Positivismus

Positivismus; Weltanschauung und Gesellschaftsdoktrin, dominant in der Literatur und Philosophie Polens 1864–1895. Erste Tendenzen bereits Mitte des 19. Jh., dichterische und publizistische Aktivitäten bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh.

Inhaltsverzeichnis

1 Literatur

Seit den 30er Jahren des 20. Jh. wird die Periode zwischen Romantik und Modernismus als P., alternativ auch als Realismus, bzw. Realismus und Naturalismus bezeichnet. In der neuesten Literaturgeschichtsschreibung ist die Vermeidung des Begriffs bzw. seine Einschränkung zu beobachten. Übereinstimmend stehen Autoren im Mittelpunkt, die ihre systematische literarische Arbeit entweder in den 60er und Anfang der 70er Jahren aufgenommen haben: Michał Bałucki (1837–1901), Jan Lam (1838–1886), Adam Asnyk (1838–1897), Eliza Orzeszkowa (1841–1910), Henryk Sienkiewicz (1846–1916), Bolesław Prus (1847–1912), Wiktor Gomulicki (1848–1919), Aleksander Świętochowski (1849–1938) oder sich um 1880 etablierten: Adolf Dygasiński (1839–1902), Maria Konopnicka (1842–1910), Antoni Sygietyński (1850–1923), Artur Gruszecki (1852–1929), Adam Szymański (1852–1916), Teodor Jeske-Choiński (1854–1920), Gabriela Zapolska (1857–1921). Als Vorbilder und Vorläufer galten: die Mitte des 19. Jh. wichtigste literarische Autorität – Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887), der zu dem Zeitpunkt noch unterschätzte Cyprian Norwid (1821–1883), außerdem Teofil Lenartowicz (1822–1893), Kornel Ujejski (1823–1897), Zygmunt Kaczkowski (1825–1896), Teodor Tomasz Jeż (1824–1915) und Felicjan Faleński (1825–1910). Die bedeutendsten Literaten (Orzeszkowa, Prus, Świętochowski, Sienkiewicz, Faleński, Sygietyński) waren im russischen Teilungsgebiet und in Warschau als literarischem Zentrum tätig. Im autonomen österreichischen Teilungsgebiet mit Krakau und Lemberg als Zentren wirkten Ujejski, Bałucki und Lam sowie die ehemaligen Bewohner des russischen Polens Asnyk, Konopnicka, Zapolska. Kaum Entfaltung hingegen bot das preußische Teilungsgebiet. Die restriktive Kulturpolitik der Teilungsmächte (z. B. das Verbot der Verbreitung polnischer Druckerzeugnisse in Russland jenseits Kongresspolens) und die Zensur – präventiv in Russland, wo nicht ohne Genehmigung gedruckt werden durfte und repressiv in Preußen und Österreich – behinderten die Literatur stark. Daher entwickelte sich ein System von Verschlüsselungstechniken für die Darstellung politischer Ereignisse und Zustände. Entsprechend wurden Meinungen und Ideen in privaten Salons, auf gesellschaftlichen Veranstaltungen und in Kaffeehäuser ausgetauscht. Wichtig wurden die Redaktionen literarischer und literaturkritischer Zeitschriften, die Schriftsteller mit ähnlichen politischen und ästhetischen Vorstellungen um sich gruppierten, die liberalen um: „Wöchentliche Rundschau“ (poln. Przegląd Tygodniowy), „Wahrheit“ (poln. Prawda, beide Warschau), „Literarisches Journal“ (poln. Dziennik Literacki, Lemberg) und „Neue Reform“ (poln. Nowa Reforma, Krakau), die konservativen um: „Flur“ (poln. Niwa), „Wort“ (poln. Słowo, beide Warschau), „Zeit“ (poln. Czas) und „Polnische Rundschau“ (poln. Przegląd Polski, beide Krakau).

