Dnjepr
Dnjepr (altgriech. Borysthenēs, latein. Danapris, poln. hist. Dniepr, russ. Dnepr, ukrain. Dnipro, weißruss. Dnjapro)
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1 Geographie
Mit einer Gesamtlänge von 2201 km ist der D. nach der Wolga und der Donau der drittlängste Fluss Europas. Sein Einzugsgebiet beträgt 504.000 km²; die Abflussmenge ins Schwarze Meer liegt bei durchschnittlich 1680 m³/s. Der Wasserpegel des D.s hat zwischen April und Mai seinen Höchststand und zwischen August und Oktober seinen Tiefststand. Von März bis Dezember ist der D. in der Regel eisfrei.
Der D. entspringt in der Russischen Föderation, im Gebiet Smolensk (russ. Smolenskaja oblastʹ), am Fuße der Waldaihöhen (russ. Valdajskaja vozvyšennostʹ) auf ca. 220 m ü. d. M. Er durchfließt die Föderation auf 390 km Länge in Richtung Ost-West, weiterhin auf 690 km Länge die Republik Weißrussland in Richtung Nord-Süd und schließlich auf 1121 km Länge die Ukraine, wo er bei Cherson ein Flussdelta bildend über den D.-Liman in das Schwarze Meer mündet. Der D. ist in seinem Oberlauf bis Kiew ein typischer Tieflandfluss mit geringem Gefälle und entsprechend langsamer Fließgeschwindigkeit. In seinem Mittel- und Unterlauf ist er fast über seine gesamte Länge reguliert und in sechs großen Staustufen aufgestaut. Mit den Eingriffen in den natürlichen Flussverlauf wurden die für den D. kennzeichnenden Untiefen beseitigt. Ebenso verschwanden die D.-Stromschnellen zwischen Dnipropetrovsʹk und Zaporižžja, die bis ins 20. Jh. einen durchgängigen Schiffsverkehr verhinderten und auf dem Landweg überwunden werden mussten.Der D. durchquert in seinem Verlauf drei große Vegetationszonen: Die Mischwaldzone in der Russischen Föderation, Weißrussland und im Norden der Ukraine, die Waldsteppenzone im zentralen Teil der Ukraine und die Steppenzone im Süden der Ukraine. Wichtige Nebenflüsse sind linksseitig Sož, Desna, Sula, Psël (russ., ukrain. Psʹol), Vorskla und Samara, rechtsseitig Bjarėzina (weißruss., russ. Berezina), Pripjet (russ. Pripjatʹ, ukrain. Prypʹʹjatʹ, weißruss. Prypjacʹ), Teteriv und Inhulecʹ. Wichtige Städte entlang des Flusses sind: Smolensk, Orša, Mahilëŭ (weißruss., russ. Mogilëv), Kiew, Čerkasy, Kremenčuk, Dnipropetrovsʹk, Zaporižžja, Nikopolʹ und Cherson.
Schon in der ›Nestorchronik‹ aus der ersten Hälfte des 12. Jh. wird der D. als eine wichtige Verkehrsverbindung „von den Warägern zu den Griechen“ erwähnt. Heute ist er auf einer Länge von ca. 2000 km schiffbar und ermöglicht über Kanäle eine Verbindung zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Allerdings hat der Schiffsverkehr auf dem D. seit dem Zusammenbruch der UdSSR stark abgenommen. Das Fracht- und Passagieraufkommen im ukrainischen Flussverkehr lag 2003 nur noch bei ca. 16,5 bzw. 12 % des Jahres 1991.
Der D. ist die zentrale Wasserressource für die Ukraine und Weißrussland. Er deckt zusammen mit seinen Nebenflüssen etwa 80 % des gesamten Süßwasserbedarfs der Ukraine. 32 Mio. Ukrainer und zwei Drittel der ukrainischen Wirtschaft nutzen sein Wasser. Insbesondere die Landwirtschaft ist vom D.wasser abhängig, das über den „Nördlichen Krim-Kanal“ (ukrain. Pivnično Krymsʹkij Kanal), den „Kachovka-Kanal“ (ukrain. Kachovsʹkij Kanal), den D.-Donbass-Kanal sowie weitere kleinere Kanäle abgezweigt und in die ariden Steppenregionen der Ukraine geleitet wird.
Anders verhält es sich im humideren Weißrussland. Dort entfällt auf die Landwirtschaft lediglich ein knappes Zehntel des gesamten Wasserkonsums. Der meiste Bedarf entsteht hier in der kommunalen Wasserversorgung. Der Wasserverbrauch ist aufgrund der ungleichen klimatischen Verhältnisse und der unterschiedlichen Wirtschaftstruktur der Länder in der Ukraine beträchtlich höher als in Weißrussland. Er ist jedoch in beiden Ländern nach 1991 rezessionsbedingt stark zurückgegangen.
