Dokumentarfilm
Russland und Sowjetunion
Erste D.e werden in Russland bereits zu Beginn des 20. Jh. in der Verantwortung privater Unternehmen produziert. In deren Mittelpunkt steht meist die Zarenfamilie. Nach der Oktoberrevolution 1917 verschieben sich die Koordinaten der Filmproduktion zunächst eindeutig zugunsten des D.s, mit dem v. a. ideologische und didaktische Ziele verfolgt werden. Bevorzugte Genres sind Filmchronik, Rundschau und Filmreportage.
Einen Meilenstein in der Geschichte des sowjetischen D.s markiert 1919 die Gründung der Gruppe ›Kinoki‹, der später so bekannte D.er angehören wie: Elisaveta I. Svilova (1900-75), Michail A. Kaufman (1897-1970), Aleksandr G. Lemberg (1898-1974), Ivan I. Beljakov (1897-1967), Sergej P. Komarov (1891-1957), Ilʹja P. Kopalin (1900-76). Die Kinoki-Mitglieder sind richtungsweisend bei der Suche nach neuen filmischen Gestaltungsformen: Prinzip der „Überrumpelung“ des Lebens, Vielfalt in der Rhythmik der Handlung, Einsatz von Montageverfahren, Vorstellung neuer theoretischer Modelle. Auch Vertreter der „Formalen Schule“, wie Viktor Šklovskij und Jurij Tynjanov engagieren sich im Film.
Der D. ist in den 20er und 30er Jahren zentrales Medium für künstlerische Experimente. Besonders bekannt wird Dziga Vertov, der 1929 den Avantgardefilm „Mensch mit Kamera“ (russ. Čelovek s kinoapparatom) gestaltet. Thematisiert wird hier die Funktion einer Filmkamera, die – typisch für den Futurismus – unterschiedliche Aspekte sowjetischen Stadtlebens in den Blick nimmt. Einen Namen als D.erin macht sich ebenfalls Ėsfirʹ I. Šub (1894-1954). Ihr erster Tonfilm „Komsomol-Führer der Elektrifizierung“ (Komsomol-šef elektrifikacii, 1932) gilt als außergewöhnlich. Sie experimentiert hier mit den Einsatzmöglichkeiten der modernen Tontechnik. Die Struktur des Films gleicht einer mit verschiedenen Bildszenarien unterlegten Symphonie. Šub ist in der Verbindung von traditionellen mit neuen künstlerischen Ausdrucksformen beispielhaft für die D.entwicklung jener Zeit. Die für den Futurismus charakteristische Kombination visionärer und dokumentarischer Stoffe wird dabei allerdings nur selten angewandt.
Einen wichtigen Anteil an der D.produktion der 20er und 30er Jahre haben auch Landschafts- und Expeditionsfilme, die jedoch i. d. R. wenig künstlerische Innovation bergen, mit Ausnahme von z. B. Viktor A. Turins (1895-1945) ›Turksib‹ (1929) und Vladimir A. Erofeevs (1898-1940) Filme „Dach der Welt“ (Kryša mira, 1927) und „Das Herz Asiens“ (Serdce Azii, 1928).
Sind in den 20er Jahren v. a. das Typische und Allgemeine Gegenstand des D., so gerät in den 30er Jahren das Individuelle in den Blickpunkt. Ende der 30er Jahre kommt es zu einer Stagnation des D.schaffens. Der Sozialistische Realismus wird zur dominierenden und verpflichtenden Methode in der Kunst. Auch der D. hatte vorrangig die Aufgabe, ein den ideologischen Vorgaben entsprechendes „realistisches Bild“ des gesellschaftlichen Lebens zu zeigen und dabei Interessen und Geschmack eines Massenpublikums zu bedienen. Filmische Experimente werden nicht unterstützt bzw. verboten.
Eine neue Phase der D.kunst beginnt im Zweiten Weltkrieg, an dem zahlreiche Kameraleute teilnehmen und von der Front berichten. Ihre Produktionen stehen im Dienst der Propaganda, sie sollen die Bevölkerung zur Verteidigung der Heimat mobilisieren, den Überlegenheitsmythos der deutschen Armee untergraben und Heldenideale entwerfen. Mit den Kriegsjahren steigt das Interesse am Schicksal des einzelnen vom Krieg betroffenen Menschen. Die anfängliche Betonung der Schlachtszenen weicht psychologischen Charakterstudien. Besondere Bedeutung erlangen Ė. Šubs „Der Faschismus wird zerschlagen werden“ (russ. Fašizm budet razbit, 1941), I. Kopalins und Leonid V. Varlamovs (1907-62) „Die Zerschlagung der deutschen Truppen vor Moskau“ (Razgrom nemeckich vojsk pod Moskvoj, 1942) und Aleksandr Dovženkos „Der Kampf um unsere Sowjetukraine“ (Bitva za našu Sovetskuju Ukrainu, 1943).
