Neue Ökonomische Politik

Neue Ökonomische Politik (NÖP; russ. Novaja Ėkonomičeskaja Politika, NĖP); Entwicklungsphase des sowjetischen Wirtschaftssystems von 1921 bis 1928, von Vladimir I. Lenin auch als „Staatskapitalismus“ bezeichnet. Dieser „taktische Schritt zurück“ war unabdingbar geworden, da die Durchsetzung kommunistischer Ordnungs- und Lenkungsformen im Kriegskommunismus (1917 bis März 1921), zusammen mit außenwirtschaftlichen Faktoren, das Land an den Rand des politischen und wirtschaftlichen Ruins gebracht hatte. Die industrielle Produktion und Arbeitsproduktivität waren drastisch gesunken, Handel und Verkehr desorganisiert, was die ungenügende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zusätzlich verschlechterte.

Kurz nach Beendigung der Bürgerkriegskämpfe zwischen den roten und weißen Armeen kulminierte der Widerstand gegen die katastrophalen Lebensbedingungen und den politischen Terror in Aufständen. Im Februar 1921 löste eine abermalige Kürzung der Lebensmittelrationen und die schlechten Arbeitsbedingungen eine Streikwelle der Petersburger Industriearbeiter aus, der im März eine Revolte der Matrosen in der nahegelegenen Seefestung Kronštadt folgte, die „Land und Brot“ forderten, sogar eine „sozialistische Regierung ohne Bolschewiken“. Auch auf dem Land kam es zu Unruhen; so bspw. bei den massiven Aufständen der ländlichen Bevölkerung im Gebiet von Tambov gegen die Requirierungsmaßnahmen zentraler Instanzen.

Diese Ereignisse hatten die politische Durchsetzungskraft des Politbüros erheblich geschwächt. Und letztlich schien durch die Schlaganfälle Lenins im Jahr 1922 auch die Einheit der Partei selbst ernsthaft gefährdet zu sein; jetzt schon deuteten sich die Diadochenkämpfe zwischen den Hauptpersonen Trotzki und Stalin an: Der „Kampf um die Macht“, den einige Historiker auch als den zwischen „Leninismus und Stalinismus“ bezeichnen. Auf dem X. Parteitag der KPdSU am 21.3.1921 verkündete Lenin daher neue wirtschaftspolitische Richtlinien, deren Kernpunkt das am selben Tag erlassene „Dekret über Naturalsteuer“ war. Das bedeutete im wesentlichen die Wiederzulassung von Marktbeziehungen, einen teilweisen Rückgriff auf „kapitalistische Produktionsverhältnisse“. Primäre Zielsetzung dieser Maßnahmen der nun beginnenden NÖP-Periode war es, die politischen und sozialen Spannungen sowohl in den Städten als auch in den landwirtschaftlichen Anbaugebieten zu verringern.

In der Landwirtschaft wurde die Kollektivierung vorläufig gestoppt, und freie genossenschaftliche Zusammenschlüsse der Bauern erlaubt. Die naturale Ablieferungspflicht wurde durch eine Naturalsteuer ersetzt, die niedriger sein sollte als die bisher abzuliefernden Mengen an landwirtschaftlichen Produkten; die verbleibenden Ernteerträge durften die Bauern für ihren Eigenbedarf verwenden bzw. frei verkaufen. Diese Regelungen galten auch für die Sowchosen und Kolchosen, die sogar aufgelöst werden konnten, sofern sie die neuen Rentabilitätskriterien nicht erfüllten.

Das hatte zur Konsequenz, dass in der Periode der NÖP die Nahrungsmittelversorgung primär durch individualbäuerliche Betriebe aufrechterhalten wurde. Mit diesen Maßnahmen hoffte die politische Führung des Landes die Nahrungsmittelproduktion zu verbessern. Abgesehen von dem wahrscheinlich mitbedachten Nebeneffekt, dass damit die Partei selbst nicht mehr unmittelbar für die Versorgungslage der urbanen Bevölkerung verantwortlich gemacht werden konnte, verbesserte sich die Versorgung der sowjetischen Gesamtbevölkerung mit Nahrungsmitteln bald spürbar.

Schon auf dem X. Parteitag der KPdSU hatte Lenin ausgeschlossen, dass die sog. Kommandohöhen den neuen Regelungen der NÖP unterworfen würden. Als „Kommandohöhen“ galten: Die Großindustrie, das Bank- und Transportwesen, der Groß- und Außenhandel sowie der Staatsapparat; diese Sektoren verblieben in Staatseigentum und wurden von staatlichen Instanzen administriert. Im Bereich von Gewerbe und Kleinindustrie jedoch, v. a. der Konsumgüterproduktion, sollten unternehmerisches Engagement und privatwirtschaftliches Erwerbsstreben zugelassen werden.

