Ukrainische Literatur
Ukrainische Literatur
Die Geschichte der u. L. hängt seit ihrem Beginn in der Kiewer Rus (Mitte des 9. Jh.) eng mit der politischen und kulturellen Entwicklung Mittel- und Osteuropas – insbesondere der Auseinandersetzung der Ukraine mit ihren Nachbarn Polen und Russland – zusammen, wie jeweils folgenreich die Verbote der ukrainischen Schriftsprache und Literatur im russischen Reich im 19. und beginnenden 20. Jh. oder die Festschreibung des Ukrainischen als einziger Staatssprache der Ukraine 1996 zeigen. Eng verknüpft sind ukrainische Literatur- und Sprachgeschichte. Der Übergang von der ukrainisch-russisch-kirchenslawischen Buchsprache zur ukrainischen Volkssprache Ende des 18. Jh. stellt in der Literatur den Beginn des modernen ukrainischen Schrifttums dar. Um dieses Spezifische der ukrainischen Literaturgeschichte darzustellen, ist stets auch ein Blick auf die Sprachgeschichte zu werfen, um gängige Schematisierungen nach europäischen Epochenbezeichnungen zu ergänzen.
Inhaltsverzeichnis |
1 Mittelalterliche, kirchenslawische Literatur
Im Jahr 988 entschieden sich die Herrscher der Kiewer Rus für das orthodoxe Christentum und damit für die kulturelle Ausrichtung nach Byzanz. In dieser frühen Phase war das Schrifttum eng mit der orthodox-byzantinischen Christianisierung verknüpft. Mit in das Altkirchenslawische übersetzten liturgischen und biblischen Texten beginnt das Schrifttum der Kiewer Rus. Das Altkirchenslawische war die lingua franca der Ostslawen, anerkannt auch als buchsprachliche Form der eigenen Sprache, die sich regional in Lexik und Grammatik unterschied. Die am Beginn des Schrifttums der Ukrainer stehende übersetzte und Originalliteratur stellt aufgrund der territorialen Ausdehnung der Kiewer Rus und der lokalen Verteilung der Texte das gemeinsame literarische Erbe der Ukraine, Russlands und Weißrusslands dar. So sollte auch für die Schriftdenkmäler und Sprachen dieser Zeit statt des Begriffs „Altrussisch“ die Bezeichnung „Altostslawisch“ verwendet werden. Dieses frühe Schrifttum spielt zudem mit seinem terminologischen Apparat eine wichtige Rolle für die Bereicherung und Entwicklung der Sprache und Kultur aller Ostslawen der Kiewer Rus. Unter Jaroslav dem Weisen (978–1054) wurden in einer eigenen Übersetzerwerkstatt religiöse und populärwissenschaftliche Literatur, historische Werke und Romane der byzantinischen Kultur übertragen und abgeschrieben. Zudem entstanden eigenständige Werke wie Chroniken, so die „Hypatios-Chronik“ (ukrain. Ipatsʹkyj litopys), welche die sog. „Nestor-Chronik“ (ukrain. Povistʹ minulych lit) mit Ereignissen bis 1117 umfasst sowie die Fortsetzungen in der „Kiewer Chronik“ (ukrain. Kyjivsʹkyj litopys, Ereignisse bis 1201) und der „Galizisch-Wolynischen Chronik“ (ukrain. Halycʹko-Volynsʹkyj litopys, Ereignisse bis 1290). Die Nestor-Chronik stellt eine Komposition aus Berichten, Legenden und Erzählungen beginnend mit dem 9. Jh. über die Ostslawen dar und beeinflusste alle in der Folgezeit verfassten ostslawischen Chroniken. Einen ersten Höhepunkt bildet dann das Igorlied (ukrain. Slovo o polku Ihorevim) von einem unbekannten Autor. Es stellt mit der Verwendung mannigfaltiger poetischer Mittel aus hoher Literatur und Folklore den fehlgeschlagenen Feldzug gegen die asiatischen Polowzer episch dar. Zwar sind die meisten Texte der Kiewer Rus nur aus späteren Abschriften bekannt, doch beim Igorlied ist der Abstand der vermuteten Entstehungszeit – letztes Drittel des 12. Jh. – und der Abschrift besonders groß. Das Igorlied wurde erstmals 1800 veröffentlicht und kurze Zeit später verbrannte die einzig bekannte Abschrift. So gibt es begründete Zweifel an der Echtheit des Textes, um so mehr, da im 19. Jh. zahlreiche Handschriftenfälschungen in verschiedenen europäischen Literaturen auftauchten. Auch nach dem Niedergang der Kiewer Rus durch innere Uneinigkeit und die Invasion der Mongolen und Tartaren in der Mitte des 13. Jh. setzte sich die Entwicklung der vorangehenden Jahrhunderte fort, es entstanden Heiligenlegenden, religiöse und weltliche Texte, z. B. Urkunden oder Rechtsdokumente wie das „Gesetz der Kiewer Rus“ (ukrain. Rusʹka pravda, älteste erhaltene Abschrift 1282). Die zentralen und westlichen Gebiete des Kiewer Reiches, in der 2. Hälfte des 13. Jh. das Königreich Galizien-Wolynien bildend, heute zu Weißrussland bzw. der Ukraine gehörend (im Gegensatz zu den nördlichen Gebieten, dem heutigen Russland) richten sich ab dieser Zeit an der abendländisch-lateinischen Kultur aus.
