Kaliningrad (Stadt)

Kaliningrad (russ., bis 1946 Königsberg)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die Stadt K., Zentrum der gleichnamigen russischen Exklave umfasst 215,7 km² und zählt 423.651 Einwohner (2006). Die etwa 5 m ü. d. M. gelegene Stadt ist ein bedeutendes Zentrum des Fischfangs, der Schiffbau-, chemischen, Maschinenbau- und Möbelindustrie.

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Grenzen und Visa

K. liegt rund 600 km vom russischen Mutterland entfernt und ist von diesem durch drei Staatsgrenzen getrennt. Die Entfernung nach St. Petersburg beträgt 1000 km, nach Moskau 1200 km und nach Berlin 600 km.

Etwa 9 Mio. Grenzübertritte finden jährlich statt, meist von ein und derselben Gruppe von 12.000 Kleinhändlern durchgeführt. Ziel sind dabei Litauen und Polen, viel seltener aber Russland. Im November 2002 wurde die Zugangsregelung für K. am Brüsseler EU-Russland-Gipfel durch einen vorläufigen Kompromiss gelöst: es wurde die Einführung sog. FTD (Facilitated Travel Documents) beschlossen, wobei auch eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen vorgesehen war.

Die Einführung von Visa durch Litauen (01.07.2003) und Polen (01.10.2003) führte indirekt erstaunlicherweise zu Verbesserungen der Lage des Gebietes: Russland richtete neue Verkehrsverbindungen, insbesondere Flugverbindungen, zu günstigen Preisen ein, und Projekte sowohl der EU (TACIS) als auch Russlands zur Verbesserung der Infrastruktur und Verkehrsverbindungen wurden ins Leben gerufen. Damit erinnert die ökonomische Entwicklung des über fast eine Dekade völlig vernachlässigten Gebiets heute an die Anfangszeit der Reformen in den baltischen Staaten.

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Die ökonomische Entwicklung

K. als „Pilotregion“ zwischen Russland und EU ist das Motto, das sowohl russische als auch EU-Politiker gerne in den Mund nehmen, und dass die Debatte der nächsten Jahre bestimmen wird. Ihre Errichtung hat allerdings zur Voraussetzung, dass die Rahmenbedingungen des Gebiets in politischer und ökonomischer Hinsicht von Russland geändert werden. Eine dank des intensiven Lobbying seines ersten Gouverneurs 1993 etablierte Sonderwirtschaftszone konnte bisher die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen.

Die Wirtschaftslage des Gebiets lässt sich wie folgt zusammenfassen: Handel überwiegt über Industrieproduktion und der kleine Grenzverkehr ersetzt industrielle Entwicklung. In K. dominieren kleinere und mittlere Unternehmen, unter denen sich ca. 50–60 deutsche befinden. Für Deutschland und deutsche Investition in K. ist der emotionale Faktor wichtig. Mehr als 80 % der Industrie sind in der Stadt K. konzentriert. Bis heute ist die Stadt von etwa einem halben Dutzend Großunternehmen abhängig.

Dem Bemühen des ersten Gouverneurs Jurij S. Matoškin ist es zu verdanken, dass K. zur Sonderwirtschaftszone wurde: interessante Bedingungen boten sich dem Investor und Firmen wie BMW oder KIA machen heute davon Gebrauch: Sie führen Fertigteile ihrer Autos ein und lassen diese in K. zusammensetzen. Die im Dispositiv der Sonderwirtschaftszone erlaubte Wertsteigerung von 20 % wird somit genutzt und die Ware trotzdem vergleichsweise günstig in den russischen Markt exportiert.