Zwischen 1932 und 1978 wurde der D. zudem auf ukrainischem Territorium auf einer Länge von insgesamt 850 km in sechs Staustufen zur sog. „D.-Kaskade“ aufgestaut, die erhebliche Störungen des lokalen ökologischen Gleichgewichts verursacht haben. Durch die Aufstauung wurde die Länge des Flusses von ursprünglich 2285 km um 84 km verkürzt. Die beiden größten Stauseen befinden sich bei Kachovka (ukrain. Kachovsʹke vodoschovyšče) mit 230 km Länge und 2160 km² Fläche und mit 150 km Länge und einer Fläche von 2250 km² bei Kremenčuk (ukrain. Kremenčucʹke vodoschovyšče).
Während der D. für die Energiewirtschaft der Russischen Föderation und Weißrussland keine Bedeutung hat, stellen die sieben großen Wasserkraftwerke der „D.-Kaskade“ zusammen mit dem Dnjestr-Wasserkraftwerk das Rückgrat der regenerativen Energieerzeugung in der Ukraine dar. Aus Wasserkraft wurden 2001 insgesamt ca. 7 % der ukrainischen Stromproduktion erzeugt.
Der D. gehört in der Russischen Föderation und Weißrussland zu den gering verschmutzten Flüssen. In der Ukraine hingegen gilt der Fluss auf Grund seiner Belastungen als eines der vordringlichsten Umweltprobleme des Landes. Er ist besonders an seinem Unterlauf und dort verstärkt im Dreieck zwischen den Städten Dnipropetrovsʹk, Zaporižžja und Kryvyj Rih durch industrielle Abwässer extrem verschmutzt. Als Hauptverursacher gelten die Schwerindustrie, die Metallurgie, die petrochemische Industrie, der Bergbau und die Energiewirtschaft. Neben den industriellen Abwässern stellt die Eutrophierung durch Landwirtschaft und ungeklärte kommunale Abwässer eine weitere, ernsthafte Belastung des D.s dar. Die am häufigsten vorkommenden Schadstoffe sind deshalb Ölprodukte, Schwermetalle und Stickstoffverbindungen.
Ein besonders Problem ist die radioaktive Belastung des Flusses durch den Reaktorunfall in Tschernobyl 1986. Die oberen Flusssedimente weisen bis in die Gegenwart deutlich erhöhte Konzentrationen von Cs-137 auf. Sie sind in der Nähe von Tschernobyl, und d. h. in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, ca. 17 mal höher als im Unterlauf des Flusses.
Die massiven Eingriffe in den Naturhaushalt haben Flora und Fauna am D. stark verändert. Da die Flussregulierungen Überschwemmungsgebiete verhindern, reduzierten sich die Auenbereiche. Dadurch wurde der Lebensraum von Biber, Otter und einigen größeren Vogelarten, wie dem Kranich stark eingeschränkt. Als eine Folge der Belastungen lässt sich ein deutlicher Rückgang der Diversität des Phyto- und Zooplanktons sowie der heimischen Fischpopulation feststellen.
Ebenso wurden durch den Bau der Stauseen viele der ursprünglich im D. lebenden Flussfischarten durch Seespezies verdrängt. Auch der intensive Fischfang von insbesondere Flussbarsch, Karpfen und Zander verstärkte diese Entwicklung. Heute sind fünf im D. lebende Fischarten auf der ukrainischen roten Liste zu finden. Darüber hinaus leben von den 164 in der Liste verzeichneten Tierarten 69 im Einzugsbereich des D.
Eine besondere Bedeutung kommt deshalb den beiden geschützten Feuchtgebieten des D.s in der Ukraine zu. Das Naturreservat D.-Orilʹ befindet sich im Mittelauf des D.s in der Region Zaporižžja und ist eine weitgehend intakte Auenlandschaft, mit weitverzweigten Wasserarmen und korrespondierenden Feuchtbereichen im Zusammenfluss von D. und Orilʹ. Die Auenwälder bestehen aus Eichen, Weiden, Pappeln und Erlen. Das Gebiet ist ein wichtiger Brutplatz für viele Vogelarten, wie den Austernfischer, den Wachtelkönig und den Nachtreiher. Ebenso hat es eine Schlüsselfunktion für den Vogelzug und ist ein wichtiger Überlebensraum für bedrohte Reptilien-, Fisch- und Säugetierarten, wie z. B. den Fischotter.
