Kurische Nehrung
Kurische Nehrung (litau. Kuršių nerija, russ. Kuršskaja kosa); gut 97 km lange, schmale Landzunge an der Ostseeküste zwischen Kaliningrad und Klaipeda, die jeweils etwa zur Hälfte zu Russland (Kaliningradskaja oblastʹ) und zu Litauen gehört und das Kurische Haff von der Ostsee trennt.
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1 Geographie
Entstanden ist die Landzunge am Ende der letzten Eiszeit vor rd. 12.000 Jahren in Folge der Gletscherschmelze aus Endmoränenhügeln, an die im Laufe der Zeit vom Westwind Sand angeweht wurde. Die Gesamtfläche erstreckt sich über 176 km² und wird von gut 2 km³ Sand bedeckt.
Die breiteste Stelle der Halbinsel beträgt 3,8 km am „Bullwikscher Haken“ (litau. Bulvikio ragas), 4 km nördlich der Gemeinde Nida auf der litauischen Seite, und die mit 380 m schmalste Stelle liegt auf der russischen Seite bei Lesnoe, wo die Ostsee bei Sturmfluten den Landstreifen häufig überspült. Der Durchlass zwischen der K.n N. und der Hafenstadt Klaipeda, wo sich das Kurische Haff mit der Ostsee vereinigt, hat eine Breite von 500 m; im Süden bei Zelenogradsk (dt. hist. Cranz) verbindet sich die K. N. mit der Halbinsel Samland.Auf der litauischen Seite liegen heute von Nord nach Süd die Ortschaften Smiltynė (dt. hist. Sandkrug), die zu Klaipeda gehört sowie Alksnynė (dt. hist. Erlenhorst), Juodkrantė (dt. hist. Schwarzort), Pervalka (dt. hist. Perwalk), Preila (dt. hist. Preil) und Nida (dt. hist. Nidden), die 1961 zur Großgemeinde Neringa zusammengeschlossen wurde und damit den Namen der schönen Riesin trägt, die der Sage nach die K. N. zum Schutz der Fischer vor der stürmischen Ostsee geschaffen haben soll. Mit ca. 50 km Länge wird Neringa scherzhaft als längste Stadt Litauens bezeichnet. Die Einwohnerzahl beläuft sich dabei jedoch nur auf ca. 2600 (2003) ständige Einwohner, während die Zahl der Besucher im Sommer täglich etwa bei 10.000 liegt, Tendenz steigend. Die Breite des durchgängigen, feinsandigen Strandes zur Ostsee liegt zwischen 10–50 m, während die Seite zum Haff hin größtenteils bewachsen ist.
Die Grenze zu Russland verläuft nördlich von Kap Grobštas analog der administrativen Grenzlinie, die 1252 schon der Deutsche Orden gezogen hatte. Im russischen Teil liegen die Orte Morskoe (dt. hist. Pillkoppen), der für seine Vogelwarte berühmt war, sowie Rybačij (dt. hist. Rossitten) und Lesnoe (dt. hist. Sarkau). Die russische Seite der Halbinsel steht seit 1987 komplett unter Naturschutz und auf der litauischen wurde 1991 direkt nach der Unabhängigkeit auf Parlamentsbeschluss der „Nationalpark K. N.“ (Kuršių nėrijos nacionalinis parkas) eingerichtet. Im Jahr 2000 wurde die gesamte K. N. von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt.
Russische Erdöl-Förderpläne, von einer Bohrplattform aus, die nur 22 km von der Nehrungsküste entfernt liegt (angestrebte Fördermenge bis 2007: 600.000 t), rufen derzeit bei Umweltschutzverbänden und Politikern große Befürchtungen um die ökologische Sicherheit des Küstenabschnittes hervor.
Auf der K. N. herrscht Meeresklima. Die höchsten Temperaturen werden im August mit durchschnittlich 17 °C und die kältesten im Januar mit ca. –2,5 °C gemessen, bei gleichzeitig mehr Sonnentagen als auf dem Festland. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt 660 mm.
Die besonderen klimatischen Bedingungen und die geschützte Lage begünstigen eine besondere Flora mit rd. 700 Pflanzenarten, von denen zahlreiche für die wandernden Sandflächen oder die salzhaltigen Küstenböden charakteristisch sind, sowie eine außergewöhnliche Fauna, die v. a. durch vielfältige Vogelarten, u. a. große Reiher- und Kormorankolonien, zum Ausdruck kommt. Aber auch – wenige – Elche haben noch ihre Heimat in den wieder bestehenden Kiefern- und Birkenwäldern.