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Die Regierung in Kaliningrad

In K. interferieren gegenwärtig vier Governance-Ebenen: die föderale, jene des Nord-West-Distrikts, die des Gebiets und schließlich die Kommunen, geführt von der Stadt K. Die föderale Ebene und der Distrikt stehen dabei für die russische Regierung. Der Distrikt mit der Hauptstadt St. Petersburg, seinem Gouverneur und dessen Bevollmächtigten im K.er Gebiet, spielt seit dem Amtsantritt des Präsidenten Vladimir Putin (2000) eine gewichtige Rolle. Ein Vertreter des Russischen Außenministeriums hat seinen Sitz in K., im täglichen Sprachgebrauch als „russische Botschaft“ bezeichnet.

Da sich Wirtschaft und Bevölkerung in der Stadt konzentrieren, kommt dieser im Gebiet die wichtigste Rolle zu. Daneben besteht der Oblast K., der in 13 Bezirke aufgeteilt ist. Die ungeklärten oder unlogischen Zuständigkeiten haben in K. besonders drastische Auswirkungen. So stellt das Gebiet hinsichtlich der Gesundheitslage – HIV, Tuberkulose etc. – traurige Rekorde auf, aber gleichzeitig ist eine Problemlösung durch die unübersichtlichen Zuständigkeiten unmöglich. Während die Kommunen für die Krankenhäuser zuständig sind, zeichnet Moskau für die Gefängnisse verantwortlich. Letztere sind in einem katastrophalen hygienischen Zustand, Aids und Tuberkulose sind weit verbreitet. Problematisch ist, dass die Föderationsebene sich des praktischen Problemlösungsbedarfs nicht bewusst ist. Die an der Grenze erforderlichen zwanzig Zollpapiere führen zu endlosen Schlangen und schrecken Investoren und Händler ab. Eine Normalisierung mit der EU wäre nötig. Unternehmen müssen heute bei der Niederlassung in K. zwanzig verschiedene Stellen aller Governance-Ebenen anlaufen. Wie eine Komödie wirkt schließlich die Tatsache, dass der K.er Energiekonzern der Baltischen Flotte in Baltijsk kurzzeitig den Strom abstellte, weil letztere ihre Stromrechnung nicht bezahlt hatte.

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Außenbeziehungen und Konsulate

Die Sondersituation ist in K. an den Außenvertretungen ablesbar: So gibt es sogar eine Vertretung des russischen Außenministeriums, und es bestehen Generalkonsulate Polens, Litauens und Dänemarks. Die Beschlüsse des EU-Russland-Gipfels im November 2002 werden zur Folge haben, dass Litauen bald sein Konsulat in K. ausweitet und ein zweites an dem wichtigen Grenzübergang Sovetsk eröffnet. Auch der Plan eines EU-Konsulats wird derzeit von den russischen Behörden evaluiert. Die Einrichtung einer deutschen Vertretung wurde dagegen über ein Jahrzehnt abgelehnt und erst im Februar 2004, mit dem symbolischen Anlass des Todestages von Kant, eröffnete der deutsche Außenminister eine deutsche Vertretung. Bis dahin bestand ersatzweise eine Vertretung der Hamburger Handelskammer, die Visa-Anträge entgegennahm und sie an die Deutsche Botschaft in Sankt Petersburg weiterleitete. Ebenfalls vor Ort besteht ein ›Deutsch–Russisches Haus‹, das Sprachunterricht organisiert und sich um die deutschen Aussiedler aus dem Osten kümmert und aus Mitteln des deutschen Bundesinnenministeriums finanziert wird.

