Atomare Abrüstung

Atomare Abrüstung (der Nachfolgestaaten der Sowjetunion).

Inhaltsverzeichnis

1 Beim Zerfall der UdSSR

Am 31.7.1991 unterzeichneten die Präsidenten der UdSSR und der USA, Michail Gorbatschow und George Bush sen., in Moskau den ›Strategic Arms Reduction Talks‹ (START) I-Vertrag über die Reduzierung strategischer Nuklearwaffen. Er sah eine Reduktion der Gesamtzahl der Sprengköpfe landgestützter Interkontinentalraketen (ICBM), U-Boot-gestützter ballistischer Raketen (SLBM) und auf strategischen Bombern auf höchstens 6000 innerhalb von sieben Jahren nach dem Inkrafttreten vor. Gleichzeitig sollten auch folgende Zwischenlimits erfüllt sein: 4900 ICBM und SLBM, 1100 ICBM auf mobilen Abschussrampen sowie 1540 schwere ICBM (z. B. sowjetische SS-18).

Durch das ›Protocol to the Treaty Between the United States Of America and the Union of Soviet Socialist Republics on the Reduction and Limitation Of Strategic Offensive Arms‹ (nach seinem Unterzeichnungsort meist nur ›Lissaboner Protokoll‹ genannt) vom 23.5.1992 traten mit Russland, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan jene früheren Sowjetrepubliken, auf deren Territorien sich ehemals sowjetische strategische Kernwaffen befanden, an der Stelle der Ende 1991 zerfallenen UdSSR in den START I-Vertrag ein. Zu diesem Zeitpunkt waren die taktischen Atomwaffen der UdSSR aus den früheren Unionsrepubliken bereits nach Russland gebracht worden.

Die Abrüstung der Kernwaffen der früheren UdSSR wurde von den USA im Rahmen des im November 1991 beschlossenen ›Soviet Nuclear Threat Reduction Act‹ (heute ›Cooperative Threat Reduction [CTR] programme‹, bekannter als ›Nunn-Lugar programme‹) finanziell unterstützt.

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2 Russland

START I wurde vom russischen Parlament unter der Auflage, dass die Ratifizierungsurkunde bis zum (vom Lissaboner Protokoll vorgesehenen) Beitritt der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans zum ›Non-Proliferation Treaty‹ (NPT) von 1968 (in Kraft seit 1970) als Nichtkernwaffenstaaten nicht hinterlegt wird, am 4.11.1992 ratifiziert (Russland ist als Atomwaffenstaat Mitglied des NPT). Am 5.12.1994 konnte START I in Kraft traten.

Am 3.1.1993 unterzeichneten Bush sen. und sein russischer Amtskollege Boris Jelzin den START II-Vertrag, demzufolge die USA und Russland bis zum 1.3.2003 auf nicht mehr als je 3500 strategische Atomsprengköpfe abzurüsten haben. Dabei sollen auf SLBM nicht mehr als 1750 entfallen. Schwere ICBM sowie ICBM mit Mehrfachsprengköpfen sollten überhaupt abgeschafft werden. Letzteres führte in Russland zum Umstieg auf die neue ICBM SS-27 (auch unter ihrer russischen Bezeichnung ›Topolʹ-M‹ bekannt) mit nur einem Sprengkopf.

Am 22.6.1995 sandte Jelzin START II zur Ratifizierung in die Föderalversammlung, die jedoch auf den Widerstand der die Staatsduma dominierenden Kommunisten und Nationalisten stieß. Eine der Ursachen dafür war ihre prinzipielle Ablehnung der Politik Jelzins, dem u. a. zu große Nachgiebigkeit gegenüber dem Westen vorgeworfen wurde. Zudem wollte die Mehrheit in der Legislative durch die Verweigerung der Ratifizierung gegen die sich anbahnende Osterweiterung der NATO protestieren. Jelzin, die russische Regierung sowie die USA (deren Senat START II am 26.1.1996 gebilligt hatte) legten der Staatsduma immer wieder vergeblich die Ratifizierung nahe. Das russische Verteidigungsministerium vertrat offiziell die Meinung, dass der Vertrag die einzige Möglichkeit darstelle, eine atomstrategische Balance zu den USA aufrechtzuerhalten: Ohne ihn würde sich das Kräfteverhältnis zu deren Gunsten ändern, da Russland wirtschaftlich nicht in der Lage sei, den Umfang seines von der UdSSR übernommenen strategischen Atompotenzials beizubehalten.

