Prus, Bolesław

Prus, Bolesław (eigentl. Aleksander Głowacki); *20.8.1847 Hrubieszów (damals Gouvernement Lublin, Kongresspolen) †19.5.1912 Warschau.

Beide Eltern stammten aus verarmten Adel und starben früh, P. wurde von Verwandten erzogen. Seine Schulausbildung erhielt er in Lublin, Siedlce und Kielce. 1863 schloss er sich den Januaraufständischen an. Er wurde verwundet, gefangengenommen und verurteilt (Verlust des Adels). 1866–1868 studierte P. Mathematik und Physik an der polnischen Universität Warschau (Szkoła Główna), 1869–1870 Forstwirtschaft in Puławy. Er lebte seit 1870 in Warschau, zunächst von Gelegenheitsarbeiten (als Büroschreiber, Nachhilfelehrer, Arbeiter, Publizist), dann publizistischer und redaktioneller Tätigkeit. 1875 heiratete er seine Cousine, nahm deren Neffen und später seinen mutmaßlich unehelichen Sohn in seine Obhut. P. hielt sich einige Zeit in Wolynien und Galizien auf, kannte Wien und besuchte 1895 Berlin, Dresden, Karlsbad, Nürnberg, Stuttgart, Rapperswil und Paris, verließ sonst Warschau nur selten. Die Ferien verbrachte er meist in Nałęczow oder in Zakopane und Wisła. P. war Gründungs- und Ehrenmitglied zahlreicher Organisationen, z. B. der „Polnischen Schriftsteller und Journalistenvereinigung“ (poln. Towarzystwo Literatów i Dziennikarzy Polskich) und dem „Warschauer Wohlfahrtsverein“ (poln. Warszawskie Towarzystwo Dobroczynności), wo er sich u. a. für Waisen engagierte und Ferien für arme Kinder in der „Sommerkoloniengesellschaft“ (poln. Towarzystwo Kolonii Letnich) organisierte. Er beteiligte sich an der „Gesellschaft zur Unterstützung von Handel und Industrie“ (poln. Towarzystwo Popierania Przemysłu i Handlu), der „Warschauer Hygienischen Gesellschaft“ (poln. Warszawskie Towarzystwo Higieniczne) oder als Vorsitzender an der „Gesellschaft zur Organisation von Kursen für erwachsene Analphabeten“ (poln. Stowarzyszenie Kursów dla Analfabetów Dorosłych). P. publizierte ab 1872, bis 1876 im „Flur“ (poln. Niwa) und „Familienvorstand“ (poln.Opiekun Domowy) – dort benutzte er auch zum ersten Mal das Pseudonym Bolesław Prus (= Familienwappen), das im Bewusstsein der Leser seinen eigentlichen Namen vollkommen ersetzte. Er redigierte humoristische Zeitschriften, wie die „Fliege“ (poln. Mucha, 1873) und „Spikes“ (poln. Kolce, 1874) sowie die Tageszeitung „Neuigkeiten“ (poln. Nowiny, 1882–1883) und veröffentlichte in: „Warschauer Kurier“ (poln. Kurier Warszawski, 1874–1887), ›Ateneum‹ (1876–1878), „Wahrheit“ (poln. Prawda, 1881–1882), dem Petersburger „Land“ (poln. Kraj, 1883–1894), „Illustrierte Wochenzeitschrift“ (poln. Tygodnik Ilustrowany, 1883–1912), „Wanderer“ (poln. Wędrowiec, 1884–1885), „Tageskurier“ (poln. Kurier Codzienny, 1887–1904) und „Morgen- und Abendbote“ (poln. Goniec Poranny i Wieczorny, 1904–1905).

