Lotman, Jurij Michajlovič
Lotman, Jurij Michajlovič; *28.2.1922 Petrograd (heute St. Petersburg) †28.10.1993 Tartu, Professor für russische Literatur an der Universität Tartu, Gastprofessuren in mehreren (ehemals) sozialistischen Ländern, korrespondierendes Mitglied der ›British Academy of Sciences‹ und der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, 1989 Ehrendoktor der ›Université Libre de Bruxelles‹. 1969–85 Vizepräsident der ›International Association of Semiotic Studies‹.
L. begann sein Studium der russischen Literatur 1939 an der Leningrader Universität (russ. Leningradskij Universitet), an der damals führende Formalisten wie Boris M. Ėjchenbaum, Boris V. Tomaševskij und Viktor M. Žirmunskij lehrten. 1940–46 unterbrach der Armeedienst seine Studien. 1950 zog er nach Tartu um und begann 1951 seine Arbeit an der Tartuer Staatlichen Universität, 1951 heiratete er die Literaturwissenschaftlerin und Spezialistin für den Symbolismus Zara Grigorʹevna Minc. 1952 promovierte er an der Leningrader Universität mit einer Arbeit über Aleksandr N. Radiščev, 1961 habilitierte er sich in Tartu mit einer Arbeit über „Die Entwicklungswege der russischen Literatur in der Periode vor den Dekabristen“ (russ. Puti razvitija russkoj literatury preddekabristskogo perioda). Ab 1963 leitete L. den Lehrstuhl für russische Literatur in Tartu.
In den 60er Jahren wandte sich L. zunächst dem Strukturalismus zu und etablierte sich als führender sowjetischer Strukturalist. 1964 erschienen die „Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik“ (russ. Lekcii po strukturalʹnoj poėtike) in der Zeitschrift „Arbeiten über die Semiotik“ (russ. Trudy po znakovym sistemam), der ersten und ältesten Zeitschrift für Semiotik, die unter dem Titel ›Sign Systems Studies‹ seit 1998 international weiterexistiert. 1970 folgte sein Werk „Die Struktur künstlerischer Texte“ (russ. Struktura chudožestvennogo teksta), das seit dieser Zeit auch im Westen ein Standardlehrwerk ist.
Es folgten Untersuchungen zur Analyse des poetischen Textes (1972) und zum Kino (1973), ab 1980 die Untersuchung von Kultur als speziellem Phänomen, z. B. in „Kultur und Ausbruch“ (russ. Kultura i vzryv, 1992). L.s Werk zeigt eine Ausweitung von der Untersuchung des Textes und seiner Poetik hin zu einer Untersuchung der menschlichen Kultur als ganzes. Beschäftigte er sich zunächst mit der Textsemiotik und Genese von Bedeutung im Text, so führte er in den 80er Jahren mit der Semiosphäre, die er aus Vladimir I. Vernadskijs „Biosphäre“ herleitete, eine semiotische Architektur der Kultur ein, die er als durch ein monologisches Zentrum und eine dialogische Peripherie gekennzeichnet sah. Als letzten Punkt untersuchte er die Semiotik der Geschichte und den historischen Prozess als Ganzen, ohne das fundamentale Problem der diachronen Beschreibung mit den Mitteln der synchronen Analyse lösen zu können, weil er die Einteilung in Dichotomien nicht aufgab.
L. war der ›spiritus rector et movens‹ der Moskau-Tartuer Schule der Semiotik, deren Organ, die ›Trudy po znakovym sistemam,‹ er heraus gab und deren Sommerschulen in Tartu er organisierte. Der Umzug des Zentrums der sowjetischen strukturalistischen und semiotischen Forschungen von Moskau nach Tartu hatte eher pragmatische Gründe: in Tartu konnte L. in den 60er und 70er Jahren Artikel veröffentlichen, die man in Moskau nicht drucken konnte.
Mit seinem Werk hat L. nicht nur die sowjetische Semiotik begründet und ausgebaut, sondern Tartu zu einem „Mekka der Semiotiker“ (T. Sebeok) gemacht und – obwohl er erst nach 1987 Vortragsreisen ins westliche Ausland unternehmen durfte – einen erheblichen Einfluss auf die Literatur- und Kulturwissenschaft der westlichen Forschung genommen. So ist die Aufnahme der Untersuchung von „Bedeutung“ unter den französischen Strukturalisten direkt auf L. zurückzuführen und hat sein Kulturbegriff Eingang in die westlichen Kulturwissenschaften gefunden.
Eismann W., Grzybek P. 1994: In memoriam Jurij Michajlovič Lotman (1922–1993). Zeitschrift für Semiotik 16, 105–116. Kristeva J. 1994: On Yuri Lotman. PMLA 109/3, 375–376. Spisok trudov Ju. M. Lotmana. Izbrannye statʹi, t. 3, Tallinn 1993, 441–482. Sebeok T. A. 1998: The Estonian Connection. Sign Systems Studies 16, 20–41. Voigt V. 1995: In memoriam of „Lotmanosphere“. Semiotica 105, 191–206.