Samisch (Überblick)
Samisch
Der Begriff S. bezeichnet einen eigenständigen Zweig innerhalb der finnougrischen Sprachfamilie, steht aber den Ostseefinnischen Sprachen (Finnisch, Estnisch u. a.) genetisch und strukturell sehr nahe. Zur Zahl der Sprecher gibt es keine genauen Angaben; man schätzt sie auf etwa 20.000 oder etwas mehr. Die Zahl derjenigen, die sich zum Ethnos zählen, ist bedeutend höher (geschätzt zwischen 50.000 und 100.000, ungefähr 40.000 in Norwegen, 15.000 – 25.000 in Schweden, 7000 in Finnland und 2000 in Russland), da sich samische Identität nur zum Teil über muttersprachliche Kenntnisse definiert.
Das Sprachgebiet des S.en erstreckt sich über die vier Länder Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, und zwar in einem breiten Bogen beginnend im nördlichen Mittelschweden und den angrenzenden norwegischen Gebieten bis zur Kolahalbinsel. S. war früher erheblich weiter verbreitet, sein Sprachgebiet erstreckte sich im frühen Mittelalter zumindest bis Südfinnland, auf schwedisch-norwegischem Gebiet ebenfalls noch etwas weiter südlich als heute.
Die Benennung aller Ausformungen von S. mit einem einzigen Namen legt nahe, dass es sich um eine einzige Sprache handle, was historisch vertretbar ist. Synchron dagegen könnte man ebenso gut von acht Sprachen sprechen, da die dialektalen Unterschiede erheblich sind und die gegenseitige Verstehbarkeit bei nicht benachbarten Dialekten nicht gegeben ist. Folgende “Dialekte” ließen sich bis in jüngste Zeit unterscheiden, die sich in einer Kette von Südwesten nach Nordosten aneinanderfügen: 1) Süd-S.: Schweden (Härjedalen bis Umeälv), einige wenige hundert Sprecher. 2) Ume-S.: Schweden (Arjeplog – Arvidsjaur), im Aussterben begriffen. 3) Pite-S.: Schweden (Piteälv), ebenfalls im Aussterben begriffen. 4) Lule-S.: überwiegend in Schweden (bis Gällivare), etwa 1500 Personen. 5) Norwegisch-S.: Nordnorwegen, -schweden und -finnland, die größte Gruppe, ca. 15.000 Sprecher. 6) Inari-S.: Nordfinnland (Inarisee), ca. 330 Sprecher. 7) Skolt-S.: Nordfinnland (östlich des Inarisees), ca. 200 Sprecher. 8) Kildin-S.: Russland (Kolahalbinsel), mehrere hundert Personen. 9) Akkala-S.: südlich von Kildin, etwa 80 Sprecher. 10) Ter-S.: östliche Kolahalbinsel, einige hundert Sprecher.
In allen Fällen, in denen die Zahl der Sprecher gering ist, handelt es sich vorwiegend um ältere oder betagte Muttersprachler, so dass diese Sprachformen als extrem gefährdet gelten.
Es gibt entsprechend keine Schriftsprache für das S.e insgesamt. In größerem Umfang findet die norwegisch-s.e Schriftsprache (normiert seit 1978 bzw. 1983) Anwendung, deutlich weniger die des Lule-S. (normiert seit 1983) und nur vereinzelt die des Süd- (normiert seit 1978), Inari-, Skolt- und Kildin-S. (dies mit Kyrilliza). Die anderen Dialekte sind schriftlos bzw. bedienen sich Aufzeichnungen in ihrer Sprache anderer – z. B. phonetischer – Notationen.
Bei all diesen kleineren Schriftsprachen liegt das Hauptproblem darin, dass sie nur über eine geringe Zahl an potentiellen Benutzern – von denen nicht viele ihrer gar nicht oder nur mangelhaft kundig sind (da Unterricht auf und in S. erst in jüngster Zeit eingerichtet wurde) – verfügen und dass auch einschlägige Medien (Bücher, Zeitungen u. a.) nur in geringem Umfang existieren, wobei sich v. a. Zeitungen überwiegend in der Landessprache artikulieren; auch ist die Rezeption von (v. a. literarischem) Schrifttum auf S. schwach, d. h. es klafft eine Lücke zwischen dem akademisch Gebildeten und im Umkreis einschlägiger Institutionen Tätigen, der sich von Berufs wegen mit Sprache beschäftigt, und dem einfachen Sprachbenutzer. Der Gebrauch dieser Ausprägungen von S. ist auf wenige Bereiche begrenzt (Haus, bestimmte Berufsbereiche, Schule), in denen häufig schriftlicher Gebrauch nicht notwendig ist oder selten vorkommt.
