell bis zu 18 Sprachen unterschieden. Die Erforschung der f.n S. war bis ins 20. Jh. hinein eine Domäne ungarischer, finnischer und deutscher Forscher; diese siedelten die sprachlichen Unterschiede im Mordwinischen, Tscheremissischen und Syrjänischen traditionell auf dialektaler Ebene an. In Russland hingegen werden aus historisch-politischen und administrativen Gründen Erza- und Mokscha-Mordwinisch, Berg- und Wiesentscheremissisch sowie Komi-Syrjänisch und Komi-Permjakisch unterschieden. Historisch belegt oder nachweisbar sind noch folgende f. S., die z. T. bereits im Mittelalter, z. T. erst im 19. Jh. ausgestorben sind: Livisch in Livland (auch: Salis-Livisch), Krewinisch, Merjanisch, Muromisch, die Sprache der ›Meščera‹ und „Burtasen“. In ihrer genauen Erstreckung unbekannt sind die Ethnonyme „Tschuden“, „Bjarmier“ und „Jugrier“ (und davon abgeleitet deren Sprachen), die allgemein als indifferente russische Bezeichnung für finnougrische Fremdvölker aufgefasst werden.
2 Sprachgebiet
Das Sprachgebiet des Lappischen erstreckt sich über die vier Länder Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, in einem breiten Bogen beginnend im nördlichen Mittelschweden und den angrenzenden norwegischen Gebieten bis zur Halbinsel Kola, jedoch nicht an die Ostsee reichend und erst ab der Höhe Tromsø (Norwegen) das Küstengebiet des Atlantiks (bis zum Nordpolarmeer) miteinschließend. Von den ostseefinnischen Sprachen werden das Finnische und das Estnische in eigenen, unabhängigen Staaten gesprochen, das Sprachgebiet des Livischen war bis in jüngste Zeit die Küstenregion an der kurischen Landspitze (Kurland/Lettland), die Übrigen werden in Russland gesprochen: das Karelische in der an Finnland angrenzenden Republik Karelien und in der Russischen Föderation (Gebiet Tverʹ), das Wepsische in der Karelischen Republik sowie im Leningrader Gebiet und im Gebiet Vologda, das Ingrische und Wotische in Ingermanland (Leningrader Gebiet). Wie das Karelische so besitzen auch das Mordwinische, Tscheremissische, Wotjakische – diese drei im Bereich der Mittleren Wolga und der Kama – und das Syrjänische (im westlichen Uralvorland) den Status einer Amtssprache in eigenen Republiken (= Mordowien, Mari El, Udmurtien und Komi); die drei Erstgenannten werden darüber hinaus auch in angrenzenden Gebieten bzw. Republiken gesprochen. Ostjakisch und Wogulisch sind die beiden einzigen f.n S., deren Sprachgebiet in Sibirien liegt, in dem nach ihnen benannten Autonomen Kreis (russ. Chanty-Mansijskij avtonomny okrug), der zum Gebiet von Tjumenʹ gehört.
Charakteristisch für die Karelier, Mordwinen, Syrjänen, Tscheremissen und Wotjaken ist, dass sie in dem nach ihnen benannten Sprachgebiet (= Republik), immer, zum Teil sehr deutlich, in der Minderheit sind und dass zwischen der Zahl, die sich zum Ethnos zählen, und der Zahl, die die Sprache des Ethnos’ als Muttersprache sprechen, eine teilweise erhebliche Differenz besteht. Diese Tendenz hat im 20. Jh. stetig zugenommen: Im Jahre 2002 geben etwa 21,5 % der Tscheremissen und sogar 77,9 % der Wogulen Russisch als erste Sprache an.