Als Höhepunkt der Kriegsd.produktion gilt Ju. Rajzmans von der Entscheidungsschlacht um Berlin im April 1945 berichtende Film ›Berlin‹. Der Nachkriegsd. ist thematisch geprägt von der Erinnerung an den Krieg, der Abrechnung mit den Kriegsverbrechern und Trauer um die Opfer. Beispielhaft ist hier Roman Karmens und E. Svilovas „Gericht der Völker“ (Sud narodov, 1946). Eine zunehmende Rolle beginnt auch die Darstellung der freundschaftlichen Beziehungen zu den sozialistischen Bruderländern zu spielen. Gegenseitige Staatsbesuche werden zum zentralen filmischen Gegenstand.
Die nach der Entstalinisierung folgende „Tauwetterperiode“ führt zu einem Aufschwung in der D.produktion. Ins Zentrum der Betrachtung kommen nun ungewöhnliche, nicht mehr typische Menschenschicksale. Zum Manifest der neuen Richtung wird der Film ›Katjuša‹ (1964, Regie: Viktor Lisakovic). Porträtiert wird hier die im Zweiten Weltkrieg als Kundschafterin und Sanitäterin tätige Ärztin Ekaterina Demina. Im Mittelpunkt stehen ihre emotionalen Reaktionen. Seit 1954 leben die Genres des kritischen Filmfeuilletons und die Reportage auf. Meisterhafte Reportageaufnahmen schaffen z. B. R. Karmen, Igorʹ V. Bessarabov (*1919).
In den 60er Jahren werden erste dokumentarische Langzeitbeobachtungen gestaltet, d. h. im Mittelpunkt steht nicht mehr das Ereignis selbst, sondern seine Entstehungsgeschichte. Ebenso gewinnt die Theoriediskussion neue Impulse. Archive werden ausgewertet und führen zur Produktion von Kompilationsfilmen, z. B. „Der gewöhnliche Faschismus“ (Obyknovennyj fašizm, 1965, Regie: Michail Romm).
Die gesellschaftliche Stagnation der 70er bis Mitte der 80er Jahre spiegelt sich auch in der D.produktion wider. Die wachsende Abkehr von den großen gesellschaftlichen Idealen bedingt einen verstärkten Rückzug ins Private. Emotionale Einsamkeit kontrastiert mit plakativem Festhalten an sozialistischen Utopien. Beachtenswerte Akzente setzen Filme, die Frauenthemen in den Mittelpunkt stellen und sich insgesamt neuen Problemkreisen zuwenden wie verlorenen Idealen, Umweltkatastrophen u. ä. Bereits in den 60er und 70er Jahren erfahren Filme aus den verschiedenen Sowjetrepubliken ein verstärktes Interesse im In- und Ausland. Diese Filmproduktion wurde einerseits staatlich gefördert, andererseits gegen jegliche Separationsbestrebungen kontrolliert. Zu den Regisseuren, denen es dennoch gelingt, die Spezifik ihrer Heimat abzubilden, gehören z. B.: Malik Kajumov (Usbekistan, *1912), Bolotbek T. Šamšiev (Kirgisistan, *1941), Ara S. Vauni (Armenien, *1938), Vladimir P. Tatenko (Kasachstan, *1931), Emil Lotjanu (Moldawien, *1936), A. Slesarenko (Ukraine), Vitalij Kanevskij (Weißrussland, *1935), L. Saladze (Tadschikistan), Peep Puks (Estland, *1941).
Der Film der Perestroika ist v. a. der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit gewidmet, so z. B. „Die Macht der Solovki“ (Vlastʹ Soloveckaja, 1988).
Die Filme der 90er Jahre setzen andere Akzente und bringen eine neue Vergangenheitsnostalgie hervor. Im Mittelpunkt der D. stehen Erinnerungen an glorreiche Zeiten russischer Geschichte (Zarenzeit und Zweiter Weltkrieg) und vielfach militärische Symbolik (z. B. die Kosakenverbände). Es werden aber auch neue gestalterische Wege gesucht, wie der Film „Dienstpflicht“ (Povinnostʹ, 1998) von Aleksandr N. Sokurov (*1951) beispielhaft zeigt, der die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion aufhebt. Internationale Beachtung finden u. a. folgende junge D.er: Artur Aristakisjan (*1961) mit „Handflächen“ (Ladoni, 1993), Viktor Kosakovskij (*1961) mit „Mittwoch“ (Sreda, 1996), Larisa Sadilova (*1963) mit „Zum Geburtstag“ (S dnëm roždenija, 1998). Die gegenwärtige instabile Finanzlage lässt viele Projekte scheitern und verstärkt die kommerzielle Orientierung des D.schaffens.
Schlegel H.-J. (Hg.) 1999: Die subversive Kamera. Zur anderen Realität in mittel- und osteuropäischen Dokumentarfilmen. Stuttgart. Felix J. 1992: Etwas ist zu Ende: Dokumentarfilmdebatten in den letzten Jahren der UdSSR. Marburg. Klaue W., Lichtenstein M. 1967: Sowjetischer Dokumentarfilm. Berlin. Roberts G. 1999: Forward Soviet! History and non-fiction film in the USSR. London. Vertov D. 1984: Kino-eye. Berkeley.