Schriftstellerisch tätig waren im P. hunderte Autoren, überwiegend adliger Herkunft. Viele von ihnen hatten an der polnischen Universität Warschau (Szkoła Główna) studiert. Von der Schriftstellerei allein lebten nur wenige, die Mehrheit arbeitete als Journalist, Lehrer oder Kanzlist. Formell existierten keine Berufsverbände (in Kongresspolen galt Vereinsverbot), alle Initiativen zur Verteidigung des Berufsstands hatten privaten Charakter. Über die Publikation eines Werkes entschied oft sein kommerzieller Wert. Zu den wichtigsten Verlagshäusern gehörten: Gebethner i Wolf, Orgelbrand, Lewental, Arct, Wende, Paprocki (Warschau), ›Księgarnia Polska, Gubrynowicz i Schmidt‹ (Lemberg), ›Spółka Wydawnicza Polska‹ (Krakau). Die Auflagenhöhen waren gering (max. 3000 Exemplare). Die meisten Texte erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Presse. Der Leserkreis wuchs zwar stetig, blieb aber dennoch verschwindend klein, denn im russischen und österreichischen Teilungsgebiet waren zwei Drittel der Bevölkerung Analphabeten. Zudem überwogen literarische Werke zur Unterhaltung, für den ländlichen Leser oder für Kinder und Jugendliche.

In der Erzählprosa des P. dominierten die Merkmale des Realismus: zuerst wie in den vorangegangenen Jahren (1830–1863) – auktoriales Erzählen, Kommentieren, Bewerten und Leseransprache durch den Erzähler (so bei Kraszewski, Bałucki, Lam, Orzeszkowa), in den 80er Jahren – personales Erzählen, Fragmentierung der dargestellten Welt, Mehrdeutigkeit, häufig homodiegetischer Erzähler. Nun entstehen Meisterwerke mit: den Novellen „Der Leierkasten“ (poln. Katarynka, 1880), ›Antek‹ (1881), „Die Weste“ (poln. Kamizelka, 1882), „Kindheitssünden“ (poln. Grzechy dzieciństwa, 1883), „Ein Versehen“ (poln. Omyłka, 1884) von Prus, dem Novellenzyklus „Über das Leben“ (poln. O życie, 1879) von Świętochowski, den Romanen „Der Posten“ (poln. Placówka, 1886), „Die Puppe“ (poln. Lalka, 1890), „Die Emanzipierten“ (poln. Emancypantki, 1894) von Prus, den großen Dorfromanen „Niederungen“ (poln. Niziny, 1884), „Familie Dziurdzia“ (poln. Dziurdziowie, 1885), „Der Grobian“ (poln. Cham, 1888), „An der Memel“ (poln. Nad Niemnem, 1887) von Orzeszkowa und „Ohne Dogma“ (poln. Bez dogmatu, 1891) von Sienkiewicz. Ende der 80er Jahre dominierten dann die sog. Naturalisten (Sygietyński, Dygasiński, Zapolska), die unter dem Einfluss von G. Flaubert und E. Zola standen. Konopnicka publizierte ihre beeindruckenden Novellen ›Urbanowa‹ (1887), ›Józik Srokacz‹ (1888), ›Banasiowa‹ (1889), „Fräulein F.“ (poln. Panna Florentyna, 1894). Eine besondere Blüte erlebte der dem Muster Walter Scotts folgende historische Roman, der das eingeschränkte Studium der Geschichte ersetzte und zur Verschlüsselung aktueller Ereignisse diente. Dazu gehören Kraszewskis monumentaler Zyklus von 29 Romanen (1876–1889), der die Geschicke Polens von den mythischen Anfängen bis zur Zeit der Sachsenkönige beschreibt, Sienkiewicz' populäre „Trilogie“ (poln. Trylogia, 1884–1888) über die polnischen Kriege im 17. Jh. und Quo vadis (1896) über die Geburtsstunden des Christentums, der einzige weltbekannte Text eines polnischen Autors des P., der selbst die positivistische Weltanschauung nicht teilte und der 1905 mit dem Nobelpreis für sein Werk geehrt wurde. Eine besondere Position nimmt ebenfalls der historiosophische Roman „Pharao“ (poln. Faraon, 1897) von Prus ein.