Dies ging soweit, dass sogar Betriebe der Kleinindustrie an ihre ehemaligen Eigentümer, soweit solche überhaupt die revolutionären Wirren überlebt hatten resp. nicht emigriert waren, zurückgegeben wurden. Gerade diesen Wirtschaftssektoren wie auch den bäuerlichen Individualbetrieben ist zu verdanken, dass der Versorgungsgrad der Bevölkerung rasch und spürbar anstieg; die Produktion dieser Wirtschaftssektoren erreichte bereits 1924 ca. 90 % des Vorkriegsstandes. Dagegen blieb die Produktion in der staatlichen Schwer- und Großindustrie eklatant zurück und erreichte den Stand der Vorkriegsproduktion erst 1928, wiewohl die Entlohnung der Beschäftigten nach der tatsächlichen Leistung (Zulassung des Stücklohns) erfolgte, und die Idee der „Gleichmacherei“ (russ. urovnilovka) strikt verworfen wurde.

Einen sehr bedeutenden Anteil an den positiven wirtschaftlichen Ergebnissen hatte der privatisierte Einzelhandel, der v. a. zu Beginn der NÖP-Periode stark aufblühte. Von der politischen Führung der KPdSU offensichtlich als politökonomisches Ärgernis begriffen, war diese ab Mitte der 20er Jahre bemüht, staatliche und zwangsgenossenschaftliche Handelsunternehmen einzuschalten, um den privatwirtschaftlichen Handel zurückzudrängen.

Um die Inflation zurückzudrängen und die Stabilität des Geldes herzustellen, wurde das Geldwesen entsprechend den neuen wirtschaftspolitischen Regelungen reformiert. Zu Ende des Jahres 1924 wurde als neue Rechnungseinheit der Červonec eingeführt. Diese Maßnahme hatte durchaus Erfolg. Auch für den Bereich der außenwirtschaftlichen Beziehungen galten nunmehr neue Zielsetzungen, denn der Außenhandel der Sowjetunion hatte während der Zeit des Kriegskommunismus praktisch aufgehört zu existieren. Nunmehr war die politische Führung bestrebt, dass die Sowjetunion auf dem Weltmarkt wieder als Handelspartner wahrgenommen wurde. Die Bemühungen um ausländisches Kapital für den Wiederaufbau der Industrie und technologische Erneuerung der Industrieanlagen hatten allerdings nur einen sehr geringen Erfolg, da die Organisationen im Rahmen des weiterhin bestehenden staatlichen Außenhandelsmonopols weniger nach wirtschaftlichen, denn nach politökonomischen Kriterien agierten.

Die Interpretation der NÖP als „taktischer Schritt zurück“ wird auch daran deutlich, dass bereits im Februar 1921 die Staatliche Plankommission (Gosplan) gegründet wurde, mit der Aufgabe, einen einheitlichen gesamtstaatlichen Wirtschaftsplan auszuarbeiten. Wenn auch diese Funktionszuweisung für Gosplan erst nach 1928 voll wirksam wurde, so weist dies dennoch auf die zeitlich begrenzte Akzeptanz der NÖP hin: als Abwendung einer wirtschaftlichen Katastrophe für das Land und einer politischen Gefährdung für die Machterhaltung der kommunistischen Partei. Denn in der NÖP-Periode waren sowohl die individualwirtschaftlichen bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe wie auch der privatwirtschaftliche Kleinhandel und die privatwirtschaftliche Kleinindustrie wieder erstarkt.

V. a. die Hintanstellung ideologischer Ziele der KPdSU, nämlich die soziale und politökonomische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, waren es, die den neuen Führer der KPdSU, Iosif V. Stalin, veranlassten, die NÖP im Jahre 1928 zu beenden. Im Rahmen der sog. „Revolution von oben“ war die nun beginnende stalinistische Wirtschaftspolitik durch drei fundamentale Zielsetzungen gekennzeichnet: Verstaatlichung aller nichtagrarischen Wirtschaftszweige, Durchführung einer radikalen Industrialisierung v. a. der Schwerindustrie, zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft.

Raupach H. 1979: Wirtschaft und Gesellschaft Sowjetrußlands 1917–1977. Wiesbaden. Rosenberg W. G. 1991: Introduction: NEP Russia as a „Transitional“ Society. Fitzpatrick S., Rabinowitsch A., Stites R. (ed.): Russia in the era of NEP. Bloomington, 1–11. Peterhoff R. 1993: Neue Ökonomische Politik. Dichtl E., Issing O. (Hg.): Vahlens Großes Wirtschaftslexikon. München, 1523.

(Reinhard Peterhoff)

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