Bei den Wahlen im Dezember 1999 errangen dem Kreml nahestehende Parteien und Kandidaten einen Erfolg, wonach beide Kammern der Föderalversammlung ungeachtet des heftigen Widerstandes der Kommunisten START II ratifizieren konnten. Präsident Vladimir Putin hatte selbst zur Ratifizierung aufgerufen – u. a. mit dem Hinweis, dass Russland auch nach START II noch genügend Atomwaffen haben werde, „um jeden Gegner mehrere Male und gesichert zu vernichten“. Am 26.9.1997 unterzeichneten die Außenminister Russlands und der USA, Evgenij Primakov und Madeleine Albright, ein Protokoll, das die Frist zur endgültigen Abrüstung der von START II betroffenen russischen landgestützten ICBM auf 31.12.2007 verlängerte. Das bedeutete eine erhebliche wirtschaftliche Erleichterung für Russland, weil damit die Garantiefristen seiner Raketen besser ausgenutzt und damit erst später durch neue ersetzt werden konnten. Die USA ermöglichten damit die Erhaltung eines Teils des russischen strategischen Atompotenzials über die ursprünglich vereinbarte Frist hinaus. Der Zeitdruck für Russland, auf SS-27 umzurüsten, wurde damit vermindert.

Moskau hatte Washington lange vor einem Ausstieg aus dem ›Anti Ballistic Missile‹ (ABM)-Vertrag von 1972 gewarnt. Die USA kündigten ihn jedoch im Dezember 2001, weil sie mit dem Bau eines Raketenabwehrsystems beginnen wollten. Am Tag nach dem formalen Ausscheiden der USA aus dem ABM-Vertrag (13.6.2002) verließ Russland START II und entledigte sich damit des Verbots von Mehrfachsprengköpfen auf ICBM.

Am 24.5.2002 unterzeichneten Putin und sein amerikanischer Amtskollege George W. Bush den ›Treaty between the United States and the Russian Federation on Strategic Offensive Reductions‹, der den beiden Ländern bis 31.12.2012 je 1700-2200 Sprengköpfe (und damit etwa zwei Drittel des aktuellen strategischen Atomarsenals) zugesteht. Im Falle seiner Implementierung hätte Russland eine Abrüstung der USA auf ein Niveau erreicht, das ihm selbst tragbar erscheint. Die USA könnten nämlich den vom (Ende 2001 für erfüllt erklärten und in ›Strategic Offensive Reductions‹ bestätigten) START I-Vertrag festgelegten Rahmen von 6000 Sprengköpfen problemlos voll ausschöpfen, was aber für Russland unfinanzierbar wäre. Washington hat jedenfalls mit dem neuen Vertrag grundsätzlich (erneut) das von Moskau auch nach dem Ende der UdSSR verfochtene Prinzip der „atomstrategischen Parität“ zwischen den beiden Ländern anerkannt, auch wenn Russland (nach Kaufkraftparitäten berechnet) nur über etwa ein Zehntel der Wirtschaftsleistung der USA verfügt.

1986 hatte das Atompotenzial der UdSSR mit 45.000 strategischen und nichtstrategischen (stationierten und gelagerten) Sprengköpfen seinen größten Umfang erreicht (USA: 23.400). 1992 besaß Russland noch 33.500 (USA: 18.200). Mitte 2002 verfügte Russland über ca. 8400 einsatzfähige Atomsprengköpfe: 5000 auf strategischen Nuklearwaffenträgern (3011 auf ICBM, 1072 auf SLBM und 868 auf Bombern) sowie 3400 nichtstrategische und der Luftverteidigung dienende Sprengköpfe. Dazu kamen noch ca. 9600 eingelagerte Sprengköpfe. Von den stationierten strategischen Atomsprengköpfen befanden sich 3011 auf 706 ICBM (Typen: SS-18, SS-19, SS-24 M1, SS-25, SS-27), 1072 auf 232 SLBM in U-Booten (SS-N-18 M1, SS-N-20, SS-N-23) und 868 auf 78 Langstreckenbombern (Typen: Tu-95, Tu-95, Tu-160). Dazu kamen 3380 nichtstrategische Sprengköpfe (davon 1200 zur Luftverteidigung, 1540 auf Bombern und Jägern sowie 640 in der Kriegsmarine). Die USA besaßen im Frühjahr 2002 insgesamt ca. 10.600 (strategische und nichtstrategische) Atomsprengköpfe, von denen fast 8000 aktiv oder einsatzfähig waren.