2 Spätmittelalterliche Literatur
Die politische Instabilität wirkte sich im 14. und 15. Jh. auch auf die Kultur aus und so war die literarische Produktion bescheiden und ohne nennenswerte Entwicklung. Das Königreich Galizien-Wolynien sowie die meisten anderen Gebiete der ehemaligen Kiewer Rus wurden 1349 der damals wichtigsten osteuropäischen Großmacht Litauen angegliedert, die seit dem ausgehenden 14. Jh. mit Polen in einer Personalunion stand. Es dominierten Abschriften, Neuübersetzungen religiöser Literatur und die Kompilation von Chroniken. Das Ukrainische war in den südlichen, das Weißrussische in den nördlichen Gebieten als Verwaltungssprache des Großfürstentums Litauen in Gebrauch. Die weißrussisch-ukrainische Verkehrssprache blieb in der Ukraine bis ins ausgehende 17. Jh. im Gebrauch. Galizien gehörte zum polnischen Reichsgebiet, hier kam es kulturell zu einer deutlichen Anlehnung an europäische Vorbilder.
3 Barockliteratur
Zu einem erneuten Aufschwung literarischen Schaffens kam es Mitte des 16. Jh. durch über Polen vermitteltes reformatorisches und gegenreformatorisches Schrifttum. Wie in Mittel- und Westeuropa entstanden volkssprachliche Bibelübersetzungen (z. B. „Evangelium von Peresopnycja“ [ukrain. Peresopnycʹke jevanhelije, 1556–1561]). Andererseits führte der zunehmende Einfluss des Katholizismus in Kultur und Gesellschaft zu einer orthodoxen Gegenbewegung, die im ausgehenden 16. Jh. und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jh. zahlreiche polemische Schriften und gelehrte Abhandlungen, z. B. Ivan Vyšensʹkyj (ca. 1545– ca. 1620), hervorbrachte, die u. a. gegen die Etablierung einer katholischen Kirche mit orthodoxem Ritus (Union von Brest 1596) gerichtet waren. Eine weitere Reaktion war die Gründung orthodoxer Bruderschaften, deren Mitglieder (hauptsächlich Städter) Schulen, Druckereien und Spitäler betrieben und sich als Erneuerer der Orthodoxie verstanden. So wurde in einer der bedeutendsten dieser Lehranstalten, in Ostrih (neben den Zentren Lʹviv und Kiew), 1581 eine vollständige Bibelübersetzung auf der Grundlage des Kirchenslawischen gedruckt, die zum Vorbild zahlreicher späterer Bibeldrucke wurde. Vor diesem Hintergrund entstehen in der Ukraine und Weißrussland auch erste Grammatiken und Wörterbücher der ukrainischen und weißrussischen Ausprägung des Kirchenslawischen (z. B. M. Smotrycʹkyj, P. Berynda). Diese Entwicklung stand im Zusammenspiel mit dem politischen Wandel ab dem ausgehenden 16. Jh., als die Kosaken zu einem immer wichtigeren gesellschaftspolitischen Faktor im polnisch-litauischen Reich wurden. Die polnische Seite war auf Grund der militärischen Bedeutsamkeit der Kosakenheere bestrebt, diese an sich zu binden und machte im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich Zugeständnisse. So wurde Kiew zu Beginn des 17. Jh. zum Zentrum ukrainischer Gelehrsamkeit und Literatur. Das nach dem Vorbild jesuitischer Lehranstalten 1632 gegründete Mohyla-Kollegium (ab 1701 Akademie) stellte die einzige höhere Lehranstalt im ostslawischen Raum dar. Sie spielte eine wesentliche Rolle für die Entwicklung des ukrainischen Barock, der wie auch in anderen europäischen Literaturen durch