Das zweite Schutzgebiet ist das Wildtierreservat im Mündungsdelta des D.s in der Region Cherson. Auch dieses Gebiet stellt einen Rückzugsraum für seltene, teils endemische Arten dar. U. a. befindet sich dort ein international bedeutendes Brutgebiet des Silberreihers. Die typische Deltalandschaft mit sumpfigen Auenbereichen, Sandbänken und Seekomplexen enthält eine vielfältige Vegetation aus hydrophilen Gemeinschaften, Auenwaldinseln und Schilfrohrdickichten.
2 Kulturgeschichte
Die früheste Erwähnung des D.s (als Borysthenēs) findet sich bei Herodot (5. Jh. v. Chr.). Der heutige Name D. ist iranischen Ursprungs und stammt wohl von den Skythen bzw. Sarmaten, die vor den Slawen, die historisch ab dem 6. Jh. n. Chr. hier fassbar sind, die Region bevölkerten.
Der D. war in der Entwicklung der ostslawischen Kulturlandschaft sowohl ein verbindendes als auch ein trennendes Element. Einerseits spielte er als wichtiger Verkehrs– und Handelsweg eine entscheidende Rolle in der Erschließung des Territoriums durch ostslawische Stämme und Völker, andererseits war er in seinem Mittel– und Unterlauf einer der wenigen Raumwiderstände in einer ebenen Waldsteppen– und Steppenlandschaft, so dass er dort bis zum heutigen Tag eine raumgliedernde Wirkung hat. Sichtbar ist dies insbesondere im Bereich der Zentralukraine. Diese unterteilt sich in das links des D. gelegene Gebiet ›Livoberežžja‹ und das rechtsufrige ›Pravoberežžja‹, mit jeweils unterschiedlicher historischer Entwicklung. Während die rechtsufrige Ukraine bis zur zweiten polnisch-litauischen Teilung 1793 über mehrere Jahrhunderte zu Polen-Litauen gehörte, war der linksufrige Bereich für ein Jahrhundert lang ein weitgehend autonomes Hetmanat der D.-Kosaken, dass jedoch Ende des 18 Jh. ebenfalls vollständig ins Russische Reich eingegliedert wurde. Für die Kosaken hatte der D. eine besondere Bedeutung, denn er war Mittelpunkt ihres Lebens und das Boot ursprünglich ihr wichtigstes Fortbewegungsmittel. Sie siedelten vorwiegend in den Uferwäldern und Inseln des D.s, hinter den schwer schiffbaren Stromschnellen bei Zaporižžja, woher sich der Name ihres Stammlagers ›Zaporizʹka Sič‹ ableitet. In der Phase des erwachenden Nationalbewusstseins wurden der D. und die D.-Kosaken im 19. Jh. zu nationalen, häufig in der Kunst zitierten Symbolen der ukrainischen Nation, so z. B. im Gedicht des nach seinem Tode symbolträchtig in Kaniv, am Ufer des D. beerdigten, ukrainischen Nationaldichters Taras Ševčenko ›Zapovit‹ („Testament“), der heutigen Nationalhymne.
Dass die Stromschnellen dem Bau eines Wasserkraftwerks, dem Wahrzeichen des kommunistischen Fortschritts, weichen mussten, hatte somit auch Symbolcharakter. 1932 wurde bei Dnipropetrovsʹk, nach fünfjähriger Bauzeit das größte Wasserkraftwerk Europas (Dniproges, mit einer Leistung von 1.500 MW) in Betrieb genommen. Es war das zweite Großprojekt des sog. GOELRO-Plans, der die Elektrifizierung der gesamten Sowjetunion zum Ziel hatte. Mit dessen Verwirklichung verschwand ein großes Hindernis für den Schiffsverkehr. Gleichzeitig sicherte das Kraftwerk die Energieversorgung der Ukraine und ermöglichte eine weitere Industrialisierung des Landes. Dem D. wurde somit eine zentrale Rolle in der Raumentwicklung der Sowjetunion zugewiesen.
Jordan P., Kappeler A., Lukan W., Vogl J. (Hg.) 2001: Ukraine : Geographie – ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Bildung – Wirtschaft – Recht. Wien. Kappeler A. 1994: Kleine Geschichte der Ukraine. München. Kubijovič V. (Hg.) 1963: Ukraine. A Concise Encyclopaedia. Jersey City, 108–117. Lüdemann E. 2001: Ukraine. München. Balasova T. P., Razov V., Rudenko L. G. 2000: Boden– und Wasserqualität in der Ukraine (= Atlas Ost– und Südosteuropas 1.6 – UA1).