Bruderschaften (orthodoxe)
Bruderschaften, orthodoxe (russ. bratstvo, ukrain. bratstva)
Der Begriff B. bezeichnet Verbände orthodoxer Laien in der Ukraine, in Weißrussland sowie in Wilna im 16.–18. Jh., die eine Reihe der Aufgaben bei der Gestaltung des Kirchenlebens, im Bildungswesen und im Buchwesen übernahmen.
Eine wichtige Besonderheit des Moskauer Russlands ist das Fehlen von B. Über den Ursprung der B. existieren unterschiedliche Vorstellungen. Einige russischen Historiker (S.M. Solovʹev, A. Papkov) verbinden die Entstehung der B. mit der Tradition der ostslawischen rituellen Mahlzeiten (›bratčiny‹). S. Golubev und A. Savyč erklären die Ursprünge der B. mit der Entwicklung des jus patronatus und betrachten ihre Aktivitäten als eine Art „kollektiver Patronat“. Eine andere Konzeption, die die Ähnlichkeit der B. mit den Zünften betont (I. Flerov, M. O. Kojalovič), fand später auch in der sowjetischen Geschichtsschreibung Anerkennung. Ein weiteres Konzept, das auf die Ähnlichkeit der B. mit den geistlichen Gilden Westeuropas vorweist (N. A. Skaballanovič1875) und später mehr und mehr Anhänger bekam, stieß bei A. Efimenko auf Ablehnung. Efimenko weist auf die Entstehung der ersten B. im 15. Jh. hin und stellt damit den Einfluss der Reformation sowie des konfessionellen Konflikts am Ende des 16. Jh. in Frage, ebenso den „späten“ Einfluss der Zünfte auf die B. Efimenko selbst behauptet, dass die Ursprünge der B. in einer „Sippenbrüderschaft“ (›rodovoe bratstvo‹) liegen und dass die B. eine Art „fiktiven Sippenverband“ darstellen. Eine komplexe Darstellung der Entstehung der B. findet sich bei Mychajlo S. Hruševskyj. Der Historiker sieht die Ursprünge der B. in den rituellen Mahlzeiten, bemerkt aber, dass der Name B. in der altrussischen Tradition „nur an einem dünnen Faden“ hängt. Er neigt jedoch zur Anerkennung des westlichen Einflusses und lässt hypothetisch zu, dass „nicht nur die Organisation der B., sondern auch der Begriff ‚Bruderschaftʹ den ältesten deutschen Einfluss bei uns darstellt“. Angesichts des Zusammenhangs zwischen den B. und den Zünften findet Hruševskyj, dass die Organisation der Zünfte die Organisation der B. „deutlich und stark“ beeinflusste. Die Betonung der Ähnlichkeit der B. mit den spanischen und italienischen Bruderschaften, die oft ›scuole‹ oder ›compagnie‹ genannt wurden, ist Borys Gudziaks These. So behauptet Gudziak, „dass die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Assoziationen der Laien im christlichen Westen den ukrainischen B. des endenden 16. Jh. nach ihrer Struktur, nach ihren Zielen und nach ihrem ‚modus operandiʹ ähnelten“.
Die Entstehung der ersten B. (Lemberg) schon im 15. Jh. ist in der modernen Geschichtsschreibung umstritten. Die ersten Organisationen der Laien, die mit den späteren B. vergleichbar sind und die den Namen einer B. trugen, entstanden in der Mitte des 16. Jh., wie die „Verkündigungs-Bruderschaft“ (›Blahoviščennja‹) in Lemberg (1542). Die Vereinigung der Gemeindemitglieder der Lemberger Himmelfahrtskirche (›Uspensʹka‹), die auch ähnlich organisiert war, wurde aber bis zur Mitte der 1580er Jahre nicht als ›bratstvo‹ bezeichnet. In dieser Zeit organisierte die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ eine Schule (Bruderschaftsschulen) und ein Spital. Eine Wende in der Geschichte der „Himmelfahrts-Bruderschaft“ markierte das Privileg, das ihr der Patriarch von Antiochia Ioakim V. (ca. 1581–92) 1586 verlieh. 1589 wurden die Statuten der Dreifaltigkeits-Bruderschaft von Wilna (gegründet 1585) durch den Patriarchen Jeremias II. Tranos von Konstantinopel bestätigt. Die Statuten von Wilna und Lemberg bekamen schnell Vorbildcharakter für andere B. So beeinflussten die Statuten der „Himmelfahrts-Bruderschaft“ die Statuten der B. von Krasnystaw, Gródek Jagielloński (ukrain. Horodok), Komarne, Lublin und Bel’sk. B. entstanden vor 1588 in Holohir, um 1589 in Rohatyna und Krasnystaw, 1590 in Mahilëŭ und Sataniv (poln. Satanów), in Gródek Jagielloński, Brėst und Hrodna 1591, Orša, Minsk, Komarne, Przemyśl 1592, Bel’sk und Lublin 1594, Sanok 1600, Kamʹʹjanecʹ-Podilʹsʹkyj und Zamość 1606, Kiew 1615, Lucʹk und Chełm 1617, Šarhorod 1618, Nemyriv 1626 und Lubny (poln. Łubny) 1636.