Die letzten sowjetischen Atomtests waren am 24.10.1990 auf der Insel Novaja Zemlja durchgeführt worden. Russland hat dann auf weitere Atomexplosionen verzichtet (es gab lediglich sog. „subkritische“ Tests) und den ›Comprehensive Test Ban Treaty‹ (CTBT), der Atomtests in der Atmosphäre, unter der Erde und im Weltraum verbietet, 1996 unterzeichnet und 2000 ratifiziert.

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3 Ukraine

Die Ukraine hatte sich bereits in ihrer Souveränitätserklärung von 1990 (d. h. noch als Sowjetrepublik) dazu bekannt, in Zukunft Atomwaffen weder anschaffen noch produzieren oder erwerben zu wollen. Dabei blieb es – ungeachtet einiger kontroversieller Diskussionen – auch nach der Erreichung der Unabhängigkeit Ende 1991.

Zu diesem Zeitpunkt war auf dem Territorium der Ukraine das drittgrößte (und nur von den USA und Russland übertroffene) Kernwaffenpotenzial der Welt konzentriert. Es handelte sich dabei um die 43. Raketenarmee der Sowjetstreitkräfte mit auf die USA gerichteten 130 SS-19 und 46 modernen SS-24 mit insgesamt 1240 Sprengköpfen sowie ca. 40 Langstreckenbomber der Typen Tu-95MS ›Bear H‹ und Tu-160 ›Blackjack‹ mit Cruisemissiles, die atomar bestückt werden konnten. Zudem gab es Ende 1991 etwa 2500 taktische Atomsprengköpfe (so Angaben des Verteidigungsministeriums der Ukraine; andere Quellen schwanken zwischen 2275 und über 5500).

Am 23.5.1992 unterzeichnete die Ukraine START I. Am 3.2.1994 akzeptierte die Oberste Rada den Vertrag endgültig und ohne die noch bei einer ersten Ratifizierung am 18.11.1993 (von Russland heftig kritisierten) Vorbehalte. Am 16.11.1994 beschloss die Oberste Rada ein Gesetz über den Beitritt der Ukraine als Nichtatomwaffenstaat zum NPT, der am 5.12.1994 vollzogen wurde. Russland verpflichtete sich (in einer trilateralen Erklärung mit der Ukraine und den USA vom 14.1.1994) zur Demontage sämtlicher strategischer Atomsprengköpfe, die sich in der Ukraine befunden hatten; das darin enthaltene Uran sollte zu Brennstoff für ukrainische Atomkraftwerke verarbeitet werden.

Der Abtransport der ukrainischen Sprengköpfe nach Russland dauerte von März 1994 bis 1.6.1996. 1999 wurden die letzten ukrainischen SS-19 verschrottet und die Vernichtung ihrer Startsilos abgeschlossen. Am 30.10.2001 erfüllte die Ukraine mit der Zerstörung des letzten SS-24-Silos endgültig ihre Verpflichtungen aus START I. Die SS-24 selbst sollen bis Ende 2004 entsorgt werden. Die Ukraine unterzeichnete CTBT 1996, 2000 erfolgte die Ratifizierung.

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4 Weißrussland

Weißrussland beherbergte beim Zerfall der UdSSR 81 ICBM vom Typ SS-25 in zwei Basen und mindestens 725 taktische Atombomben. Die Ende 1992 vom Parlament beschlossene Militärdoktrin verlangte einen atomwaffenfreien Status des Landes. Am 23.5.1992 unterzeichnete Weißrussland START I. Am 4.2.1993 ratifizierte es den Vertrag und traf zugleich die Entscheidung, sich dem NPT anzuschließen. Am 22.7.1993 erkannte Weißrussland die russische Jurisdiktion über die auf seinem Gebiet befindlichen ICBM an und wurde als Nichtatomwaffenstaat Mitglied des NPT.

