Petruševskaja, Ljudmila Stefanovna
Petruševskaja, Ljudmila Stefanovna; *26.5.1938 Moskau, Schriftstellerin, Journalistin, Malerin; studierte Publizistik an der MGU (Abschluss 1961) und arbeitete als Redakteurin.
P. schreibt seit Mitte der 1960er Jahre Prosa, ab 1975 auch Dramen. Ihre Arbeiten kreisen um Alltag und Gegenwart in Russland. P.s Dramen, die in der Tradition v. a. Vampilovs stehen, veranschaulichen Illusions- und Hoffnungslosigkeit, den Mangel an emotionalen Bindungen, Kälte, Einsamkeit, die materiellen und seelischen Defizite des Einzelnen. Zu ihren wichtigsten Theaterstücken zählen „Liebe“ (russ. Ljubovʼ, veröff. 1979, Uraufführung 1980), „Musikstunden“ (russ. Uroki muzyki, veröff. 1983, Uraufführung 1979), ›Činzano‹ (veröff. 1983, Uraufführung 1978). P.s Stücke wurden vor der Perestroika meist auf kleineren, provinziellen Bühnen aufgeführt; eine breitere Rezeption und Publikation erfolgt seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Auch mit ihrer Prosa tritt P. als eine der profiliertesten und zugleich umstrittensten Figuren des zeitgenössischen literarischen Lebens in Russland hervor. Ihre meist weiblichen Hauptfiguren stehen in einem Geflecht brüchiger bzw. zerbrochener Beziehungen; schonungslos und scheinbar unbeteiligt thematisiert P. Hässlichkeit, Gewalt, Gefühlskälte, Armut, Alter, Krankheit als Erscheinungsformen des (post)sowjetischen Alltags. In der Erzählung „Meine Zeit ist die Nacht“ (russ. Vremja nočʼ, 1992) z. B. wird eine vaterlose Familie, in der sich drei Frauengenerationen aneinander aufreiben, gezeigt. In „Mein Kreis“ (russ. Svoj krug, 1988) geht es um emotionale Verrohung, die ihre Entsprechung in körperlichen Deformationen der Figuren finden. Körperlichkeit wird hier – wie in vielen anderen Prosatexten P.s – in drastischer Intensität vorgeführt; Schwangerschaft, Geburt, Sexualität, Altern werden als bedrohliche, gewalt- und schmerzbesetze Phänomene geschildert.
Während P.s Prosa in der westlichen Slawistik bereits seit den 90er Jahren anerkannt ist, wurde sie in der Sowjetunion nur zögerlich veröffentlicht und scharf kritisiert. Die Konzentration auf abstoßende Realitäten brachte ihr den Vorwurf einer zu pessimistischen, schwarzmalerischen Weltsicht (russ. černucha) ein. Eine Thematisierung der Werke P.s wie innerhalb des Körperdiskurses der westlichen Slawistik (Helena Goscilo, Eva Hausbacher), erfolgt in Russland kaum. P.s Erzählstil entspricht der Tradition des ›skaz‹. Ihre literarischen Welten entstehen wie in der Illusion des mündlichen Erzählens in größter Kürze und Pointiertheit. P. ergänzt ihr erzählerisches Spektrum häufig durch Märchenhaftes und Transzendentes: neben explizit als „Märchen“ (russ. skazki) ausgewiesenen Erzählungen stehen Texte, die Elemente des Phantastischen mit solchen der realen, der Alltagsebene verbinden. P. ist international anerkannt; ihre Werke wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Sie erhielt zahlreiche internationale Preise und Stipendien. P. ist seit 1977 Mitglied des russischen Schriftstellerverbandes, seit 1997 ständiges Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste. In den letzten Jahren trat P. auch als Malerin hervor, 2001 wurden ausgewählte Aquarelle in einer Moskauer Galerie gezeigt.
Goscilo H. 1993. Speaking Bodies. Erotic Zones Rhetoricized. Dies. (Hg.): Fruits of Her Plume. Essays on Contemporary Russian Womanʼs Culture. London, 135–163. Hielscher K. 1996. Von der Humanität des Klatsches. Zur Entwicklung der Prosa von Ljudmila Petruševskaja. Peters J. U., Ritz G. (Hg): Enttabuisierung. Essays zur russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Frankfurt a. M., 105–116. Katz M. 1993: Das Bild der Frau am Beispiel ausgewählter Dramen von Ljudmila Petruševskaja. Grabmüller U., Katz M. (Hg.): Zwischen Anpassung und Widerspruch. Wiesbaden, 227–253 (=Beiträge zur Frauenforschung am Osteuropa-Institut der FU Berlin, Bd. 3). Hausbacher E. 1999: Körper der Lust: Neue russische Autorinnen. Gürtler Ch., Hausbacher E. (Hg.): Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Wien, 97–111.