Die B. spielten eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die Kirchenunion von Brėst (1596), wobei einigen von ihnen auch das von den ökumenischen Patriarchen verliehene Recht der Stauropegie (Klostergründung) zugute kam. Patriarch Ioakim V. konnte sich vorstellen, „dass die Gemeinschaft der Bruderschaftsmitglieder zum Werkzeug der Kirchenreform, zur Zensur für die undisziplinierte Geistlichkeit und zur Kontrollbehörde der Kirche werden könne“.
Dafür wurden die B. aus der Jurisdiktion der lokalen Bischöfe, die sich teilweise für die Kirchenunion sich entschieden hatten, ausgenommen. Aber auch in anderen Konstellationen konnten Konflikte um den Status der Bruderschaften entstehen, wie in Lemberg, wo die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ in einen langen Streit mit dem orthodoxen Bischof Hedeon Balaban geriet. Die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ erhielt schon 1586 mit der Anerkennung ihrer Statuten durch den Patriarchen de facto das Recht der Stauropegie, wurde also in die direkte kanonische Jurisdiktion des Patriarchen überwiesen. Die formelle Anerkennung erfolgte durch den Patriarch Jeremias II. Tranos (1593) . Es ist zu bemerken, dass in den Akten des Patriarchen jedoch nur das unter Kontrolle der B. stehende Onufryj-Kloster als eine Stauropegie auftritt. Später erhielt auch die Bruderschaft von Wilna einen solchen Status. Noch 1620 verlieh Patriarch Theophanēs III. von Jerusalem (1606–44) den Kirchen der B. von Sluck und Lucʹk den Status einer Stauropegie. Dieser Status der B. wurde durch die 1620 wiederhergestellte orthodoxe Hierarchie strittig. Nach einer Reise des Erzbischofs von Polack (poln. Połock) Meletij Smotrycʹkyj nach Konstantinopel (1624/25) wurde dieser Status allen B. aberkannt. Nach heftigen Protesten wurde das Recht auf die Stauropegie den B. von Lemberg und Wilna allerdings wieder bestätigt (1626).
Die soziale Basis der B. war nicht homogen. In In Lemberg spielte das Bürgertum zunächst eine exklusive Rolle, danach änderte sich der Charakter der B. durch die Nobilitierung der Mitglieder sowie durch die Aufnahme von Vertretern des Adels (poln. szlachta). In Wolynien war die Rolle des Adels bei den Aktivitäten der B. von Anfang an von Bedeutung. Eine einmalige Konstellation entstand in Kiew, wo Hetman Petro Sahajdačnyj mit dem ganzen Kosakenheer von ja Zaporižžja in die „Gotteserscheinungs-Bruderschaft“ (›Bogojavlensʹke-Bratstvo‹) eintrat. Die andere Besonderheit der Kiewer B. war die relativ starke Position des Klerus, während in Lemberg selbst der Eintritt eines Klerikers in die B. eine absolute Ausnahme darstellte. Die Mitglieder der „Himmelfahrts-Bruderschaft“ von Lemberg und der nach ihrem Muster organisierten B. versuchten, die Kleriker zu wählen, zu kontrollieren und bei Gelegenheit auch absetzen. Darauf bezieht sich die Bemerkung eines Kritikers der B.en, der sagte, dass in der orthodoxen Kirche nicht der Klerus das Volk verwaltet, sondern umgekehrt das Volk den Klerus.