Ursprünglich dicht bewaldet, setzten mit dem Eintreffen des Deutschen Ordens im Mittelalter erste Rodungen ein, die später unter dem „Großen Kurfürsten“ (Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1640–88) verstärkt vorgenommen wurden, bis dann die größten Teile der Wälder dem zaristischen Flottenbauprogramm während des Siebenjährigen Krieges (1756–63) zum Opfer fielen. Das führte zur weitestgehenden Erosion des Lößbodens und Versandung der Küste bis hin zur Bildung der mächtigen Wanderdünenlandschaften mit fast 60 m Höhe, für die die K. N. heute bekannt ist. Ende des 18. Jh. setzten erste Aufforstungsmaßnahmen ein, zunächst im Norden der Halbinsel zum Schutz des Klaipedaer Hafens. Im 19. Jh. wurde zur Befestigung des Flugsandes ein System aus künstlich angelegten Vordünen entwickelt, die anschließend mit Kiefern bepflanzt werden konnten. Zwischen 1706–1846 fielen nichts desto weniger sieben Dörfer den sich bis zu sechs Metern im Jahr bewegenden Sandmassen zum Opfer; einige Ortschaften wurden an anderer Stelle wieder aufgebaut. Erst um 1870 wurde unter der Leitung von Franz Wilhelm Epha, dem sog. „Dünenkönig“ großflächige Aufforstungsarbeiten begonnen. Nahe des „Parniddener Berges“ (litau. Parnidos kopa), liegt das sog. „Tal des Schweigens“ (litau. Mirties slėnis), in dem 1870–72 in Reaktion auf die Internierung deutscher Kriegsgefangener in Nordafrika ein Lager für französische Kriegsgefangene bestand, die zu Bepflanzungsarbeiten herangezogen wurden. Dieser Teil der K. N. heißt noch heute „Litauische Sahara“. Inzwischen sind wieder rd. 66 % der Halbinsel bewaldet (dies entspricht ca. 11.650 ha) und nur noch rd. 14,5 % Sanddünen.
2 Kulturgeschichte
Erste Siedlungsspuren auf der K. N. finden sich aus etwa der zweiten Hälfte des 3. Jt. v. Chr. Erstmals erwähnt wurde die K. N. (›neria curoniensis‹) in der sog. Livländischen Reimchronik aus der zweiten Hälfte des 12. Jh. Ab Mitte des 13. Jh. gehörte die Nehrung zum Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens. Sie unterstand dem Bistum Kurland, der Süden wurde dabei von Samland, der Norden von Memel aus verwaltet. Der Orden, für den sie als Verbindungsweg nach Kur- und Livland Bedeutung hatte, errichtete hier mehrere Burgen (u. a. bei Rossitten) und begünstigte so den Ausbau kleiner Fischersiedlungen. 1525 wurde die K. N. Teil des Herzogtums Preußen (später Ostpreußen).
Die Funktion als Verkehrsweg und Heerstraße behielt die K. N. über die folgenden Jahrhunderte bei. Im Verlauf der Nordischen und Napoleonischen Kriege stand sie wiederholt unter schwedischer, russischer und französischer Besatzung. Nach Ende des Ersten Weltkrieges stand die K. N. ab 1920 unter alliierter (französischer) Verwaltung. Nach der Annexion des Memelgebiets 1923 kam auch der Nordteil der Nehrung unter litauische Hoheit.
Zwischen 1939 und 1945 war die gesamte Nehrung Teil des Deutschen Reiches. Zu Ende des Zweiten Weltkrieges fiel sie an die Sowjetunion: der Norden wurde der Litauischen SSR, der Süden der RSFSR angegliedert. Nachdem 1945 der Großteil der Nehrungs-Bevölkerung nach Deutschland geflohen war, erfolgte ab den 1950er Jahren eine Neubesiedlung der Ortschaften durch litauische und russische Bevölkerung. Die durch das Kriegsgeschehen stark zerstörte Nehrung wurde 1966/67 Naturschutzgebiet, der russische Teil war bis 1990 als Raketenstützpunkt auch militärisches Sperrgebiet.
Die ursprüngliche Bevölkerung war kurischer und altpreußischer Herkunft und ist im Verlauf des Mittelalters in anderen Ethnien aufgegangen (v. a. Letten und Deutschen). Den Lebensunterhalt bildete seit alters her der Fischfang, der v. a. auf dem Kurischen Haff mit speziellen kiellosen Booten, den sog. Kurenkähnen betrieben wurde. Während der kalten Jahreszeit, wenn das Haff zugefroren war, ernährten sich die Nehrungs-Bewohner aber auch vom Krähenfang, was ihnen den Namen „Krähenbeißer“ einbrachte. Reste der kurischen Kultur finden sich heute noch in den sog. hölzernen Kurenbrettern (als Grabtafeln) und Kurenwimpeln als Kennzeichen der Kurenkähne, die heute stilisiert gerne auf Häusern montiert werden sowie in einer reichen Sagentradition.
Die Gewinnung von Bernstein, der schon vor über 4000 Jahren für die Herstellung von Schmuck verwendet wurde, war ein weiterer Erwerbszweig der Bewohner der Nehrung, dessen Gewinnung ab 1860 verstärkt industriell betrieben wurde. Ab Ende des 19. Jh. kam auch der Tourismus hinzu, der heute die Haupteinnahmequelle der Nehrungs-Bewohner darstellt.
Schon früh hat die K. N. auch das Interesse von Intellektuellen und Künstlern geweckt. E. T. A. Hoffmann (›Das Majorat‹), Agnes Miegel (›Die Frauen von Nidden‹), Eduard von Keyserling (›Wellen‹), Walter Heymann (›Nehrungsbilder‹) oder Alfred Brust haben die Landschaft in ihren Werken verewigt. Der berühmteste Feriengast war aber sicher Thomas Mann, der in Nida die Sommer 1930–32 mit seiner Familie verbrachte. Zu Beginn des 19. Jh. traf sich hier außerdem eine Künstlerkolonie, zu der u. a. die Expressionisten Karl Eulenstein, Lovis Corinth, Ernst Mollenhauer, Karl Schmidt-Rottluff und Max Pechstein gehörten.
Mukienė D., Jonušienė V. T. (Hg.) 1998: Neringa. Vilnius. Rimantienė R 1999: Die Kurische Nehrung aus dem Blickwinkel des Archäologen. Vilnius.]