Homosexualität

Homosexualität

(Teilbeitrag Russland und Sowjetunion)

Inhaltsverzeichnis

1 Forschungsstand

H. wird in Russland erst seit der Perestroika wieder öffentlich thematisiert und wissenschaftlich erforscht. Damit vollzieht sich in Russland eine im Unterschied zu Westeuropa und den USA verspätete Rezeption und Wirkung im gesamtgesellschaftlichen Kontext. In den westlichen Ländern werden seit einigen Jahren die thematisch-methodologischen Voraussetzungen zur Erforschung des Phänomens innerhalb seines kulturgeschichtlichen Kontextes geschaffen. Federführend ist dabei die sich inzwischen aus der Genderforschung herauslösende ›Queer Theory‹. Entscheidend für die Erkundung des Phänomens H. in Russland ist das Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Die oder der Homosexuelle verließen im allgemeinen die Peripherie (das Dorf) und zogen ins Zentrum (liberale Großstädte, wie Moskau und Petersburg), ausschließlich hier bildeten sich homosexuelle Kreise heraus. Im kulturellen Bewusstsein Russlands halten sich auch bis heute stereotype Vorstellungen vom großstädtischen Zentrum als Ort der Unmoral einerseits, vom Dorf als Ort der Natürlichkeit und moralischen Normentsprechung andererseits. Die Sowjetrepubliken blieben im wesentlichen Orte der Peripherie. Nach der Perestroika wurde die homosexuelle Emanzipation hier stark überlagert von der nationalen Emanzipation. Eine Aufarbeitung des homosexuellen Untergrunds zu Sowjetzeiten ist kaum vollzogen. Eine weitere Besonderheit der Diskussion über H. in Russland ist, dass diese v. a. in der Literatur geführt wird und daneben sich allenfalls noch in juristischen Texten wiederspiegelt. Die soziologische Forschung zur H. steht weitgehend noch in den Anfängen, entziehen sich hier doch die „Untersuchungsobjekte“ aufgrund jahrelanger Verfolgung häufig dem wissenschaftlichen Zugriff.

2 Rechtslage

Im Mittelalter gaben in Russland biblische Vorgaben, v. a. der Bericht von Sodom und Gomorrha (Gen. 19) die Rechtsgrundlage für die Bewertung der H. Männliche H. galt als verwerflicher als weibliche. Als besonders abartig galt die Einnahme der passiven Position durch den Mann. Als Sühne wurde v. a. Fasten und Geißelung empfohlen. Direkte strafrechtliche Sanktionen waren bis zur Regierungszeit Ivan IV. Groznyjs (1547-84) nicht vorgesehen.

Nach dem noch bis zu Beginn des 20. Jh. gültigen zaristischen Strafgesetzbuch (§ 995) war homosexueller Verkehr zwischen Männern mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu ahnden. Das nachrevolutionäre Sowjetrussland verhielt sich zur H. zunächst relativ liberal. Zwischen 1917 und 1933 gab es keinerlei Strafverfolgung für freiwilligen homosexuellen Verkehr zwischen Männern. Die Sowjetunion nahm damit zu dieser Zeit sogar eine Vorreiterrolle gegenüber Westeuropa ein. Russische Wissenschaftler plädierten auf internationalen Kongressen für eine Liberalisierung des Strafrechts. Sie forderten die homosexuelle als Teil der Befreiung von jeder Form der Unterdrückung. Ab den 30er Jahren aber wurden wieder traditionelle Familienbeziehungen und Geschlechterrollen propagiert. Paragraph 121 regelte die erneute Strafverfolgung männlicher H. Lesbischsein galt dagegen in einer Gesellschaft, die die Verweigerung von Mutterschaft nicht tolerierte, v. a. als geistige Störung.

Mit Beginn der 90er Jahre des 20. Jh. wurde die Gesetzgebung nach und nach gelockert. Gleichgeschlechtlicher Verkehr unter erwachsenen Männern steht seit 1993 nicht mehr unter Strafe.

3 Organisationsformen

Homosexuelle Gruppenbildungen sind in Russland ab dem 19. Jh. bekannt. So bestand etwa in St. Petersburg ein homosexueller Kreis um den holländischen Botschafter Jacob T. van Heeckeren. Auch offizielle Vertreter des Geistes- und politischen Lebens Russlands verkehrten in homosexuellen Zirkeln, wie der Bildungsminister Sergej S. Uvarov und der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften Prinz Michail Dondukov-Korsakov einerseits, der Maler Aleksandr A. Ivanov, der Komponist Tschaikowsky (Pëtr I. Čajkovskij), der Schriftsteller Vladimir P. Meščerskij und Dichter Aleksej N. Apuchtin andererseits.