S.es Schrifttum lässt sich in zwei Epochen gliedern, nämlich vom 17. bis zum Beginn des 20. Jh., in dem fast ausschließlich Übersetzungsschrifttum religiöser Art und Sprachwerke, verfasst von Nichtsamen, erschien, das Schrifttum also im Kontext der Missionierung stand, und dann ab dem Beginn des 20. Jh. samische Literatur im eigentlichen Sinn. Bis zur Mitte des Jahrhunderts konzentriert sie sich auf das Genre des dokumentarisch-essayistischen Berichtens über die Lebensweise der Samen vor dem Hintergrund der Biographie des Verfassers, in der Nachkriegszeit dann, besonders ab den 70er Jahren, wird sie zunehmend programmatisch und politisch, die Belange der Samen artikulierend und mit der traditionellen samischen Lebensart und der arktischen Umwelt verbindend – bevorzugt wird hierbei die Lyrik.
In Finnland (in den Kommunen Utsjoki, Inari, Enontekiö und in Teilen von Sodankylä), Norwegen (in den Kommunen Nesseby, Tana, Karasjok, Porsanger, Kautokeino und Kåfjord) und Schweden (in den Kommunen Kiruna, Gällivare, Jokkmokk und Arjeplog) haben die Samen das Recht, im Verkehr mit staatlichen Behörden ihre Sprache benutzen zu dürfen und von staatlicher Seite ebenfalls auf S. eine Antwort zu erhalten. In Russland gibt es kein einschlägiges Sprachgesetz.
Charakteristisch für das Norwegisch-S.e sind: ein umfangreiches Konsonantensystem, starke Vokal- (Umlaut) und besonders Konsonantenwechsel (Stufenwechsel), drei phonematische Quantitätsstufen, Erstsilbenbetonung. Das S.e weist deutlich flektierende Züge auf, ohne aber die agglutinierenden völlig in den Hintergrund gedrängt zu haben; die Silbenzahl der Wortstämme ist in der Flexion (unterschiedliche Endungen) von Bedeutung, kein Genus, eine reich entwickelte Verbalableitung. Nominalflexion: neben Singular und Plural auch Dual, ein relativ kleines Kasussystem Possessivsuffixe zum Ausdruck der Possessivität. Verbalflexion: Tempora (synthetisch gebildetes Präsens und Präteritum, mit Hilfsverb Perfekt und Plusquamperfekt), Modus (Indikativ, Imperativ, Konditional und Potential), ein voll entwickeltes Passiv, Verneinung mit Verneinungsverb, ein reiches Inventar an infiniten Formen. Das S.e ist eine Subjekt-Objekt-Sprache (Nominativ–Akkusativ), unmarkierte Wortstellung SVO. Entscheidungsfragesätze werden mit einem enklitischen Partikel am satzeinleitenden Wort markiert, Zahlwörter regieren den Singular, das Adjektivattribut kongruiert in der Regel nicht mit dem Bezugswort, es existiert kein haben-Verb (dagegen eine habeo-Konstruktion), es gibt keinen Artikel.
Die wichtigsten Kontaktsprachen waren und sind die skandinavischen (Schwedisch, Norwegisch), Finnisch und Russisch, wobei sich deren Einfluss nicht auf die unmittelbare s.e Umgebung beschränkte, sondern sich zumindest in früheren Zeiten bedingt durch die Lebensform der Samen wie auch durch innersprachliche Ausbreitung auf weite Sprachgebiete des S.en erstreckte. Deutlich erkennbar ist dieser Einfluss in der Lexik, gelegentlich aber auch in der Struktur.
Winkler E., Haarmann H. 2002: Samisch (http://www.uni-klu.ac.at/eeo/Samisch.pdf). Okuka M. (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt, 693–707.