Turkmenen
Turkmenen (auch: Türkmenen)
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1 Einleitung
T. ist ein Begriff, der kollektiv für türkische Stämme verwendet wird, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart über weite Teile des Vorderen Orients, Irans und Zentralasiens verbreitet sind. Die Etymologie des Wortes ist nicht völlig geklärt. Muslimische Autoren des 10.−12. Jh. bezeichnen Angehörige der Stammesföderation der Oghusen, die den Islam angenommen hatten, als T. Im 13. Jh. hatte T. die Bezeichnung Oghusen bereits verdrängt.
2 Herkunft
Mit den Eroberungen der Seldschuken und während ihrer Herrschaft (11.−12. Jh.) migrierten zahlreiche oghusische/turkmenische Stammesgruppen aus Zentralasien nach Iran, nach Aserbaidschan, Kleinasien, Irak, Syrien und nach Nordafrika. Manche von ihnen assimilierten sich an die örtliche Bevölkerung, die meisten aber behielten ihre nomadische oder halb-nomadische Lebensweise bei. Politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen in dem genannten Raum waren die Folge, darunter der Beginn der Türkifizierung Aserbaidschans und Anatoliens. Turkmenische Fürstentümer spielten eine bedeutsame Rolle in den Auseinandersetzungen zwischen Kreuzfahrern, Byzantinern und Seldschuken bzw. deren Nachfolgestaaten. Die mongolischen Eroberungen unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern (ca. 1218−60) lösten eine zweite Welle turkmenischer Migration nach Westen und damit weitere tiefgreifende Veränderungen aus. In Kleinasien und zwischen dem armenischen Hochland und Nordsyrien entstanden ab 1300 neue halbautonome turkmenische Emirate, darunter jenes in Nordwestanatolien, aus dem das Osmanische Reich hervorging. Die meisten von ihnen wurden bis in die Regierungszeit Murāds II. (1421−51) in das osmanische Territorium inkorporiert. Meḥmed II. (1451−81) und Selīm I. (1512−20) annektierten die restlichen Emirate, wobei sie die Interessen der Safawiden in Iran und der Mamelucken in Ägypten/Syrien zurückdrängen bzw. ausschalten konnten. Eine Reihe von nichtsesshaften T.stämmen wechselten daraufhin auf safawidisches Gebiet über, nicht zuletzt wegen ihrer schiitischen Neigungen. Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jh. verloren die T. ihren Einfluss im Iran. Im Spannungsfeld der sunnitisch-schiitisch geprägten Auseinandersetzungen zwischen Osmanischem Reich und Safawidenreich, besonders im 16. Jh., entstand unter den T. aus einer Atmosphäre von traditionellem religiösen Synkretismus das Alevitentum in Anatolien, das heute generell als eigene Religion betrachtet wird.
Historisch von bedeutendem Gewicht sind auch die zwischen ca. 1330 und 1502 im Raum Ost- und Südostanatolien und Aserbaidschan begründeten Reiche, , die zeitweilig auch Irak umfassten und in ihrer Blütezeit bis weit nach Iran hineinreichten. Im Zusammenhang mit langen Auseinandersetzungen mit Mamelucken und Osmanen ist eine starke Remigration von turkmenischen Stämmen nach Osten zu verzeichnen, insbesondere nach Iran (14.−16. Jh.).
3 Zentralasien
Da es an historischen Belegen fehlt, ist es unmöglich, eine direkte Kontinuität von den Ogusen/T.der Seldschukenzeit zu den T. in nachmongolischer Zeit nachzuweisen. Auch für die Timuridenzeit (ca. 1370−1506) gibt es kaum Informationen für eine turkmenische Präsenz in Zentralasien. Die Geschichte der modernen Turkmenenstämme lässt sich erst seit dem 16./17. Jh. verfolgen, als diese offensichtlich aus den Rückzuggebieten an der Ostküste des Kaspischen Meeres in die Umgebung der Oasen von Turkmenistan und Xorazm (Usbekistan). migrierten und teilweise als Ackerbauern sesshaft wurden. Raubzüge von nichtsesshaften T.gruppen gegen das Khanat von Xiva und die benachbarten persischen Provinzen wurden mit Strafexpeditionen beantwortet. Russlands koloniale Expansion in Zentralasien machte Buchara, Xiva und Qo‘qon (usbek., russ. hist. Kokand) 1863–73 zu Protektoraten, 1881–84 mussten sich auch die bis dahin weitgehend autonomen Turkmenenstämme unterwerfen. Der Prozess der kontinuierlichen Neuzusammensetzung der Stämme (17.−19. Jh.) ist noch nicht ausreichend untersucht, auch demographische Angaben (19. Jh.) sind bisher lückenhaft. Im frühen 20. Jh. (Volkszählung von 1926) bildeten die Teke und Yomut 50 % der turkmenischen Gesamtbevölkerung.
1995 stellten 3,4 Mio. T. 77 % der 4,48 Mio. Einwohner Turkmenistans. Mit der 1991 gegründeten Republik Turkmenistan (zuvor Turkmenische Sozialistische Sowjetrepublik, gegr. 1924) besitzen die zentralasiatischen T. zum ersten Mal einen unabhängigen Staat, und die in der Sowjetzeit heruntergespielte Stammeszugehörigkeit spielt erneut eine Rolle. T. leben auch in anderen post-sowjetischen Republiken, insbesondere in Usbekistan und Kasachstan. Für Iran wird die Zahl der T. (v. a. Yomut und Göklen) gegenwärtig auf mehrere Hunderttausend geschätzt. Ein kleiner Teil der Bevölkerung Afghanistans dürfte noch immer aus Nachkommen der in den 1920er und 1930er Jahren aus der Sowjetunion geflohenen T. bestehen. Für die Republik Türkei sind keine genauen Zahlen bekannt, da T. nicht als eigene Minderheit gelten. Sie finden sich vor allem in W-, Mittel-, S- und SO-Anatolien und sind weitgehend sesshaft geworden. In Syrien und Libanon sind die T. gut belegt für das 11.−20. Jh. Erst seit der Besetzung des Irak durch US-Truppen 2003 findet die alteingesessene turkmenische Bevölkerung (v. a. um Kirkuk und Mosul) eine gewisse Aufmerksamkeit.
Bregel Y. 1981: Nomadic and sedentary elements among the Turkmens, Central Asiatic Journal 25, 5−37. Golden P. B. 1992: An introduction to the history of the Turkic peoples. Wiesbaden. Kellner–Heinkele B. 2000: Türkmen. Gibb, H. A. R. (Hg.):The Encyclopaedia of Islam. New Edition 10. Leiden, 682−686.