Zu den wichtigsten Aktivitäten der B. gehörten die Bildung (Bruderschaftsschulen), das Buchwesen und die Wohltätigkeit. Das Buchwesen der B. entsprach der Aufgabe, die Gläubigen mit orthodoxen liturgischen Büchern zu versehen sowie Schulbücher zu drucken. Schon 1585 kaufte die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ von Lemberg die verpfändete Druckerei Ivan Fëdorovs; die erste Publikation erschien 1591. Zwischen 1608 und 1616 erschienen in dieser Druckerei elf Bücher, zwischen 1616 und 1630 war der Buchdruck lahmgelegt, aber während der letzten siebzig Jahre des 17. Jh. wurden siebzig Bücher herausgegeben Die Versuche der anderen B., eigene Druckereien zu gründen, blieben kurzlebig (Lucʹk) oder ergebnislos (Przemyśl). . In Kiew hatten die Geistlichen und nicht die Bruderschaftsmitglieder die Kontrolle über den Buchdruck. Die Bildungsaktivitäten der „Gotteserscheinungs-Bruderschaft“ wurden durch die Vereinigung der Bruderschaftsschule mit der Schule des Höhlenklosters eingeschränkt. Der aus dem Buchverkauf erzielte Gewinn spielte eine wichtige Rolle bei der Selbstfinanzierung der B.
Mit dem Übertritt der orthodoxen Diözese zur Kirchenunion Ende des 17. und Anfang des 18. Jh. begann auch der Übertritt der B. zur Kirchenunion. So trat 1708 die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ von Lemberg zur Kirchenunion über; 1709 wurde sie von Papst Clemens XI. unter seine eigene Jurisdiktion genommen. Nach der ersten Teilung Polen (1772) unterstanden die B. in Galizien dem österreichischen Recht. Im Rahmen der Josephinischen Reformen wurden die B. 1788 aufgelöst. Die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ von Lemberg wurde ins Stauropegie-Institut verwandelt, dessen Gründung von Kaiser Joseph II. 1793 genehmigt wurde.
Die Darstellung der B. in der Geschichtsschreibung ist eher asymmetrisch. Den größten Teil der vor 1917 erschienen ukrainischen und russischen Literatur stellt die Geschichte einzelner B. dar. Solche Chroniken wurden oft von den Historikern geschrieben, die sich selbst mit der Tradition der B. identifizierten. Eine Gesamtdarstellung der B. im ostslawischen Bereich fehlte, und das den Bruderschaftsschulen gewidmete Buch von Charlampovič konnte diese Lücke nicht schließen. Aus der sowjetischen Geschichtsschreibung bewahrt die 1966 veröffentlichte Studie J. D. Isaevyčs ihre Bedeutung.
Im Mittelpunkt der Darstellung steht wegen ihrer Musterrolle und wegen des ausgezeichneten Zustands ihres Archivs die „Himmelfahrts-Bruderschaft“ von Lemberg. Dies provozierte die Kritik des polnischen Historikers J. Bardach, der bemerkte, dass, „selbst wenn das orthodoxe Bürgertum von Lemberg die Initiative ergriff, selbst wenn die bürgerliche Stauropegie von Lemberg einen Mustertyp der B. schuf (...), das Bürgertum im Allgemeinen in südöstlichen Gebieten der Rzeczpospolita zu einer führenden Funktion in der ukrainischen kulturell-religiösen Bewegung nicht fähig war“. Der Historiker merkte auch an, dass die B. keine Massenorganisationen darstellten und dass die Bruderschaft von Lemberg niemals mehr als 50 Mitglieder zählte. Ohne die konfessionelle Rolle der B. in Frage zu stellen, wies Bardach auf die „Formierung des neuzeitlichen nationalen Bewusstseins“ als auf den Kontext der Aktivitäten der B. hin. Dies soll auch erklären, warum einige B. (darunter die Lemberger) auch nach ihrem Übertritt zur Kirchenunion ihr Ansehen nicht verloren. Diese Frage hat die Geschichtswissenschaft jedoch bis in die Gegenwart nicht wirklich beantwortet.
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