Die Wirkung dieser Zirkel war, beschränkt auf einen engen Kreis, relativ gering. Dies änderte sich zu Beginn des 20. Jh., als in Russland in kurzer Zeit zahlreiche literarische Salons, Gruppen und Zirkel entstanden, die mit kulturphilosophischen Konzepten, in denen sie sich u. a. mit H. auseinandersetzten, auftraten (vgl. IV). Besonders bekannt geworden sind hier die sog. Hafiz-Abende im „Turm“ des Symbolisten Vjačeslav I. Ivanov, an denen u. a. der Schriftsteller Michail A. Kuzmin, der Maler Konstantin A. Somov, der Übersetzer Johannes von Guenther und der Dichter Sergej M. Gorodeckij teilnahmen.

Ab den 30er Jahren waren homosexuelle Gruppenbildungen nur in der Subkultur möglich, deren Verzweigungen noch kaum erforscht sind. Nach der Perestroika kam es zur Bildung einer kaum überschaubaren Zahl von Organisationen.

Die homosexuelle Emanzipation in Russland unterscheidet sich deutlich von der in der westlichen Welt. So sind in der russischen Frauen- und lesbischen Emanzipationsbewegung spezielle feministische Fragestellungen nicht präsent. Lesbische Frauen in Russland bezeichnen sich selbst vorwiegend als transsexuell, gleichzeitig haben Untersuchungen gezeigt, daß diese Frauen kaum einen Geschlechtswechsel anstreben bzw. sich als Mann fühlen. Diese Disparitäten der Definitionen beruhen auch auf den in Russland sehr stark verbreiteten Vorstellungen vom effeminierten Schwulen und der maskulinen Lesbe. Die homosexuelle Emanzipationsbewegung in Russland kennzeichnet weiterhin ein großer Gegensatz zwischen konformistischen und nonkonformistischen homosexuellen Organisationen.

4 Philosophische Theorien

Das Fin de siècle v. a. eröffnete die philosophische Diskussion um Geschlechterfragen in der gebildeten Öffentlichkeit. Vorstellungen eines zu gleichen Teilen männlichen und weiblichen Wesens Mensch charakterisieren den russischen Symbolismus und hier v. a. die Theorien Vladimir S. Solovʹëvs und Dmitrij S. Merežkovskijs. Um Toleranz kreist Vasilij V. Rozanovs „Menschen des Mondlichts“ (russ. Ljudi lunnogo sveta, 1911), der hier die H. gleichzeitig mit dem Attribut der Göttlichkeit versieht.

Zur Überwindung der Geschlechtergrenzen wurden auch neue Familienformen diskutiert. So experimentierten etwa die Eheleute Vjačeslav Ivanov und Lidija D. Zinovʹeva-Annibal mit einer Lebensgemeinschaft zu Dritt.

5 Literatur

Am prononciertesten wurde und wird H. in Russland in der Literatur thematisiert. Die Literaturwissenschaft, beispielsweise hat sich der Erforschung der H. zuerst angenommen. So spekulierte der Slawist Simon Karlinsky über eine H. Nikolaj V. Gogolʹs und deren mögliche Auswirkung auf sein Werk. Der Schriftstellerin Nadežda A. Durova, die, so die Überlieferung, in Männerkleidern in die napoleonischen Kriege zog, schreibt man eine lesbische Identität zu.

Russlands erster Homosexuellenroman stammt von M. Kuzmin. In „Flügel“ (russ. Krylʹja, 1905) wollte er H. als „einen Aspekt der nationalen Kultur Russlands und der sexuellen Spezifik der 'Russen' gestalten“ (Sergl 1998, 106). Zinovʹeva-Annibals „Dreiunddreißig Ungeheuer“ (russ. Tridcatʹ tri uroda) von 1906 gilt als Manifest lesbischer Liebe. Weibliche H. wurde ebenso von Ljudmila Vilʹkina (Minskaja) und den Dichterinnen Sofija J. Parnok und Marina I. Cvetaeva (Lettre à l'Amazone, 1932/34) thematisiert.

Dichterische Bearbeitungen homosexueller Beziehungen sind v. a. aus dem Bereich der „Lagersexualität“ bekannt und wurden meist anonym verfasst. Als bekanntester homosexueller Autor der Nachkriegszeit gilt Evgenij V. Charitonov. Neuere Texte stammen von Dmitrij A. Prigov, Ljudmila Voroncova, Olʹga Krauze, Aleksander Šatalov, Konstantin Plechanov, Timur Novikov, Nikolaj Koljada und Ėduard V. Limonov.

Essig L. 1999: Queer in Russia: A Study of Sex, Self, and the Other. Durham. Karlinsky S. 1976: The Sexual Labyrinth of Nikolai Gogol. Cambridge. Levin E. 1989: Sex and Society in the World of the Orthodox Slaves, 900–1700. Ithaca. Seidel-Dreffke B. 1998: Homosexualität bei Wasili W. Rosanow. Ein tabuisiertes Kapitel russischer Kulturgeschichte. Forum Homosexualität und Literatur 32, 21–32. Sergl A. 1998: Homosexualität und ästhetische Wertbildung bei M. A. Kuzmin. Zeitschrift für Slavische Philologie 57/1, 105–132.

(Björn Seidel-Dreffke)


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