Sowchos

Sowchos (Abk. für russ. sovetskoe chozjajstvo, „Sowjetische Wirtschaft“); Staatlicher Großbetrieb in der Landwirtschaft der Sowjetunion, der kommunistischen Ideologie nach die fortschrittlichste wirtschaftliche Organisationsform.

Die ersten S.e entstanden nach der Verstaatlichung des Bodens 1919. Mit ihrer Einbindung in die zentral-administrative Lenkung der volkswirtschaftlichen Produktion und gestützt auf industrielle Produktionsverfahren sollten sie zur Erreichung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung beitragen. Das Gesetz über die Sozialisierung des Bodens vom 19.2.1918 und das Dekret über die sozialistische Bodenbewirtschaftung vom 14.2.1919 verfügten, dass die bäuerliche Individualwirtschaft beseitigt und durch vergesellschaftete Organisationsformen der landwirtschaftlichen Produktion ersetzt werden sollte. Diese Zielsetzung wurde mit brachialen Methoden staatlicher Organe durchgesetzt und erst infolge der Hungersnöte in weiten Teilen des Landes Anfang der 1920er Jahre vorerst ausgesetzt. Während der Neuen Ökonomischen Politik kam es insofern zu einem Aufblühen der bäuerlichen Individualwirtschaften, 1928 abrupt beendet durch Stalins Politik der forcierten Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft.

S. entstanden anfangs v. a. auf Neuland, erst ab 1928 auch auf ertragsunsicheren Böden in der Nähe urbaner Ballungszentren des europäischen Russland. Hier sollte die mindere Bodenqualität durch den Einsatz von Großschleppern auf riesigen Saatflächen ausgeglichen werden. Die Produktionsstruktur umfasste Großviehwirtschaft, technische Kulturen wie den Baumwoll-, v. a. aber den Getreideanbau, so dass S. oftmals auch als „Getreidefabriken“ bezeichnet wurden, ausgestattet mit einem großen Maschinenpark, zusätzlich unterstützt durch den Einsatz wissenschaftlicher Produktionsmethoden. Hier sollten die Landarbeiter quasi als ideologische Ergänzung zu den Industriearbeitern erzogen werden. Anfang der 1930er Jahre stellte sich die Gigantomanie mit landwirtschaftlichen Betriebsflächen von durchschnittlich ca. 24.000 ha sehr bald als Misserfolg heraus, als deren Konsequenz die Durchschnittsgröße 1933 auf 13.800 ha, 1937 auf 10.300 ha reduziert wurde. 1934 gab es 4118 S.; diese Zahl blieb bis Anfang des Zweiten Weltkriegs annähernd konstant (1940: 4159). Ihr Anteil an der landwirtschaftlichen Anbaufläche der Sowjetunion belief sich 1938 allerdings auf nur ca. 10 %.

Die Organisationsstruktur des S. unterschied sich im Wesentlichen nicht von der eines Staatsbetriebs in Industrie und Handel: Direktor, das Verwaltungspersonal wie auch die Landarbeiter hatten den Status eines staatlichen Arbeitnehmers. Die in einem S. Beschäftigten bezogen einen festen Arbeitslohn, waren aber, anders als die Kolchosarbeiter, nicht am Ertrag des S. beteiligt. De jure stand ihnen auch kein Boden für die private Nutzung und Eigenversorgung zur Verfügung, de facto war dies jedoch häufig der Fall. Wie auch die übrigen Staatsbetriebe wurden der S. nach den Grundsätzen der wirtschaftlichen Rechnungsführung (Chozrasčët) geführt. Der S.-direktor wurde von staatlichen Instanzen ernannt und leitete sie nach dem Prinzip der Einzelleitung ohne Rechenschaftspflicht gegenüber seiner Belegschaft. Diese Organisations- und Eigentumsstruktur wurde daher als die „höhere Form“ , die des Kolchos hingegen als die „niedere Form des sozialistischen Eigentums“ bezeichnet.

Das Nebeneinander von Kolchosen und S.en dauerte bis etwa Mitte der 1950er Jahre, obgleich die Zahl der S.en schon deutlich stärker gestiegen war als die der Kolchosen. Im Rahmen der Agrarpolitik Chruschtschows stieg der Bestand der S. abermals stark an, was primär auf die Neulandgewinnung in den asiatischen Teilen der Sowjetunion zurückzuführen war. Erst in den Jahren 1956/57 setzte eine Welle der Umwandlung von Kolchosen in S.en ein, in deren Folge die Saatflächen der Kolchosen von 15,2 Mio. ha auf 13,2 Mio. ha zurückgingen.

Nach einer zweiten Umwandlungsphase wurde Mitte der 1960er Jahre annähernd die Hälfte der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Sowjetunion von S.en bewirtschaftet, mit jedoch deutlichen regionalen Unterschieden. So wurden in den transuralischen Neulandgebieten, v. a. im nördlichen Kasachstan, S.en mit einer Fläche von bis zu 50.000 ha neu eingerichtet und anfangs von sog. „fliegenden Kolonnen“ bewirtschaftet. Diese bestanden häufig aus Jugendbrigaden, ausgemusterten Soldaten sowie landwirtschaftlichen Mechanikern (sog. Mechanisatoren, die, jahreszeitlich versetzt, auch im europäischen Russland eingesetzt wurden). Nur in den ersten Jahren traten in den Neulandgebieten die erwarteten Erträge ein. Ursachen für die zurückgehenden Ernten waren die zumeist kurzen Vegetationsperioden von teils nur vier Monaten, fehlende oder nicht zureichende Wirtschafts- und Lagerungsgebäude, die nach wenigen Jahren einsetzende Ermüdung der zumeist halbariden Böden. Hinzu kamen nicht eingeplante Transportkosten und -verluste bei den landwirtschaftlichen Produkten sowie die Kosten für die Arbeitskräfte und die technische Ausrüstung.

In anderen Regionen blieb die Einrichtung von S. annähernd ganz aus. So z. B. in Tadschikistan, wo eine stärkere Mechanisierung durch landwirtschaftliche Großgeräte die a priori bestehende Arbeitslosigkeit nur noch stärker erkennbar gemacht hätte, so auch in Georgien aufgrund innenpolitischer Erwägungen und der spezifischen Bedingungen des dortigen Weinanbaus, so weiterhin in Litauen aufgrund der dort vorherrschenden Geländeformen und der geringen Prosperität des Bodens. 1982 gab es in der Sowjetunion 21.911 S. auf denen 9,9 Mio. Beschäftigte 376,5 Mio. ha (rd. 68 % der Gesamtanbaufläche) bewirtschafteten. Die durchschnittliche Anbaufläche eines S. betrug etwas über 16.000 ha. Auch in der 1985 eingeleiteten Phase der Perestroika blieb der Status der S.en bis zur Auflösung der Sowjetunion unverändert.

Wädekin K.-E. 1964: Zur Frage der regionalen Besonderheiten in der sowjetischen Landwirtschaft und Agrarpolitik. Osteuropa Wirtschaft 3, 21–41.

(Reinhard Peterhoff)

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