die kirchliche Bindung der Autoren oft religiösen Hintergrund hatte. Die Sprache der Werke ist entsprechend ihrem Funktionsbereich sehr verschieden. So sind religiöse Gebrauchstexte nach wie vor in einem oftmals archaisierten Kirchenslawisch verfasst, dessen Abstand zur Volkssprache (seit dem 14. Jh.) beständig zunahm. Ein der Volkssprache stark angenähertes Kirchenslawisch findet sich hingegen in zahlreichen Predigtsammlungen (z. B. P. Mohyla, D. Tuptalo). Hier wie auch in den auf jesuitischen Einfluss gründenden sog. Schuldramen, deren Autoren meist unbekannt sind, wurde ein lebendiger Dialogstil entwickelt. Bestandteil dieser pädagogischen Dramen waren humoristische Zwischenspiele, die Intermedien, in denen mit oft derbem Humor über verschiedene gesellschaftliche Gruppen wie polnische Adelige, ihre jüdischen Pächter und Verwalter in der Ukraine, aber auch über Kosaken, Zigeuner, Bauern, Popen hergezogen wurde, so z. B. in M. Dovhalevsʹkyjs (titellosen) Stücken (1737) oder bei H. Konysʹkyj „Die Auferstehung der Toten“ (ukrain. Voskreseniė mertvych, 1746/47) Doch auch in den Dramen selbst sind Erhabenes und Tragisches mit Niedrigem und Komischem verwoben, wozu der Gebrauch der Volkssprache ein probates Mittel darstellte, so in F. Propokovyč Volodymyr (1705) u. a. Dieser ambivalenten barocken Welterfahrung verleiht H. Skovoroda (1722–1794) in seinen philosophischen Schriften, Poemen und Fabeln auf eindrucksvolle Weise Ausdruck. Skovoroda, der aufgrund seiner ungewöhnlichen Lebensweise als wandernder Lehrer mit seiner Philosophie der Lebensfreude große Achtung genoss, schuf in seinen in der 2. Hälfte des 18. Jh. entstandenen Werken eine Verknüpfung von spätbarockem, aufklärerischem und vorromantischem Gedankengut, das sprachlich eine Mischung ukrainischer und russischer Elemente auf kirchenslawischer Basis darstellt. So blühte in der Ukraine ab der 2. Hälfte des 17. Jh. für fast 100 Jahre ein hochentwickeltes europäisches Schrifttum, das im Schnittpunkt zwischen Ost und West die Impulse der lateinischen und der byzantinischen Tradition integrierte. Insgesamt aber verlor durch die zunehmende politische Abhängigkeit der Ukraine von Moskau im 18. Jh. – die Bezeichnung Ukraine verschwand aus offiziellen Dokumenten und wurde durch „Kleinrussland“ (ukrain. Malorossija) ersetzt – auch die ukrainische Bildungskultur und Sprache immer weiter an Bedeutung. Peter der Große und seine Nachfolger verstanden es nicht nur im politischen, sondern auch im kulturellen Bereich – z. T. mit repressiven Maßnahmen, wie Verbotserlassen zum Druck ukrainischer Bücher (wiederholt ab 1720) – die Ukraine eng an Russland zu binden und von ihren geistigen Ressourcen zu profitieren, indem zahlreiche Gelehrte (z. B. S. Polocʹkyj, F. Prokopovyč, St. Javorsʹkyj) und Studenten aus der Kiewer Akademie nach Moskau und Petersburg gingen. Im polnischen (westlich des Dnjepr gelegenen) Teil der Ukraine kam es bereits seit dem letzten Drittel des 17. Jh. zu einer durch die polnische Kultur vermittelten Europäisierung von Sprache und Bildung, so dass Autoren der Barockliteratur in der Ukraine oft auf lateinisch und polnisch schrieben (z. B. F. Prokopovyč, M. Dovhalevsʹkyj).
