Czernowitz (Stadt)
Czernowitz (dt., ukr. Černivci, rumän. hist. Cernăuţi, poln. hist. Czerniowce, russ. Černovcy).
Die Stadt Cz. liegt am Fluss Pruth in der historischen Landschaft Bukowina und hat heute den Status einer Bezirkshauptstadt in der Republik Ukraine. Cz. zählt 242.300 Einwohner (2005), das Stadtgebiet liegt in einer Höhe von 248 m ü. d. M. und umfasst 153 km².
Die von Slawen besiedelte Bukowina gehörte vor dem Mongoleneinfall zum Kiewer Reich. Seit dem 13. Jh. ließen sich dort romanische Hirtennomaden nieder. Die etwa im 14. Jh. entstandene slawische Siedlung Cz. wurde erstmalig 1408 als Zollstation des Fürstentums Moldau auf der Handelsstrecke Lemberg–Suceava erwähnt. Cz. erlebte ein wechselhaftes Schicksal, typisch für eine Stadt in der Grenzregion, und wurde mehrmals erobert und zerstört (so 1476, 1497, 1509, 1626, 1646, 1650, 1672, 1688, 1714). In der Nähe von Cz. erlitt 1497 die polnisch-litauische Armee eine Niederlage gegen die Osmanen. Als Rache für einen moldauischen Überfall auf Podolien besetzten polnische Truppen 1507 Cz. 1650 eroberten es die Kosaken, 1688 die Polen unter Jan Sobieski. 1707 verlor bei Cz. Schweden eine Schlacht gegen Russland. Von 1456 bis 1775 bzw. Anfang des 16. Jh. bis 1775 standen die moldauischen Fürsten (Hospodare) in Lehnabhängigkeit zum Osmanenreich (im 15./16. Jh. zeitweise zu Polen). 1762 zählte man in Cz. rund 200 Holzkaten und etwa 1200 Einwohner. Als Nachfolgestaat des Fürstentums Siebenbürgen stellte Österreich 1774 einen Anspruch auf die Bukowina und besetzte sie 1775 (Vertrag vom 25.02.1777). Zuerst unter Militärverwaltung stehend, wurde die Bukowina (mit Cz. als Kreishauptstadt) 1786 in das österreichische Kronland Galizien und Lodomerien eingegliedert. Das 3200 Einwohner (1779) zählende Cz. erhielt seit 1786 erste gemauerte Häuser. Die Stellung als Hauptstadt des 1848 (bis 1918) neu gegründeten österreichischen autonomen Kronlandes Herzogtum Buchenland brachte Cz. den Aufstieg zu einem Oberzentrum eines ländlich geprägten Gebiets (1875 zählte Buchenland acht Kreise mit 543.426 Einwohnern). Im Verwaltungszentrum Cz. befanden sich Kreishauptamt, Finanz-, Berg- und Bauamt, Handelsgericht und Militärverwaltung. 1861 erhielt Buchenland einen eigenen Landtag. In Cz. stellten Rumänen und Ruthenen die größte Konfessionsgruppe dar. Cz. war Sitz des orthodoxen Metropoliten der Bukowina und eines orthodoxen Priesterseminars. Nach der Einverleibung ins Habsburgerreich wurde Cz. zum kulturellen Zentrum der deutschsprachigen Siedler in der Bukowina. Die seit 1797 existente evangelisch-augsburgische Gemeinde spielte nur eine geringe Rolle (1875: 1600 Gläubige). Daneben existierten jüdische (erster Beleg vor 1775), armenische und polnische Gemeinden. In Cz. residierte der Landesrabbiner. Die städtische jüdische Bevölkerung assimilierte sich und zählte sich zum deutschen Kulturkreis. Die chassidischen Juden beherrschten die Vororte und das Umland. Die kulturelle Blütezeit erlebten die Cz.er Juden in den letzten Dezennien des 19. Jh. und der Zwischenkriegszeit.
Im Zuge der Industrialisierung entstanden in Cz. zahlreiche Fabriken (Textilbranche, Holz- und Lederverarbeitung, Mühlen, Brauereien, Maschinenbau) und ein Eisenbahnknoten mit Verbindungen nach Lemberg und Russland, über den Pruth wurde eine Brücke gebaut. Die Industrialisierung machte sich im Bevölkerungswachstum bemerkbar: So zählte Cz. 1830 6800, 1851 20.400 und 1870 34.000 Einwohner (1875: 3550 Häuser). In Cz. entstanden Hebammenschule, Gymnasium und Konviktschulen für Jungen und Mädchen. Im 100. Jubiläumsjahr der Zugehörigkeit zur Habsburger Monarchie (1875) wurde in Cz. eine deutschsprachige Universität gegründet (1877/78: 179 Studenten). Während des Ersten Weltkrieges eroberte die russische Armee Cz. 1914 und 1916. Nach den Kämpfen 1918–19 zwischen Rumänen und Ukrainern fiel Cz. 1919 Rumänien zu.
