Altostslawisch
Altostslawisch
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1 Einleitung
A. war die Gemeinsprache der ostslawischen Völker, zu denen heute die Russen, Ukrainer und Weißrussen zählen. Sie entstand im 7.–8. Jh. auf dem Gebiet der späteren Kiewer Rus und existierte bis zum 14.–15. Jh. Die frühesten schriftlichen Denkmäler des A.en stammen aus dem 11. Jh.; dazu gehören das „Ostromir-Evangelium“ (›Ostromirovo evangelie‹, 1056–57), das „Archangelsk-Evangelium“ (›Archangelʹskoe evangelie‹,1092) und die „Novgoroder Menäen“ (›Novgorodskie minei‹, 1095–97). Im 11. und zu Beginn des 12. Jh. erschienen die ersten altostslawischen Lebensbeschreibungen (Sing.: žitie): „Das Leben des Feodosij Pečerskij“ (›Žitie Feodosija Pečerskogo‹), die „Legende von Boris und Gleb“ (›Skazanie o Borise i Glebe‹), Predigten wie „Predigt über das Gesetz und die Gnade“ (›Slovo o zakone i blagodati‹) und Chroniken (›lětopisi‹) wie die „Erzählung von den vergangenen Jahren“ (›Pověstʹ vrěmennych lět‹, auch: Nestorchronik). Auf A. erschienen auch verschiedene literarische Texte, darunter das Igorlied.
2 Entstehungsgeschichte
Den Rahmen für eine einheitliche Sprache auf ostslawischem Gebiet bildete die Kiewer Rus in ihrer Blütezeit vom 10.–11. Jh. Charakteristisch für diese war die Diglossie zwischen A.em und Altkirchenslawischem (in ostslawischer Redaktion), sie stimmten in der grammatischen Struktur, in der Mehrzahl der grammatischen Formen und in den Hauptschichten der Lexik überein.
Ab der ersten Hälfte des 12. Jh. und besonders mit der 2. Hälfte des 12. Jh. verlor Kiew als Zentrum seine politische Bedeutung. Zum entscheidenden Schlag gegen die territoriale Einheit der Kiewer Rus wurde die Mongolenherrschaft (1169–1462) und ab dem 14. Jh. die Expansion Litauens, in dessen Machtbereich die westlichen und südwestlichen Teile der Kiewer Rus gerieten. Dadurch nahmen die sprachlichen Verbindungen der Gebiete untereinander ab, dialektale Züge kamen verstärkt zum Vorschein: im Norden und Nordosten (um Novgorod Velikij, Pskov, Smolensk, Rostow am Don, Suzdalʹ etc.) bildeten sich verschiedene Dialekte heraus. Als Ergebnis der Mischung der nordgroßrussischen Mundarten (charakterisiert durch das sog. ›Okanje‹ – die Unterscheidung von [o] und [a] in unbetonten Silben) und der südgroßrussischen Mundarten (typisch dafür ist das sog. ›Akanje‹ – die Aussprache von [o] in unbetonten Silben als [a]) entstanden die mittelgroßrussischen Mundarten. Allmählich steigerten sich auch die Gegensätze zwischen den südlichen und südwestlichen Gebieten (Territorien der künftigen ukrainischen und weißrussischen Sprache) und den nord- und nordöstlichen Gebiete (dem künftigen russischen Sprachraum). Dies führte zum Zerfall des A.en in drei ostslawische Sprachen – (Alt)Russisch, (Alt)Ukrainisch und (Alt)Weißrussisch.
3 Merkmale
Lexik: Den Grundwortschatz des A.en bildeten allgemeinslawische Lexeme (z. B. chlěbъ, „Brot“; voda, „Wasser“; nebo, „Himmel“; dьnь, „Tag“; dělati, „machen“; dobrъ, „gut“) und ostslawische Wörter (bělъka, „Eichhörnchen“; kolokolъ, „Glocke“, sapogъ, „Stiefel“). Entlehnungen aus anderen Sprachen – dem Griechischen, den Turksprachen usw. bereicherten das A.e.