Der 1994 gewählte Präsident Aljaksandr Lukašėnka kritisierte den (nach mehreren Verzögerungen) mit 27.11.1996 abgeschlossenen Abzug der weißrussischen ICBM nach Russland in der Folge immer wieder heftig und nannte ihn „Fehler“ und „Verbrechen“. Das stand jedoch nicht nur im Widerspruch zu vertraglichen Verpflichtungen, die Weißrussland auf sich genommen hatte, sondern auch zu Lukašėnkas eigener (autoritärer) Verfassung vom November 1996: Darin war nämlich die von der ersten postsowjetischen Verfassung von 1994 postulierte Atomwaffenfreiheit erhalten geblieben.

Nach einem weißrussisch-amerikanischen Vertrag von 1992 sollten bis Ende 2001 auch die Startrampen für die ICBM zerstört werden. Das stieß jedoch auf die Opposition Lukašenkas, der sich scheinbar die Option einer Rückkehr russischer Atomwaffen nach Weißrussland offen halten wollte: Mit einer solchen drohte er nämlich immer wieder für den Fall einer NATO-Osterweiterung (deren erste Welle 1999 vollzogen wurde). Dann bezog Lukašenka die Position, dass doch keine Neustationierung russischer Atomwaffen nötig sei, weil Moskau durch die am 8.12.1999 vertraglich vereinbarte Schaffung eines russisch-weißrussischen Unionsstaates und aufgrund der im Jahr 2000 verabschiedeten russischen Militärdoktrin ohnedies bereit sei, Weißrussland im Falle einer Aggression auch mit Atomwaffen zu verteidigen.

Am 24.9.1996 unterzeichnete Weißrussland den CTBT, und am 16.5.2000 billigte Lukašėnka das Ratifizierungsgesetz.

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5 Kasachstan

Beim Zerfall der UdSSR waren 104 Einheiten SS-18 mit je zehn Sprengköpfen in zwei kasachischen Basen stationiert. Dazu kamen 40 strategische Bomber vom Typ Tu-95MS ›Bear H‹ mit insgesamt 370 Cruisemissiles (mit je einem Atomsprengkopf). Kasachstan ratifizierte START I am 2.7.1992. Bis Februar 1994 wurden 33 Bomber nach Russland gebracht, sieben waren nicht mehr einsatzfähig. Im gleichen Monat trat Kasachstan dem NPT als Nichtatomwaffenstaat bei. Bis April 1995 wurde der Abzug der Atomsprengköpfe der kasachischen ICBM nach Russland beendet, bis 1996 folgten die Raketen selbst. Die ICBM-Startsilos wurden zerstört. Das 18.000 km² große Gelände von Semipalatinsk (russ., kasach. Semej), das 1949-89 Schauplatz von 456 sowjetischen Atomtests gewesen war, wurde durch einen Erlass des Präsidenten Kasachstans vom 29.8.1991 offiziell geschlossen. Im Jahr 2000 wurden die letzten Testschächte unbrauchbar gemacht.

Fischer S., Nassauer O. (Hg.) 1992: Satansfaust. Das nukleare Erbe der Sowjetunion. Berlin. Jung M. 2000: Die nukleare Abrüstung der Ukraine 1991-1996. Ein Lehrstück für die ukrainische Außen- und Sicherheitspolitik. Baden-Baden. Pikaev A. (red.) 1998: Jadernye nasledniki Sovetskogo Sojuza. Moskva (=Jadernoe oružie, jadernye materialy i eksportnyj kontrolʹ, vypusk 5). Podberezkin A. 1999: Dogovor SNV-2 i buduščee strategičeskich jadernych sil. Moskva. Umbach F. 1992: Das nukleare Erbe der militärischen Supermacht UdSSR - Teil 1. Köln (=Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 38/1992).

(Martin Malek)

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