Westgoten
Westgoten (auch: Wisigoten, Wesegoten, Terwingen; latein. Visigothae, Vesegothae) Die Spaltung der Goten in die sog. Ost- und Westgoten erfolgte im 3. Jh. Wohl in dieser Zeit entstand das Volk der Terwingen (latein. Tervingi, „Waldleute“), das sich selbst als ›Vesi‹ (die Guten) bezeichnete. Es bildete die beherrschende und daher auch Namen gebende Volksgruppe, die sich mit Teilen der „Taifalen“ (latein. Taifali), Sarmaten, Iraner und kleinasiatischen Bevölkerungsgruppen zusammenschloss und die von der Forschung als terwingisch-vesische Völkergemeinschaft bezeichnet wird. Ihre geläufigere Bezeichnung als W. geht bereits zurück auf Cassiodor (6. Jh.), der den Namen ›Vesi‹ als westliche Goten deutete.
In der Zeit zwischen der Aufgabe der römischen Provinz Dacia (ca. 275) und dem Hunnensturm (376) siedelten die W. in der Region nördlich der unteren Donau und westlich des oberen Dnjestr. Durch Assimilation mit der dortigen provinzialrömischen Bevölkerung sowie den Handel mit den Nachbarprovinzen wurde die Romanisierung der W. gefördert.
Nachdem die W. unter Athanarich (†381) die Hunnen nicht zurückschlagen konnten, überschritt die Mehrheit unter Führung Fritigerns die Donau, um sich auf römischem Reichsboden anzusiedeln. Dies geschah ursprünglich mit römischer Duldung. Nach einer westgotischen Erhebung wandten sich die Römer gegen sie, unterlagen jedoch in der Schlacht von Adrianopel (9.8.378). Siedlungsversuche südlich der Donau scheiterten, so dass die W. seit etwa 390, getrieben von der Suche nach Land, zunächst das römische Ostreich durchzogen, um dann ab 401 auch das Westreich zu durchstreifen und schließlich unter Führung Alarichs Rom zu erobern (24.8.410) und drei Tage lang zu plündern. Der Fall Roms war ein Schock für die gesamte römische Welt, stellte jedoch für die W. insofern keinen Sieg dar, da er nicht ihr Problem einer dauerhaften Integration in das Römische Reich löste.Unter Athaulf, der die Stiefschwester des römischen Kaisers Honorius geheiratet hatte (414), zogen die W. nach Gallien. Während die durch die Heirat beabsichtigte Integration scheiterte, bildeten der Zug nach Gallien sowie der offiziell die dortige Ansiedlung billigende Vertrag mit den Römern (418) die Basis für das sog. Tolosanische Reich. Unter der Herrschaft Theoderichs I. und Theoderichs II. dehnte sich der Staat in dem Maße aus wie das weströmische Reich schwächer wurde. Seit 475 umfasste die westgotische Herrschaft den größten Teil der Pyrenäenhalbinsel, in Gallien die Region zwischen Atlantik, Rhone und Loire und seit 476 auch die Provence. Der Schwerpunkt des Reiches verlagerte sich zunehmend in Richtung Süden. Die Koexistenz mit der dort bereits ansässigen provinzialrömischen Bevölkerung verlief im Wesentlichen konfliktfrei. Bezogen auf die Organisation des Reiches griffen die W. vorhandene wirtschaftliche und soziale Strukturen auf und übernahmen römische Verwaltungseinrichtungen.
Da eine vollständige Konsolidierung jedoch nicht gelang, unterlagen die W. den mit den Burgundern verbündeten Franken unter Chlodwig in der Schlacht von Vouillé (507). Die Konsequenz dieser Niederlage war der Verlust des Großteils der gallischen Gebiete, eine noch stärkere Ansiedlung der W. in Spanien und damit der Beginn des sog. Toledanischen Reiches, in dem Toledo neues Zentrum des W.reiches wurde. Dieses dehnte sich aus; 585/6 wurde das Reich der Sweben eingegliedert, 625 die letzte byzantinische Enklave. Außenpolitisch relativ ereignislos, war das 7. Jh. die Zeit der fortschreitenden Verschmelzung gotischer und römischer bzw. romanischer Kultur. Dies geschah einerseits durch eine allmähliche Verschmelzung beider Ethnien und andererseits durch die Rechtssprechung. Spätestens durch das 654 unter König Reccesvinth erlassene Gesetzeswerk (›Liber Iudiciorum‹ oder ›Leges Visigothorum‹), das für alle Reichsbewohner Gültigkeit hatte, war der Aspekt der ethnischen Zugehörigkeit gegenüber der territorialen Zugehörigkeit in den Hintergrund gedrängt.
Seit etwa 700 war das Reich durch die näher kommende arabische Expansion bedroht. In der quellenmäßig nicht genau lokalisierbaren Schlacht am Fluss Guadalete (oder Rio Barbate) (23.7.711) unterlagen die W. den Arabern. Bis 715 war ein Großteil der Halbinsel unterworfen. Der Name der W. verlor an Bedeutung und wurde bereits in einer Chronik von 754 für die Zeit nach 711 nicht mehr verwendet.
Wolfram H. 2001: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. München. Bierbrauer V. 1994: Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.-7. Jahrhundert. Frühmittelalterliche Studien 28, 51–171.