4 Volkssprachliche Literatur
Für die Entfaltung der u. L. im 19. und 20. Jh. stellen die volkssprachlichen Barocktexte und die Intermedien ein wichtiges Moment dar, da die Literatursprache hier besonders eng mit der gesprochenen Sprache verknüpft ist. Beispielhaft hierfür ist Ivan Kotljarevsʹkyjs (1769–1838) ›Aeneis‹ (Enejida Teil I–III 1798, Teil IV 1809). Dieses Werk war inspiriert von den im Klassizismus beliebten Travestien antiker Texte, um Missstände zu verspotten, wobei man sich oft umgangssprachlicher Elemente bediente. Während in den meisten Nationalliteraturen diese Texte bald vergessen wurden, stellt die Enejida den Beginn der modernen u. L. dar, die sich vom Kirchenslawischen verabschiedete und nun ausschließlich auf der Volks- und Umgangssprache beruhte. Das auch heute noch ästhetisch ansprechende Stück stellt einen hintergründigen Text über Geschichte und Gegenwart der Ukraine dar. Die Trojaner werden durch Kosaken ersetzt, die nach der Zerstörung ihrer Heimat auf der Suche nach einer neuen Bleibe durch Europa ziehen und dabei allerlei Abenteuer erleben, wobei Götter, Adlige und Helden sehr bodenständig in ihrer Sprache und ihrem Verhalten auftreten. So stellt das Werk auch eine Art volkskundlicher und sprachlicher Enzyklopädie dar und wirkte zudem durch die Einführung syllabotonischer Metrik innovativ im Versmaß. Mit ihrer unvoreingenommenen Darstellung von Leben und Sprache des ukrainischen Volkes und in der Hinwendung zur ukrainischen Geschichte geht die Aeneis über die klassizistischen Travestien hinaus und weist den Übergang zur Romantik. Kotljarevsʹkyj bewirkte zudem mit seinen Theaterstücken „Natalja aus Poltava“ (ukrain. Natalka Poltavka), „Der Hexen-Soldat“ (ukrain. Moskalʹ-čarivnyk) und als Theaterdirektor eine rasche Erneuerung der noch von spätbarocken Traditionen geprägten Bühnenkunst in der Ukraine. Auch in politischer Hinsicht kam es Ende des 18. Jh. zu einem Umbruch durch die Teilungen Polens, bei denen große Gebiete der Ukraine westlich des Dnjepr zu Russland kamen, während die westlichen und südwestlichen Landesteile Galizien und Bukowina an Österreich-Ungarn fielen. Insbesondere die liberalere (im Vergleich zu Russland und Polen) Nationalitätenpolitik Österreichs kam der Entwicklung der ukrainischen Literatursprache entgegen. Galizien wurde ab Mitte des 19. Jh. zur treibenden Kraft für Kultur und Gesellschaft. Kotljarevsʹkyjs Werke inspirierten zahlreiche weitere Versuche mit verschiedenen Themen, Genren (satirischen Fabeln, Balladen, Epigrammen, Psalmen, Gedichten, Erzählungen) und Ausdrucksformen. So erschienen in den 1830er Jahren die Erzählungen und Kurzromane, z. B. „Die Hexe aus Konotop“ (ukrain. Marusja und Konotopsʹka vidʹma) von Hryhorij Kvitka-Osnovjanenko (1778–1843), die den Beginn der ukrainischen Prosa markieren. Marusja handelt von einer unglücklichen Liebe, wobei wie in Kotljarevsʹkyjs Werken zahlreiche ethnographische und folkloristische Details eingearbeitet werden, doch im Gegensatz zur Enejida fehlen komische Elemente und eine traurig-sentimentale Stimmung wird erzeugt. Diese Erzählungen, in denen zwar romantische Motive anklingen, sind mit ihrer Personendarstellung und Handlungsführung dem späten Klassizismus und Sentimentalismus verpflichtet mit zumeist – bei der sozialen Situation der Ukrainer naheliegenden – tragischen Ereignissen aus dem ländlichen Umfeld im Mittelpunkt. Zur Darstellung „übernationaler“ Milieus wurde zu dieser Zeit die russische oder polnische Sprache verwendet. Diese Tendenz setzte sich im 19. Jh. fort, unter gewandelten politischen Voraussetzungen, in denen das Russische als Verkehrssprache des zaristischen Kolonialreichs funktionierte. Prominentestes Beispiel ist Nikolaj Gogolʹ (ukrain. Mykola Hoholʹ), der die russische Sprache und Literatur jedoch nachhaltig mit Ukrainismen bereicherte. Andererseits kam es auch zu dem Phänomen, dass polnische und russische Intellektuelle, getragen von der romantischen Hinwendung zu „ursprünglichen“ Traditionen, ukrainische Themen bearbeiteten und vereinzelt sogar begannen, Ukrainisch zu schreiben. In Galizien und der Bukowina lässt sich in der 2. Hälfte des 19. Jh. indessen beobachten, dass sich ukrainische Intellektuelle, die im deutschsprachigen Milieu heimisch waren und auf Deutsch schrieben, „reukrainisierten“ und zu bedeutenden ukrainischen Autoren wurden, z. B. Ju. Fedʹkovyč und O. Kobylansʹka.
5 Romantik
Die Situierung der literarischen Texte im ländlichen ukrainischen Milieu setzte sich auch zu Beginn der Romantik fort, die sich in drei lokal zu unterscheidende Entwicklungen einteilen lässt: 1. die Charkiver, 2. die Kiewer und Petersburger sowie 3. die westukrainische Romantik. Die ukrainische Romantik insgesamt, die Charkiver im besonderen, kennzeichnet ein intensives wissenschaftliches Interesse an ukrainischer Folklore und Ethnographie. Das Volk wird nun mit seinem Denken, Sprechen und Handeln als Erkenntnisquelle verstanden, nicht mehr als unkultivierte Menschenansammlung gesehen, sondern in seiner Eigenheit, die sich u. a. in der Sprache ausdrückt. Wie bei anderen nationalen Bewegungen im frühen 19. Jh. waren es auch hier philologisch und historisch gebildete Intellektuelle, die mit der Sammlung und Publikation von Quellen und davon inspiriert mit eigener Dichtung am Beginn der romantischen Bewegung standen, wie der ukrainophile russische Philologe Izmail Sreznevskij (1812–1880), der Historiker und Dichter Mykola Kostomariv (1817–1885), der Philologe und Dichter Amvrosij Metlynsʹkyj (1814–1870) u. a. Die Naturverbundenheit und das Interesse für ursprüngliche künstlerische Formen führten neben der Beschäftigung mit Folklore (Märchen, Sagen, Lieder, Sprichwörter u. a.) auch zur Geschichte. Vergangene Epochen werden als Zeitabschnitte mit charakteristischen Merkmalen gedeutet, so etwa die Kosakenzeit (16./17. Jh.) oder die Hajdamaken-Aufstände (Mitte des 18. Jh.). Das Thema des um die Freiheit ringenden Volkes tritt dann v. a. in der Kiewer und Petersburger Romantik in den Vordergrund und findet seinen deutlichsten Ausdruck im Zusammenschluss von Taras Ševčenko (1814–1861), Pantelejmon Kuliš (1819–1897) und M. Kostomariv zur illegalen „Bruderschaft der hl. Kyrill und Method“, Ende 1845 an der Kiewer Universität mit anderen Idealisten organisiert. Ziel der Organisation war eine Föderation der slawischen Völker, die auf Demokratie und Gleichberechtigung gründet. Neben Herder und dem deutschen Idealismus wirkte hier auch das Slawophilentum der Westslawen (J. Kollär, P. J. Šafařík, A. Mickiewicz), das Kostomariv zu den „Büchern der Genesis des ukrainischen Volkes“ (ukrain. Knyhy bytija ukrajinsʹkoho