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2 Kulturgeschichte

Die Burg Königsberg wurde 1255 vom Deutschen Orden erbaut und wurde nach König Otakar II. Přemysl benannt. Im Schutz der Burg entstanden die drei Städte Altstadt Königsberg, Löbenicht und Kneiphof, die sämtlich mit dem Kulmer Recht ausgestattet wurden und 1340 der Hanse beitraten. 1724 wurden die drei Gemeinden zu einer einzigen Stadtgemeinde vereinigt. Der Aufstieg K.s hing mit der Entwicklung des Deutschen Ordens zusammen: So führte der Verlust der Marienburg 1457 zur Verlegung des Sitzes der Hochmeister und zwischen 1525 und 1618 hatten die preußischen Herzöge ihren Sitz am Fluss Pregel. 1544 gründete Herzog Albrecht die Universität, die als ›Albertina‹ durch das Wirken Kants, der von 1755–96 hier lehrte, weltberühmt werden sollte. 1945 wurde die Einrichtung aufgelöst und erst 1967 wiederbegründet. 1701 und 1861 war Königsberg Krönungsstadt der preußischen Könige und im Zuge der Napoleonischen Kriege verlegte Preußen seine Hauptstadt von Berlin an diesen Ort. Die historische Innenstadt fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer, andere historische Bauten wurden in den 60er Jahren von der Sowjetunion vollends zerstört, so das 1287 begonnene Schloss und die Kirche St. Nikolaus aus dem 13. Jh. Die Dom-Ruine aus dem Jahr 1325, an der Kant begraben ist, konnte dagegen gesichert und ein Teil des Speicherviertels erhalten werden.

Im 20. Jh. wurde die deutsche Stadt Königsberg durch den Versailler Vertrag vom Reichsgebiet abgetrennt und somit erstmals Enklave. Der Zweite Weltkrieg besiegelte das Schicksal der früheren Königsstadt. Ähnlich wie Dresden wurde sie zu 90 % zerstört und ihre Bevölkerung ähnlich wie jene von Vicebsk nahezu vollständig vertrieben oder ausgelöscht. Es entstand die geschlossene militärische Zone K., benannt nach dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet von 1938–46, Michail I. Kalinin, der selbst das Gebiet nie betreten hat, aber im Juni 1946 verstarb. K. wurde am 02.08.1945 mit dem Potsdamer Abkommen zusammen mit dem nördlichen Teil Ostpreußens an die Sowjetunion abgetreten und in die RSFSR einverleibt. Es erfolgte ein kompletter Austausch von Bevölkerung und Sprache: das westgebundene Königsberg wich dem ostgebundenen K. Dieser Umstand wurde von der Bundesrepublik Deutschland in den frühen 70er Jahren mit den sog. Ostverträgen anerkannt. Die Perestroika führte zur Öffnung auch K.s: die geschlossene militärische Zone wurde abgeschafft Das Gebiet kehrte 1991 ebenso wie die geschlossenen sowjetischen Zonen Nischni Nowgorod und Wladiwostok auf die Landkarten zurück.

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Die Entmilitarisierung Kaliningrads

Die militärisch geschlossene Zone wurde aufgegeben und Militärbestände im Zuge der allgemeinen Reduzierung der russischen Truppenstärken drastisch eingeschränkt: von 200.000 (1990) ist sie bis auf 18.000 im Jahr 2000 zurückgegangen. Gerüchte über angebliche russische Nuklearwaffenstationierung zur Kompensation der konventionellen Schwäche und als Drohung gegen Baltikum und Nato-Staaten sind seit Ende 2001 verstummt. Noch bis Ende 2000 konnte man dagegen K. als einen fortbestehenden Ausdruck des erloschenen Ost-West-Konfliktes betrachten. Die unter Boris Jelzin geplante Ausweitung der militärischen Kooperation zwischen der Exklave und Weißrussland wurde eingestellt. Die Hypothek der sowjetmilitärischen Vergangenheit wiegt allerdings ökonomisch und mental schwer: es gilt, die militärischen Einrichtungen zu entsorgen, nicht-militärische Wirtschaftszweige zu profilieren und die ehemaligen Militärs einer zivilen Aufgabe zuzuführen. K. ist damit von einem militärischen Bedrohungsfaktor gegen den Westen zu einem Soft Security Problem geworden: es gilt, die Gesundheitsversorgung, den Grenzverkehr und die illegalen Aktivitäten in dem Gebiet zu kontrollieren – wobei unklar ist, ob das Image nicht negativer ist als die Realität.