Die Poesie des P. hat im Vergleich mit der der Romantik das kollektive Bewusstsein Polens weitaus weniger beeinflusst, obgleich ihr solch beliebte, wenn auch selten den eigentlichen Autoren zugeschriebene Gedichte zuzurechnen sind, wie: „Für Brot“ (poln. Dla chleba: „Bergbewohner, ist dir es nicht schade...“, poln. Góralu, czy ci nie żal..., 1865) von Bałucki, „Katechismus des polnischen Kindes“ (poln. Katechizm polskiego dziecka: „Wer bist Du? – Ein kleiner Pole! ...“, poln. Kto ty jesteś? – Polak mały!..., 1900) von Władysław Bełza (1847–1913) oder die Hymne des polnischen Sozialismus „Rote Fahne“ (poln. Czerwony sztandar: „Unser Blut wird seit langem von den Henkern vergossen...“, Krew naszą długo leją katy..., 1882) von Bolesław Czerwieński (1851–1888). Die bedeutenden Experimente Norwids, wie der Zyklus Vademecum (1865), haben damals den Leser nicht erreicht, ganz anders das Werk von Lenartowicz, z. B. „Italienisches Album“ (poln. Album włoskie, 1870). Die wichtigsten Dichter der Epoche (Faleński, Asnyk, Konopnicka) orientierten sich am Klassizismus, der Romantik und dem französischen Parnassismus. Thematisch beschäftigten den Antihegelianer und Schopenhauerkenner Faleński die Vielgestaltigkeit, Unbeständigkeit und Veränderbarkeit der Existenz („Mäander“, poln. Meandry, 1892). Asnyks vier Bände ›Poezje‹ (1869–1894) und sein Sonettzyklus „Über den Tiefen“ (poln. Nad głębiami, 1883–1894) charakterisiert der Konflikt zwischen nostalgischer Rückwärtsgewandtheit und der Unzugänglichkeit des Neuen. Konopnicka wiederum hat in ihren volksliedhaften Gedichten der „Poesie. Zweite Folge“ (poln. Poezje. Seria druga, 1883) und „Poesie. Dritte Folge“ (poln. Poezje. Seria trzecia, 1887) meisterliche Bilder bäuerlicher Schicksale geschaffen.

Das Drama spiegelt den Zwang der Autoren zu Kompromissen mit den didaktischen Forderungen der Kritik, den Unterhaltungswünschen des Publikums und der Zensur, die das Niveau der durchschnittlichen dramatischen Produktion senkten, wider. Verse wurden weitgehend durch Prosa ersetzt. Norwid erschuf in seinem erfolglosen Kampf um die Akzeptanz seiner Werke eine eigene Gattungsform („Der Ring der großen Dame“, poln. Pierścień wielkiej damy, 1872). Im Theaterrepertoire des späten 19. Jh. dominierten aber die Gesellschaftskomödien von Bałucki: „Dicke Fische“ (poln. Grube ryby, 1881), „Das offene Haus“ (poln. Dom otwarty, 1883). Świętochowski nutzte die historische Verkleidung der Antike (›Antea‹, „Auf dem Markt“, poln. Na targu und ›Helvia‹, 1876) und der heimischen Geschichte („Die Untertanin“, poln. Poddanka, 1877 und „Der Narr“, poln. Błazen, 1878) um den Kampf von Menschen um Würde, in Zeiten von Tyrannei und Gesetzlosigkeit, zu beschreiben. Seine Milieudramen aus dem Zyklus „Unsterbliche Seelen“ (poln. Nieśmiertelne dusze): „Vater Makary“ (poln. Ojciec Makary, 1876), ›Aureli Wiszar‹ (1888), ›Regina‹ (1889) beschreiben das Eingreifen von Konventionen und gesellschaftlichen Normen in die Biographien untypischer Figuren.