narodu) inspirierte. Bereits 1847 wurden die meisten Mitglieder verhaftet und bestraft. Am härtesten traf es den bekanntesten und bedeutendsten ukrainischen Dichter des 19. Jh. T. Ševčenko, der zu zehn Jahren Verbannung nach Kasachstan verurteilt wurde, wobei der Zar persönlich dem Urteil ein Schreib- und Malverbot hinzufügte. Ševčenkos Biographie entspricht in vielem dem romantischem Verständnis vom Dichter als Prophet und moralischer Autorität seines Volkes. In der Funktion als Nationaldichter ragt Ševčenko über Puškin bei den Russen oder Mickiewicz bei den Polen noch hinaus. Für ihn, der als Leibeigener geboren und erst später durch die Initiative von Künstlerfreunden freigekauft wurde, war die Vision der Freiheit nicht nur ein literarisches Thema. Ab 1840 erschienen die Gedichte, Balladen, Poeme, Satiren und biblischen Dichtungen Ševčenkos unter dem Titel Kobzar. In der hier gesammelten Dichtung erreicht die mit Kotljarevsʹkyj begonnene Entwicklung einer ukrainischen Literatursprache eindrucksvoll ihren ersten Höhepunkt. Wesentlich zur funktionellen Erweiterung der u. L. und Sprache trug auch P. Kuliš mit seinem historischen, im Umfeld der Kosaken angesiedelten Roman „Der schwarze Rat“ (ukrain. Čorna rada, 1857), wie auch seiner Lyrik und Übersetzungen aus der europäischen Literatur und der Bibel bei. In der westukrainischen Romantik waren als Ethnographen und Autoren v. a. Jakiv Holovacʹkyj (1814–1888), Ivan Vahylevyč (1811–1866) und Markijan Šaškevyč (1811–1843) in Lʹviv aktiv. Wie in der Zentral- und Ostukraine war auch hier die Universität und ihr Umfeld wichtiger Impulsgeber. Das bedeutendste Werk der westukrainischen Romantik stellt die gemeinsame Anthologie „Die Nixe des Dnistr“ (ukrain. Rusalka Dnistrovaja 1837) dar.
6 Realismus
Ähnlich wie der langsame Übergang von der spätbarocken, klassizistischen zur romantischen Literatur verlief in den ausgehenden 1850/60ern Jahren der Übergang von der Romantik zum Realismus. Beispielhaft dafür ist Werk von Jurij Fedʹkovyč (1834–1888). In seinen lyrischen, dramatischen und Prosatexten findet sich Kritik an sozialen Zuständen verbunden mit romantischer Gestaltung der Helden und Motive (z. B. im Roman „Der Deserteur“ [ukrain. Dezertyr, 1868] oder im Poem ›Lukʹjan Kobylicja‹, 1863). Auch in den beiden Prosabänden „Erzählungen aus dem Volk“ (ukrain. Narodni opovidannja, 1857 u. 1862) von Marija Markovyč (1834–1907), die unter dem männlichen Pseudonym Marko Vovčok bekannt wurde, wird das deutlich. In diesen Erzählungen werden eindrucksvoll romantische Helden und Motive gesellschaftskritisch mit Themen wie Leibeigenschaft, Unterdrückung und Willkür der Gutsherren verknüpft. Die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft (1848 in der Habsburgermonarchie, 1861 im Zarenreich) schuf die Voraussetzung für die Ausbreitung nationaler und sozialer Bewegungen in der Bevölkerung, deren Entwicklung insbesondere in den von Russland beherrschten Gebieten der Ukraine sehr schleppend voran ging, aufgehalten sowohl durch politische und soziale Unruhen als auch Restriktionen gegen die in der Volksbildung tätigen literarischen Vereinigungen. Verbote der ukrainischen Sprache fanden einen ersten Höhepunkt 1863 im berüchtigten Zirkular des russischen Innenministers Valuev, in dem es heisst „Eine eigene kleinrussische [ukrainische] Sprache