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Perspektiven Kaliningrads

Seit 2002 sorgte K. wie niemals zuvor für Schlagzeilen: Als russische Enklave in EU und NATO ab April/Mai 2004 galt es, mit Russland zu einvernehmlichen Regelungen über den Zugang zum Gebiet sowie seine Entwicklung zu gelangen: eine doppelte Peripherie, ein Ostsee-Slum, ein Ort der Transitkriminalität stellt für beide Seiten, insbesondere aber die EU ein unannehmbares Risiko dar. Nach dem Kompromiss über die erleichterten Transitdokumente und der positiven Erfahrung mit der Anwendung der neuen Spielregeln seit Juli respektive Oktober 2003 stellt sich nun die Frage nach dem künftigen Status des Gebiets. In der öffentlichen Debatte wird die Zugehörigkeit K.s zu Russland dabei weder von Deutschland noch von anderen Mitgliedsstaaten der EU in Frage gestellt. Minderheiten in K. selbst wünschten einen anderen Status mit weit reichender Autonomie, wobei die Autonomievorstellungen bis hin zur Gründung einer vierten baltischen Republik reichen. Bis heute sind derlei Stimmen im Gebiet allerdings nicht mehrheitsfähig. Eine Änderung über die Jahrzehnte, begünstigt durch die geopolitische Sonderstellung ist allerdings nicht auszuschließen. Gegenwärtig gilt es, die Lebensbedingungen im Gebiet und seine Administration zu optimieren. Wenig beachtet wurde in der Debatte, dass K. keineswegs ein einzigartiges Phänomen darstellt, sondern dass Enklaven auf der Welt weit verbreitet sind. Diese über hundert Mitglieder zählende Gruppe ist mit ähnlichen Problemen konfrontiert: insbesondere mit dem des Zugangs, der Staatstätigkeit bzw. Regierungsführung, der besonderen Wirtschaftslage und der vom Mutterland abweichenden kulturellen Identität. Enklaven stellen territoriale und politische Diskontinuitäten dar und erfordern als solche Sonderregelungen. Für die Enklave K., deren militärischer Status seit Ende 2001 aufgegeben wurde, kann das folgendes bedeuten: Die viel zitierte Pilotregion ist durch die nahezu vollständige Aufgabe der militärischen Rolle K.s in den letzten Jahren erst möglich geworden. Eine Rückkehr der militärischen Bedeutung erscheint im Kontext der sicherheitspolitischen Entspannung im Baltikum wenig wahrscheinlich. Die darin enthaltene Chance einer Einbindung K.s in den allgemeinen Aufschwung der baltischen „Tigerstaaten“ kann allerdings nur genützt werden, wenn die administrative Handhabung des Gebiets und seiner Sonderwirtschaftszone verbessert wird.

bank baltika (http://www.baltica.koenig.su) (Stand 08.09.07). Bisnis (http://www.mac.doc.gov/bisnis) (Stand 08.09.07). Dörrenbächer H. 1995: Sonderwirtschaftszonen im Transformationsprozess Russlands: politische und ökonomische Erfolgsfaktoren und Erfolgshemmnisse am Beispiel der Sonderwirtschaftszone Jantar’ im Kaliningrader Gebiet. Diss. Berlin. Nies S. 2003: Kaliningrad – ne edinstvennyj enklav (Kaliningrad – a not very unique enclave), Pro I Kontra 8/2003, 90–110. Osteuropa (Hg.) 2003: Die Zukunft Kaliningrads. Konfliktschichten und Kooperationsfelder. Aachen. Samson I. (Hg.) 2000: Kaliningrad 2010. Concepts, prospects and recommendations for a global development plan. Grenoble. Schielberg S. 2002: Die Zukunft des Kaliningrader Gebiets im Spiegel der lokalen Presse. Kiel. Timmermann H. 2001: Kaliningrad: Eine Pilotregion für die Gestaltung der Partnerschaft EU–Russland. Berlin.

(Susanne Nies)

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