Anfang

2 Philosophie

Die Rezeption des P., im weiteren Sinne verstanden als die Philosophie von Auguste Comte, seinen Schülern, John Stuart Mill, Herbert Spencer, Hyppolyte Taine und Charles Darwin, begann auf polnischen Gebieten 1840–1850. Eine kritische Auseinandersetzung fand jedoch erst ab Ende der 60er Jahre in den Zeitschriften: „Literarisches Tagebuch“ (poln. Dziennik Literacki, Lemberg) und „Wöchentliche Rundschau“ (poln. Przegląd Tygodniowy, Warschau) statt. Der Begriff P. umfasste hier auch die Bereiche Soziologie, Psychologie, Ethik, Ökonomie, Naturwissenschaften und Geschichte (Kulturgeschichte). Dominik Szulc (1797–1860) gilt in Polen als erster Anhänger von Comte. Bolesław Limanowski (1835–1935) hat in Lemberg 1875 die erste Promotion über Comte verfasst. Großer Popularität erfreuten sich die Werke von J. S. Mill und H. Spencer – verlegt in der Übersetzung von Józef Karol Potocki (1854–1898). Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des P. hatten auch die Schriften von Henry Thomas Buckle, Samuel Smiles, Ludwig Büchner, John William Draper, Charles Darwin, Wilhelm Wundt, Friedrich Albert Lange und Ernest Renan. In der Kulturphilosophie und -theorie waren die Arbeiten von H. Taine maßgebend. Erster Theoretiker des P. in Polen war Józef Supiński (1804–1893), dessen in Lemberg erschienene Arbeiten: „Grundlegender Gedanke zu einer allgemeinen Philosophie“ (poln. Myśl ogólna fizjologii powszechnej, 1860), „Die polnische Schule der sozialen Wirtschaft“ (poln. Szkoła polska gospodarstwa społecznego, 1862–1865) große Anerkennung fanden. Zu den philosophischen Vertretern des P. zählen weiterhin: Władysław Kozłowski (1832–1899), Feliks Bogacki (1847–1916), Julian Ochorowicz (1850–1917), Adam Mahrburg (1855–1913), Władysław Mieczysław Kozłowski (1858–1935), Marian Massonius (1862–1945), in der Soziologie: B. Limanowski, Ludwik Gumplowicz (1838–1909), in Psychologie und Pädagogik: Jan Paweł Władysław Dawid (1859–1914), Władysław Heinrich (1869–1957). Popularisatoren der positivistischen Philosophie waren in Kongresspolen Adam Wiślicki (1836–1913), Walery Przyborowski (1845–1913), Antoni Gustaw Bem (1848–1902), Piotr Chmielowski (1848–1904), A. Świętochowski, B. Prus, Józef Kotarbiński (1849–1928), J. Ochorowicz, die von ihren konservativen Gegnern als „Warschauer Positivisten“ bezeichnet wurden. Dieser Name fand schnell Verbreitung und ging in die Geschichtsschreibung ein. Die Warschauer Positivisten entwickelten ein Gesellschaftsprogramm, das an die positivistische Philosophie anknüpfte, legalistisch und nicht irredentistisch war. Sie glaubten an die mögliche Reorganisation der Gesellschaft auch im Zustand ihrer politischen Unfreiheit und an ein, wenn auch Kompromisse erforderndes, Zusammenleben mit den Besatzern. Sie distanzierten sich von der öffentlichen Opferhaltung und forderten von der Gesellschaft: Vorbereitung auf die zukünftige Freiheit durch wirtschaftliches und kulturelles Engagement, Arbeit an der verspäteten zivilisatorischen Entwicklung des Landes („Organische Arbeit“, poln. praca organiczna), Bildung von Öffentlichkeit, Bürgerinitiativen, Ausbildung auch der ärmsten Schichten („Arbeit an den Grundlagen“, poln. praca u podstaw), Förderung des Mittelstandes, die Entmachtung der historischen Eliten und die Bildung einer neuen Gesellschaft auf kapitalistischer säkularer Grundlage. Diese Ideen, die auch von den Liberalen in Posen und Galizien geteilt wurden, charakterisieren den für die zweite Hälfte des 19. Jh. auf polnischem Gebiet zentralen ideologischen Gegensatz von positivistisch-liberaler auf der einen und konservativer Strömung auf der anderen Seite.

I. Borkowska G. 1996: Pozytywiści i inni. Warszawa. Markiewicz H. 1980: Pozytywizm. Warszawa. Miazek B. 1984: Polnische Literatur 1863–1914. Wien.
II. Hochfeldowa A., Skarga B. (wyd.) 1980: Filozofia i myśl społeczna w latach 1865–1895. T. 1–2. Warszawa.

(Wojtek Klemm)

Anfang
Views
bmu:kk