hat es nie gegeben, gibt es nicht und wird es nie geben“; diese wurden später durch den sog. Emser Erlass 1876 von Zar Alexander II. noch verschärft und waren im wesentlichen bis 1905 gültig. Damit verlagerte sich das Zentrum literarischer und intellektueller Aktivitäten in das westukrainische Lʹviv, wodurch das Bewusstsein sprachlicher und nationaler Gemeinsamkeit der West- und Ostukraine gefördert wurde, da in Lʹviv nun zahlreiche Werke ostukrainischer Autoren publiziert wurden, wie z. B. die Romane von I. Nečuj-Levycʹkyj (1838–1918) und P. Myrnyj (1849–1920). Beide sind in ihrer Prosa der realistischen Programmatik verpflichtet, „typische Helden“ in „typischen Situation“ darzustellen und die Verflechtungen zwischen menschlichem Elend und gesellschaftspolitischer Situation zu verdeutlichen. Häufig wurde die Lage der ukrainischen Landbevölkerung z. T. im städtischen, wie in „Die Prostituierte“ (ukrain. Myrnyjs Povija, 1884) oder industriellem Umfeld, so in N. Levycʹkyjs „Die Landstreicherin“ (ukrain. Burlačka, 1880) nach der Bauernbefreiung beschrieben, wobei die psychologisierende Darstellung der Helden vor dem gesellschaftlichen Hintergrund eine zunehmende Rolle spielt. Zudem wird die ukrainische Sprache durch die Entdeckung weiterer Milieus in ihren Ausdrucksmöglichkeiten bereichert. Neu ist die Verknüpfung der sozialen Situation der Ukrainer mit der nationalen Frage. Diese Problematik – in der Westukraine der Konflikt zwischen Polen und Ukrainern – zieht sich deutlich durch das Gesamtwerk Ivan Frankos (1856–1916). Der neben Ševčenko bedeutendste ukrainische Schriftsteller des 19. Jh. hatte eine ähnlich bewegte Biographie mit verschiedenen Gefängnisaufenthalten, politischem Engagement und v. a. erstaunlicher Schaffenskraft, die ein umfangreiches lyrisches, dramatisches und prosaisches Werk sowie zahlreiche Übersetzungen, wissenschaftliche Studien und journalistische Arbeiten hervorbrachte. Franko begann mit Lyrik („Die Steinhauer“ (ukrain. Kamenjari, 1878) und Prosa (›Boa Constrictor‹, „Die Stadt Boryslav lächelt“ (ukrain. Boryslav smijetʹsja, beide 1878) in realistischer Manier, die verschiedenste Themen und Gestaltungsweisen von satirischen Erzählungen bis zum soziopsychologischen Roman umfasst. Dramatisch knüpfte Franko an die sozialkritischen Werke von M. Starycʹkyj, M. Kropyvnycʹkyj und I. Karpenko-Kary an. Sein erfolgreichstes Theaterstück ist das später auch vertonte soziopsychologische Drama „Das gestohlene Glück“ (ukrain. Ukradene ščastja, 1894). In den 1890er Jahren lässt allerdings die realistische Programmatik deutlich nach, anstelle dessen rückt die ästhetische Organisation der Texte, so in dem Lyrikband „Vergilbte Blätter“ (ukrain. Zivʹjale lystja, 1896), dessen Titel bereits auf die neoromantische, „modernistische“ Gestaltung hinweist. Franko betonte nach wie vor die soziale Funktion der Literatur und polemisierte mit seinen Zeitgenossen über die ästhetische Funktion der Kunst (so z. B. mit M. Voronyj und dessen Almanach der ukrainischen Moderne Z nad chmar i dolyn „Von über den Wolken und aus den Tiefen“ (ukrain. Zivʹjale lystja, 1903), beteiligte sich freilich selbst an modernistischen Sammelbänden und schuf mit dem Poem „Moses“ (ukrain. Mojsej, 1905) eine äußerst gelungene Verknüpfung nationaler und sozialer Inhalte mit neoromantischer Ästhetik.