In der nunmehr Cernăuţi genannten Stadt existierte trotz Rumänisierung (Rumänischzwang, rumänische Beamtenschaft) das multiethnische Zusammenleben weiter. 1930 zählte Cz. 112.400 Einwohner, davon 29,1 % Juden, 25,9 % Rumänen, 23,3 % Deutsche, 11,3 % Ukrainer, 7,5 % Polen (auch Ungarn, Slowaken, Armenier, Zigeuner). Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1940 wurde Cz. mit der nördlichen Bukowina der Ukrainischen SSR angeschlossen (ab 07.08. 1940 als Bezirkshauptstadt). Während der einjährigen Sowjetherrschaft erfuhr Cz. den entscheidenden Einschnitt: Die Umsiedlung der deutschen Minderheit ins Reich bzw. in die besetzten Gebiete („Heim ins Reich“) beendete die Existenz des „deutschen Cz.“. Verhaftungen und Deportationen anderer Minoritäten veränderten die ethnische Struktur. 1941 lebten in Cz. nur noch 78.800 Einwohner (Bevölkerungsverlust von 30 %), davon 58,1 % Juden, 23,6 % Rumänen, 10,2 % Ukrainer, 4,5 % Polen und 2,6 % Deutsche. Nach dem Anschluss an Rumänien ermordeten ab dem Sommer 1941 rumänische Truppen und deutsche SS-Verbände einen Großteil der Bukowiner Juden in den Lagern Transnistriens. In der Zeit nach 1944 veränderte sich die ethnische Struktur des sowjetisch-ukrainischen Cz. Die Stadt wuchs auf 152.300 Einwohner (1959), davon 42 % Ukrainer, 25 % Juden, 22 % Russen, 11 % Rumänen (sowjet. Statistik). Cz. blieb eine Vielvölkerstadt, die frühere Vielfalt wurde jedoch durch staatlich gelenkte einheitliche Kulturpolitik ersetzt. Als Bezirksstadt mit zwei Hochschulen (Universität und Medizinische Hochschule), mehreren Berufsschulen, einigen Museen und Theater besaß Cz. nur noch regionale Bedeutung. Durch weiter forcierte Industrieansiedlung (Schuhfabrik, Chemieindustrie) bzw. Infrastrukturausbau (Flughafen) wuchs die Einwohnerzahl auf 257.300 (1990, 1971: 191.000; 1979: 218.000) an. In den Jahren nach der Gründung der Universität etablierte sich Cz. als eine Stadt der Kultur und Literatur („Kleinwien des Ostens“).
In der Stadt gastierten namhafte Komponisten, Musiker, Schauspieler oder Schriftsteller. Der aus Galizien stammende jüdische Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848–1904), der mehrere Jahre seiner Jugend bis zum Abitur 1867 in Cz. verbrachte, aber in Wien und Berlin wirkte, erlangte als erster eine überregionale Bedeutung. Franzos machte das galizische-bukowinische Judentum zum Mittelpunkt seines Schaffens, stand ihm jedoch kritisch-realistisch gegenüber. Ihm folgten später Moses Rosenkranz, Paul Celan, Selma Meerbaum-Eisinger, Gregor von Rezzori, Elieser Steinbarg, Itzig Manger, Ol’ha Kobyljans’ka, Mihai Eminescu oder Rose Ausländer. V. a. die Autoren in der Emigration begründeten in ihren Werken den Mythos von Cz. als einer Stadt der k. u. k. Monarchie, deren in der Realität oft von Ressentiments geprägter Alltag stark idealisiert und glorifiziert wurde. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 erlebten die Minderheiten, v. a. Juden, aber auch Rumänen und Deutsche (z. B. Verein der dt. Minderheit), eine nationale Wiedergeburt, die aufgrund der Emigrationswelle (Bevölkerungsschwund nach 1990) die frühere Blüte aber nicht mehr erreicht. Aus Cz. stammten die bekannten Osteuropahistoriker Raimund Kaindl und Emanuel Turczynski.
Cz. ist heute eine Stadt im Umbruch, man knüpft in der Auseinandersetzung mit der Sowjetzeit an alte Traditionen (wie „deutsches Cz.“) und lässt diese, trotz der enormen wirtschaftlichen und sozialen Probleme, neu aufleben. Aus der „vorösterreichischen“ Zeit ist in Cz. – bis auf die orth. Holzkirche von 1607 – kaum etwas erhalten geblieben. Die (teil-)sanierte Altstadt aus dem 19. Jh. mit ihren Kirchen und Bürgerhäusern, die zur Zeit der Habsburger Monarchie errichteten Gebäude und Prachtbauten (orth. Kirche von 1783; Theater; Rathaus von 1843–47; Justizpalast 1904–06; Metropolitenpalast von 1864–82, heute Universität) prägt heute noch das Stadtbild. Neu gegründete Cafés und Restaurants machen aus Cz. eine lebendige und bei den immer zahlreicher werdenden ausländischen Touristen beliebte und sehenswürdige Stadt.
Kłańska M. 1999: Die deutschsprachige Literatur Galiziens und der Bukowina von 1772–1940. Röskau-Rydel I. (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien, Bukowina, Moldau. Berlin, 379–482. Turczynski E. 1999: Bukowina. Röskau-Rydel I. (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien, Bukowina, Moldau. Berlin, 213–328.