Während die Finnougrier (mit Ausnahme der Karelier) zum Zeitpunkt der Gründung ihrer Republiken (20er–30er Jahre des 20. Jh.) dort noch die Mehrheit stellten, so beträgt ihr Anteil mittlerweile zwischen 43,5 % (Tscheremissen) und 25,2 % (Syrjänen). Dies erklärt sich z. T. durch Zuzug nichtfinnougrischer Bevölkerung, z. T. durch Übergang der Finnougrier zum Russischen bzw. Russentum. Das Verlassen der finnougrischen Sprachgemeinschaft wird dabei nicht nur durch aktive Russifizierung verursacht, sondern auch durch den freiwilligen Übergang zum Russischen aus beruflichen oder sozialen Gründen. Im Allgemeinen sind alle Finnougrier Russlands mindestens zweisprachig, d. h. neben der eigenen Sprache auch des Russischen (z. T. auch weiterer Sprachen der Region) mächtig.
Die Zahl der Finnougrier beläuft sich (nach den Angaben von 2002) heute insgesamt auf knapp über 20 Mio., wovon allein die Ungarn mehr als die Hälfte, die Finnen etwas weniger als ein Viertel ausmachen. Die Größe der übrigen Völker (Bemessungsgrundlage ist hier die Zählung von 1989, die auch die Zahl der Sprecher – im folgenden jeweils in eckiger Klammer – ausweist) reicht von etwa 1 Mio. (Esten und Mordwinen [773.827]) über Wotjaken (746.793 [520.101]), Tscheremissen (670.868 [542.160]), Komi-Syrjänen (344.519 [242.515]), Komi-Permjaken (152.060 [106.530]), Karelier (130.929 [65.542]) und Lappen (50.000–100.000) bis hin zu Ostjaken (22.521 [13.615]), Wogulen (8474 [3140]) und Wepsen (12.501 [6355]). Die Zahl der übrigen Völker beträgt um die 1000 (Ingrier 820 [302]), oder sie tendiert gegen Null, d. h., sie sind im Aussterben begriffen (Woten, Liven).
Ungarisch, Finnisch und Estnisch sind Staatssprachen. Das Lappische hat in den nördlichen Kommunen Norwegens, Schwedens und Finnlands, die eine starke oder überwiegend lappische Bevölkerung aufweisen, offiziellen Status als Amtssprache. Für die f.n S. Russlands, die ein eigenes Territorium mit Republikstatus besitzen, gilt mittlerweile überall ein Sprachgesetz: für Syrjänisch seit 1992, Tscheremissisch seit 1995, Mordwinisch seit 1999, Wotjakisch seit 2001 und Karelisch (samt Wepsisch und Finnisch) seit 2004. Während in der syrjänischen Republik Teile dieses Gesetzes in den Regionen mit starker syrjänischer Bevölkerung auch in der Praxis schon umgesetzt sind, ist die Bedeutung dieser Gesetze in den übrigen Republiken untergeordnet oder besteht nur auf dem Papier. Alle übrigen f.n S. haben keinerlei offiziellen Status. Sie sind demnach in ihrer Existenz gefährdet, zum Teil steht ihr Untergang kurz bevor.
2.1 Merkmale
Die f.n S. sind in sehr unterschiedlichem Maße dialektal gegliedert. Große Sprachen wie das Ungarische weisen nur eine geringe Binnendifferenzierung auf, während besonders die kleinen Sprachen des Nordens – Ostjakisch, Wogulisch, Lappisch, aber auch Karelisch – sehr starke dialektale Unterschiede zeigen; so könnte man im Falle des Lappischen durchaus auch von bis zu acht Sprachen (nicht Dialekten) sprechen, da Verständlichkeit zwischen den Dialekten kaum oder nur sehr eingeschränkt besteht.