Phonetik: Das A. setzte sich aus 10 Vokalphonemen (/a/, /o/, /i/, /e/, /u/, /y/, /ä/ – „vorderes a“ [ein Reflex von ę], /ě/ – Jatˊ, der reduzierte Vokal der vorderen Reihe /ь/ und der hintere Reihe /ъ/) und 26 Konsonantenphonemen zusammen (/b/, /bʹ/, /v/, /vʹ/, /g/, /d/, /žʹ/, /z/, /zʹ/, /j/, /k/, /l/, /lʹ/, /m/, /mʹ/, /n/, /nʹ/, /p/, /r/, /rʹ/, /s/, /sʹ/, /t/, /x/, /cʹ/, /čʹ/, /šʹ/, /šʹčʹ/, /žʹd’žʹ/). Die Nasallaute /ǫ/ und /ę/ waren schon im 10. Jh. verschwunden, sie entwickelten sich zu /u/ und /ʹa/: rǫka > ruka, die Hand, męso > mjaso „Fleisch“. Bis zum 12. Jh. galt das Gesetz der offenen Silbe – im absoluten Auslaut endeten Silben vokalisch wie bei ›stolъ‹ („Tisch“) oder ›pisalъ‹ („hat geschrieben“). Ab dem 12.–13. Jh. wurden die reduzierten Vokale /ъ/ und /ь/ nicht mehr verwendet bzw. wurden vokalisiert, z. B. dьska > doska „Brett“, sъnъ > son „Schlaf“, krъvь > krovь „Blut“, vъlkь > volk „Wolf“, vьrvъka > verëvka „Strick“.
Für das A.e war der Volllaut (russ. polnoglasie; die Umwandlung der Verbindung o, e + Liquid /l/, /r/ innerhalb der Silbe) charakteristisch (gorod, „Stadt“; boroda, „Bart“; moloko, „Milch“); Belege hierfür gibt es bereits im „Ostromir-Evangelium“.
Morphologie: Das A. verfügte über drei Numeri: Singular, Dual und Plural. Das Kasussystem bestand aus sieben Fälle (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ, Instrumental, Lokativ). Der Vokativ wurde in der Anrede benutzt, z. B. ›druže‹ („mein Freund“), ›starče‹ („alter Herr“). Dual und Vokativ konnten sich auf die Dauer nicht durchsetzen und mit der Zeit entwickelte sich im Akkusativ die Kategorie der Belebtheit: Männliche belebte Substantive (brat, „Bruder“; konj, „Pferd“) erhielten die Genetiv-Endung. Die kurzen Formen der Adjektive wurden dekliniert und in der Funktion des Prädikates und des Attributs verwendet. Die Numeralkomposita hatten die Form der Präpositionalverbindung (›odinъ na desęnte/desjate‹ – 41). Für die Bezeichnung der Zahlen 40 und 90 entwickelten sich besondere ostslawische Formen – ›sorok‹ („vierzig“) und ›devjanosto‹ („neunzig“), statt der zu erwartenden Form ›četyredesjatъ‹ und ›devjatьdesjatъ‹. Die Ordnungszahlen hatten volle und kurze Formen – >pьrvyj< und >pьrvъ< (der erste).
Im A.en wurden – entsprechend dem Altkirchenslawischen – vier Vergangenheitsformen benutzt, wobei im Laufe der Zeit der Aorist, das Imperfekt und das Plusquamperfekt verschwanden. Bei Verben setzte sich die Endung auf -tъ, das sog. Supinum, durch, das mit der Zeit verschwand (lovitъ > lovitь): ›idu rybъ lovitь‹ („ich gehe Fische fangen“). Das System der Partizipien bestand aus Voll- und Kurzformen, es kam zur Unifizierung der Deklinationstypen, aus den Partizipien begann man Adverbialpartizipien zu bilden.
Syntax: Der Satz des A. zeichnete sich durch eine schwache grammatische Verbindung der Satzmitglieder aus. Die Parataxis (Beiordnung) überwog in Bezug auf die Hypotaxis (Unterordnung). Präpositionslose Konstruktionen waren stark verbreitet. Der Nominativ Singular der weiblichen Substantive auf -a, -ja wurde manchmal in der Funktion des direkten Objektes zusammen mit dem Infinitiv transitiver Verben verwendet: ›zemlja pachati‹ („das Land pflügen“), ›kositь trava‹ („Gras mähen“). Verwendet wurde auch ein Dativus absolutus: ›Mstislavu sědjaščemu na obědě, pride emu věstь‹ – [„als Mstislav beim Mahle saß, kam zu ihm die Nachricht“]).
Stilistik: In der frühesten Periode der altostslawischen Schriftsprache hoben sich drei Stile voneinander ab: der geschäftliche, der liturgisch-literarische und der weltlich-literarische.
Isačenko A. V. 1980–83: Geschichte der russischen Sprache. Bd. 1–2. Heidelberg. Kiparsky V. 1963: Russische historische Grammatik. Bd. 1-2. Heidelberg. Panzer B. 1978. Der genetische Aufbau des Russischen. Statt einer historischen Grammatik. Heidelberg. Tschernych P. J. 1957: Historische Grammatik der russischen Sprache. Halle (Saale). Filin F. P. 1962: Obrazovanie jazyka vostočnych slavjan. Moskva: AN SSSR.