Schwerpunkt seiner publizistischen Arbeit war das Feuilleton. P. schrieb in den Jahren 1874–1910 Beiträge, die heute 20 Bände füllen, und gilt in Polen als Klassiker dieser Gattung, damals „Chronik“ (poln. kronika) genannt. Um sachliche Darstellung bemüht, werden aktuelle Angelegenheiten und Ereignisse verschiedenster Bedeutung aus allen Lebensbereichen abgehandelt und Ratschläge im Einklang mit dem Programm der „Warschauer Positivisten“ formuliert. P. verfasste auch populärwissenschaftliche Darstellungen, Abhandlungen, Reiseberichte und Kritiken. Der Entwicklungstheorie von H. Spencer widmete er die „Skizze eines Programms unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung“ (poln. Szkic programu w warunkach obecnego rozwoju społeczeństwa, 1883). Daneben schrieb er die ethische Abhandlung „Die allgemeinsten Lebensideale“ (poln. Najogólniejsze ideały życiowe, 1901). In der Erzählprosa P.s, die mit Humoresken beginnt, dominieren chronologisch und quantitativ die Kleinformen (Novellen, Erzählungen, Skizzen). Zu seinen Lieblingsfiguren gehören Amtschreiber, kleine Beamte, Handwerker, Tagelöhner, Arme und Kinder – durchschnittliche Menschen, gefangen zwischen dem Streben nach Glück, das nie zur Erfüllung kommt, und der Pflicht, die als ein moralischer Imperativ empfunden wird. Zu den bekanntesten Werken gehören: ›Katarynka‹ (1880; dt. Der Drehorgelspieler 1954, Der Leierkasten 1968), ›Powracająca fala‹ (1880; dt. Die Welle strömt zurück 1959), ›Antek‹ (1881; dt. 1902; Der kleine Anton 1905), ›Nawrócony‹ (1881; dt. Der Geizhals 1959; Der Bekehrte 1981), ›Kamizelka‹ (1882; dt. Die Weste 1952), ›Grzechy dzieciństwa‹ (1883; dt. Der Nichtsnutz und die Mädchen 1960, Kindheitssünden 1968), ›Omyłka‹ (1884; dt. Ein Versehen 1984).

Alle Romane P.s erschienen zunächst als Fortsetzungen in Zeitschriften. Schon die ersten Romane „Seelen in Gefangenschaft“ (poln. Dusze w niewoli, 1877) und ›Anielka. Chybiona powieść‹ (1880; dt. Angelika 1960) erzählen von Menschen, die – unfähig Situationen richtig einzuschätzen – falsche Entscheidungen treffen. Naturalistische Inspirationen gingen ein in ›Placówka‹ (1886; dt. Der Bauer Slimak 1947), in dem das Leben einer Bauernfamilie in der Zeit des ökonomischen und zivilisatorischen Umbruchs erzählt wird. Der als wichtigster polnischer Roman des 19. Jh. angesehene ›Lalka‹ (1890; dt. Die Puppe 1954), ist ein Text mit vielen Erzählsträngen und einer komplizierten thematischen und narrativen Struktur. Handlungsgegenwart sind die Jahre 1878–1879. Retrospektiv greift der Text auf den Völkerfrühling, den Novemberaufstand 1830 und die napoleonischen Kriege zurück. Beschrieben werden verschiedene Vertreter der wichtigsten sozialen und nationalen Gruppen der Weichselprovinz des Russischen Reiches. Der Roman hat zwei Erzähler, die immer wieder aus der Sicht der Personen und damit ohne eindeutige Interpretation der Ereignisse berichten. Die Biographie der Hauptfigur entzieht sich stereotypen Erwartungen; man kann sie, genauso wie die menschliche Existenz an sich, weder bis zum Schluss begreifen noch beschreiben. Die junge weibliche Hauptfigur von ›Emancypantki‹ (1894; dt. Die Emanzipierten 1957), einem Roman über die Weltanschauungskrise um 1900, kämpft erfolglos darum, die Welt zu verstehen und die praktischen Lebensaufgaben zu lösen. Eine eigene Position im Werk P.s nimmt ›Faraon‹ (1897; dt. Pharao 1944) ein, der in historischer Verkleidung Überlegungen über den Staat als zivilisatorische Institution und das Problem der Macht anstellt. Der Roman ›Dzieci‹ (1909; „Die Kinder“) wiederum ist eine Auseinandersetzung mit moralischen Ansichten, Haltungen und Konflikten, ausgelöst durch die Ereignisse der Revolution 1905. Der Roman ›Przemiany‹ (1911–1912; dt. Veränderungen 1968), der eine Charakterisierung des polnischen Lebens an der Wende des 19. zum 20. Jh. werden sollte, blieb unvollendet.

Fita S., Łoch E. (wyd.) 1993: Bolesław Prus. Twórczość i recepcja. Lublin. Kulczycka-Saloni J. 1975: Bolesław Prus. Warszawa. Sonczyk W. 2000: Bolesław Prus – publicysta, redaktor, teoretyk prasy. Warszawa.

(Wojtek Klemm)


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