Zu dieser letzten Gruppe gehört auch das Estnische, zumindest bis in die jüngere Vergangenheit hinein. Eine grobe Zweiteilung besteht im Finnischen, im Mordwinischen, Tscheremissischen und Syrjänischen – die russische Linguistik spricht hier (siehe oben) auch von Sprachen (und nicht Dialekten). Im Falle der übrigen f.n S. bewegen sich die Unterschiede eher auf der Ebene von Mundarten. Die f.n S. sind insgesamt sehr spät belegt oder kodifiziert. Abgesehen von Namen oder Einzelwörtern im fremdsprachigen Kontext ist das früheste Denkmal die „ungarische Leichenrede“ (Halotti Beszéd) vom Beginn des 13. Jh. Die Überlieferung des Syrjänischen beginnt mit der orthodoxen Missionierung am Ende des 14. Jh., des Estnischen und Finnischen im Zusammenhang mit der Reformation im 16. Jh., des Lappischen im 17. Jh. Aus demselben Jahrhundert stammen auch die frühesten Sprachproben des Karelischen, Livischen, Mordwinischen und Tscheremissischen. Alle übrigen Sprachen sind erst im 18. oder gar im 19. Jh. (so z. B. das Wepsische) erstmals belegt. Die frühesten Denkmäler sind entweder religiösen Charakters oder aber einfache, kleine Wortlisten, die zum Zwecke des Sprachvergleichs für geschichtliche Studien eingeholt wurden.
Eigenes Schrifttum und Literatur setzt sehr viel später ein: Für das Ungarische im 16. Jh., für das Finnische und Estnische Ende des 18., Anfang des 19. Jh., dann folgt das Syrjänische; Ende des 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. beginnt die Entwicklung für das Mordwinische, Tscheremissische und Wotjakische, dann deutlich schon im 20. Jh. für das Karelische, Lappische, Livische, Ostjakische, Wepsische und Wogulische. Illiterat sind bis heute das Wotische und Ingrische geblieben.
Über längere schriftsprachliche Traditionen verfügen demnach nur das Ungarische, das Finnische und das Estnische. Alle übrigen Schriftsprachen sind erst im 20. Jh. geschaffen worden. Entsprechend orientieren sich diese, aber auch die der drei großen Sprachen, fast vollständig an der Lautung; nur im Ungarischen spielt auch das morphologische Prinzip eine Rolle. Die f.n S. bedienen sich entweder des lateinischen Alphabets (so Ungarisch, Finnisch, Estnisch, Lappisch – außerhalb Russlands – und Karelisch), sonst des kyrillischen (zum Teil mit Sonderzeichen). Im Kreise der f.n S. sind zwei autochthone Schriften bzw. Alphabete historisch belegt, die sog. Abur-Schrift im Altsyrjänischen und im südlichen Sprachgebiet des Ungarischen eine Kerbschrift (ungar. rovásírás).
Die f.n S. sind deutlich fremdbeeinflusst. Die Finnougrier waren sprachgeschichtlich zumeist die Nehmenden, selten die Gebenden. Die Kontaktsprachen gehören im Wesentlichen zu zwei Sprachfamilien, der indoeuropäischen und jener der Turksprachen. Die f.n S. lassen sich in dieser Hinsicht in zwei Gruppen einteilen, in eine westliche (die ostseefinnischen Sprachen und das Lappische), die germanischem und baltischem Einfluss (Letzterer im geringen Umfang auch im Mordwinischen nachweisbar) ausgesetzt war, und eine östliche, die turksprachlichen Einfluss, aber nicht germanischen und baltischen aufweist.
Der Einfluss des Arischen (bzw. Indoiranischen) und Slawischen lässt sich in allen f.n S. erkennen. Ersterer muss schon auf die uralische Grundsprache eingewirkt haben, Einfluss deutlich iranischen Gepräges erfolgte dagegen erst nach der Aufteilung in Einzelsprachen. Slawischer (zumeist russischer) Einfluss ist insgesamt der rezenteste. Daneben ist auch eine relativ junge Wechselwirkung der f.n S. untereinander zu verzeichnen (z. B. finden sich syrjänische Lehnwörter im Ostjakischen).
