Solovʹëv, Vladimir Sergeevič

Solovʹëv, Vladimir Sergeevič; *16.1.1853 Moskau †31.7.1900 Uzkoe (bei Moskau).

Die russische Philosophie konnte sich mit der Rückgabe der Autonomie an die Universitäten 1863 erstmals frei von staatlicher und kirchlicher Bevormundung entfalten, bis sie durch die sowjetische Repression ins Exil oder zum Verstummen gezwungen wurde. Ihr bedeutendster Vertreter des 19. Jh. ist der spätidealistische Religionsphilosoph und frühsymbolistische Dichter S., dessen Schaffen alle philosophischen Disziplinen umfasst. Der Begriff Sophiologie, der seit Mitte der 20er Jahre für die Lehre von der Göttlichen Weisheit ›Sophia‹ gebräuchlich ist, kann retrospektiv auf S.s Werk angewandt werden, das die russische Philosophie des Jahrhundertbeginns (Berdjaev, S. Bulgakov, S. Frank, Rozanov u. a.) sowie den mythopoetischen Symbolismus (v. a. Blok, Belyj, Vjačeslav Ivanov) prägte und auch auf die westeuropäische Theologie (Hans Urs v. Balthasar, Karl Pfleger) und Literatur (Albert Steffen, Robert Hugh Benson) wirkte. Der 1853 als Sohn des großen Historikers Sergej Solovʹëv in Moskau geborene S. war in der Kindheit hoch religiös. Die Wende zu radikalem Positivismus und Materialismus stürzte den jungen Mann in verzweifelten Erkenntnisskeptizismus, aus welchem ihn Überlegungen zur Realität metaphysischer Erkenntnis herausführten, auf deren Basis er eine Religionsphilosophie entwickelte. Mit dem Wechsel des Studiums von der naturwissenschaftlichen zur historisch-philologischen Fakultät 1871 und dem Gaststudium an der geistlichen Akademie in Sergiev Posad 1873 nahm die Sophienidee Gestalt an. Seine Magisterarbeit „Die Krisis der westlichen Philosophie“ (russ. Krizis zapadnoj filosofii, 1874) zeigt nur ex negativo die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis auf, ohne die bereits im Hintergrund stehende Sophienidee zu berühren.

1875 verließ S. die Dozentur und studierte in London alte Schriften über Sophia. Wie der mystisch veranlagte S. in seinem berühmten Poem „Die drei Begegnungen“ (russ. Tri svidanija, 1898) berichtet, erschien ihm dort wie einmal zuvor in der Kindheit Sophia und forderte ihn auf, nach Ägypten zu reisen, wo er dann seine dritte und umfassendste Vision erlebte. S. baute ein umfassendes sophianisches Weltbild auf, das sich synkretistisch aus der Tradition der Kirchenväter, der Bibelexegese, der christlichen Mystik und Gnosis sowie der idealistischen Philosophie Schellings u. a. speist. Er versteht Sophia als göttlichen Geistleib, der das Urbild der Menschheit und zugleich ihr Ziel der universalen, eschatologischen Kirche und das Mittel zu ihrer Verwirklichung, Christi Auferstehungsleib, ist, dank dessen sich die gefallene Menschheit progressiv in der Geschichte vergöttlicht. S. entwickelte seine Sophiendeutung in den Entwürfen ›La Sophia‹ (1875/76), den „Vorlesungen über das Gottmenschentum“ (russ. Čtenija o Bogočelovečestve, 1877–81) sowie 1889 in ›La Russie et lʼéglise universelle‹, wobei die Sophienidee zunehmend philosophischer gefasst und von gnostischen Elementen gereinigt wird. Der Sophienbegriff liegt aber auch den Schriften zugrunde, in denen er nicht erwähnt wird, wie der Doktordissertation „Kritik der abstrakten Prinzipien“ (russ. Kritika otvlečennych načal, 1880) und den Schriften zur Ethik, Anthropologie, ökumenischen Kirchenpolitik und Ästhetik. S. versuchte, seine Weltanschauung konsequent im Leben umzusetzen, wie etwa sein persönliches Engagement zur Vereinigung der Kirchen oder sein Eintreten für die Begnadigung der Zarenmörder 1881, was die universitäre Laufbahn des charismatisch wirkenden Dozenten beendete, zeigen.

S.s Philosophie verläuft in drei Phasen, die bei gleichbleibenden Konstanten eine Umstrukturierung des Systems auf der Grundlage des sich wandelnden Trinitätsverständnisses bedeuten. Nach der Frühphase mit der Genese des Sophienbegriffs orientiert er sich an der orthodoxen, dann zunehmend der katholischen Dogmatik. In einer vierten Phase, die nur in einem literarischen Werk, „Die drei Gespräche...“ mit der „Erzählung vom Antichristen“ (russ. Kritika Tri razgovora..., Kratkaja povestʼ ob Antichriste‹, 1899/1900), Gestalt angenommen hat, bricht sein System unmittelbar vor seinem Tod zusammen. In diesem von apokalyptischen Ahnungen erfüllten, bis heute wirkungsstarken Werk verwirft S. die Leitidee des sophianischen Vergöttlichungsprozesses und kehrt zur dogmatischen Tradition mit Antichrist, Gericht und Wiederkehr zurück. Diesem Wandel ist auch seine Einstellung zum Messianismus unterworfen, die sich von einem slavophilen über einen russisch-katholischen Standpunkt zu seiner Ablehnung entwickelt. Eine Problematisierung seiner Systemphilosophie findet sich schon in früheren Dichtungen, welche die Sophiologie nicht nur abbilden, sondern sie um Aspekte bereichern und auch ihre „Nachtseite“ beleuchten. S.s Werk will aus dem Zusammenspiel von Philosophie und Dichtung verstanden werden. Nach der Revolution musste sich die Auseinandersetzung mit S.s Werk im Ausland fortsetzen. Erst seit der Perestrojka erfährt die S.-rezeption mit der Rückbesinnung auf die Kultur vor der Revolution in Philosophie und Orthodoxie, aber auch in der Literatur eine neue Blüte. International hat sich im Gefolge des S.-Jubiläums 2000 eine rege wissenschaftliche Forschung zum Werk des Denkers entwickelt.

Goerdt W. 1984: Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke. Freiburg.

(Henrieke Stahl)


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