Der Einfluss anderer Sprachen ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die f.n S. z. T. sehr divergent entwickelt haben. Zwar lassen sie sich insgesamt als dem agglutinierenden Sprachtyp zugehörig charakterisieren, sie weisen aber auch deutliche Abweichungen, hin zum flektierenden Typ auf (z. B. das Estnische oder Livische).
Auf lautlicher Ebene sind charakteristisch: Vokalharmonie (im Stamm und/oder Suffix treten nur Vorder- oder Hintervokale auf), Quantitätskorrelation im Vokalismus (z. T. auch im Konsonantismus), Korrelation der Palatalität im Konsonantismus, teilweise sehr ausgeprägte, aber historisch sekundäre Stimmtonkorrelation im Obstruentenbereich (nicht jedoch im Finnischen und Estnischen), Konsonantenwechsel (Stufenwechsel) im Ostseefinnischen und Lappischen, Vokalwechsel (Ablaut) im Obugrischen, in der Regel keine oder nur geringe Unterschiede im Vokalismus (Inventar, Quantität) der Haupt- und Nebensilbe (jedoch sehr ausgeprägte Unterschiede im Estnischen), keine Konsonantenhäufung im Anlaut und nur eingeschränkt im Auslaut, Erstsilbenbetonung.
Auf morphologischem Gebiet: kein Genus, kein Artikel (Ausnahme: Ungarisch), ein ausgeprägtes Lokalkasussystem, Dual (heute nur noch im Lappischen und Obugrischen), Ausdruck der Possessivität durch Suffixe, nur schwach ausgeprägte Komparation (kann in vielen f.n S. nur syntaktisch oder lexikalisch ausgedrückt werden); Objektkongruenz zwischen Verb und bestimmtem Objekt (objektive Konjugation im Mordwinischen, Ungarischen und Obugrischen), schwache Ausbildung verbaler Kategorien wie Passiv und Futur, häufig morphologisch ausgedrückte Evidentialität, Verneinung mittels eines Verneinungsverbs, stark entwickelter infiniter/nominaler Bereich, Nominalkonjugation (Bildung prädikativer Strukturen mittels Konjugierung des nominalen Prädikativs) im Mordwinischen. Auf syntaktischem Gebiet: bevorzugte Satzgliedstellung im Tscheremissischen, Obugrischen und Wotjakischen Subjekt-Objekt-Verb, sonst Subjekt-Verb-Objekt; obligatorischer Gebrauch der Kopula nur im Ostseefinnischen und Lappischen; Zahlwörter regieren in der Regel den Singular, das Adjektivattribut kongruiert nur im Ostseefinnischen mit dem Bezugswort; Subordination erfolgt primär durch infinite Verbformen, die entsprechenden Konjunktionen sind zumeist einzelsprachlich unter fremdem Einfluss ausgebildet oder entlehnt. Mit Ausnahme des Obugrischen und des Lappischen (in seinen südlichen Dialekten) verfügen die f.n S. über kein ›haben‹-Verb und müssen die Bedeutung mit einem in der Regel festen Syntagma (›haben‹-Konstruktion) umschreiben.
Der wissenschaftliche Nachweis der Verwandtschaft der f.n S. und damit die Konstituierung der Disziplin ist ein Kind des späten 19. bzw. des frühen 20. Jh. Zwar gab es bereits im 17. Jh. Zusammenstellungen von für verwandt gehaltenen Sprachen; sie gründeten sich jedoch auf den bloßen Augenschein, d. h. auf leicht erkennbare Ähnlichkeiten in der Lautung und der Bedeutung (Martin Fogel, Gottfried Wilhelm v. Leibniz, Philipp Johann v. Strahlenberg, Johann Eberhard Fischer) sowie auf strukturelle Übereinstimmungen (János Sajnovics, Sámuel Gyarmathi). Erst mit der Anwendung der von den sog. Junggrammatikern innerhalb der Indogermanistik entwickelten Methodik der Lautgesetzlichkeit kann der Nachweis als erbracht gelten.