7 Ukrainische Moderne
Auch der Übergang vom Realismus zu neoromantischen, modernen Strömungen fand in der u. L. als allmählicher Wandel statt, wie das Werk Frankos und anderer führender Autoren des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. deutlich zeigt. Mychajlo Kocjubynsʹkyj (1864–1913) begann mit realistischer Prosa, die aber bald von impressionistischer Gestaltung überlagert wurde – sehr augenfällig wird diese Verbindung von sozialkritischem Inhalt, didaktischer Absicht und impressionistischen Verfahren in dem Roman ›Fata Morgana‹ (Teil 1, 1903) und der Erzählung „Auf dem Felsen“ (ukrain. Na kameni, 1902). Die kritische Intention bleibt auch in späteren Meisterstücken wie ›Intermezzo‹ (1909), ›Fata Morgana‹ (Teil 2, 1910) oder „Schatten vergessener Ahnen“ (ukrain. Tiny zabutych predkiv, 1913) erkennbar, doch wird die Welt nun deutlich in ihrer Sinnlichkeit und zugleich Flüchtigkeit wahrgenommen. Damit verschiebt sich auch die Erzählperspektive weg vom allwissenden bzw. nur beobachtenden Erzähler zur Innenperspektive der Helden, oftmals dargeboten im stream of consciousness. Auch die Prosa Vasylʹ Stefanyks (1871–1936) kennzeichnet ein deutlicher Wandel traditioneller Erzählverfahren, wobei die Darstellung existentieller Tragödien der „kleinen Leute“ in Verbindung mit einer dynamischen, oft verknappten Sprache ihn in die Nähe der Expressionisten rückt, z. B. in „Das steinerne Kreuz“ (ukrain. Kaminnyj chrest, 1900). Ähnliches lässt sich auch in den Texten von Hnat Chotkevyč (1877–1938) beobachten, der wie andere modernistische Autoren (Kocjubynsʹkyj, Stefanyk, Kobyljansʹka) als Schauplatz soziopolitischer Konflikte den literarischen Topos der „wilden“ Karpaten mit ihren unbeugsamen Bewohnern aktiviert, z. B. im Drama ›Dovbuš‹ (1909) oder im Roman „Das versteinerte Herz“ (ukrain. Kaminna duša, 1911). Auch in der Prosa von Olʹha Kobylansʹka (1863–1942) finden sich sozialkritische Momente, sowohl in ihren realistischen Werken, z. B. im Roman „Erde“ (ukrain. Zemlja, 1902) als auch in ihrer neoromantischen Prosa. In dem von deutschsprachiger Kultur geprägten Černivci des ausgehenden 19. Jh. begann Kobylansʹka Deutsch zu schreiben und in ihrem Werk scheint u. a. Nietzscheanisches Gedankengut durch. Daneben war sie auch in der Frauenbewegung aktiv. Die Verbindung beider Richtungen äußert sich in ihrem Werk oftmals durch dominante Frauenfiguren, die im Mittelpunkt stehen, so in „Die Prinzessin“ (ukrain. Carivna, 1896) oder „Am Sonntag morgens hackte sie Kräuter“ (ukrain. V nedilju rano zillja kopala, 1909). Im Werk der führenden Autorin der Jahrhundertwende, Lesja Ukrajinka (1871–1913), findet sich das Thema nationaler Unterdrückung und sozialer Benachteiligung exemplifiziert an herausragenden Gestalten und Ereignissen der Weltgeschichte, sowohl in ihrer Lyrik z. B. ›Samson‹ oder „Robert Bruce, schottischer König“ (ukrain. Robert Brjus, korolʹ šotlandsʹkyj) als auch in ihren dramatischen Poemen, eine von ihr geschaffene Form des Theaterstücks, z. B. „Die babylonische Gefangenschaft“ (ukrain. Vavylonsʹkyj polon, 1903) oder ›Kassandra‹ (1907). In all ihren Texten scheint eine lebensbejahende Grundhaltung durch, die meist mit dem Kampf gegen ihre schwere Krankheit in Verbindung gebracht wird. Sehr sinnfällig ist diese Einstellung in ihren dramatischen Poemen „Das Waldlied“ (ukrain. Lisova pisnja, 1911), das äußerst gelungen Motive der ukrainischen Folklore mit existentiellen und nationalen Fragestellungen verbindet sowie in „Der steinerne Herr“ (ukrain. Kaminnyj hospodar, 1912), das den Don Juan Stoff als Konflikt zwischen sozialer Verantwortung und individueller Freiheit präsentiert. Beide Werke stellen Gipfelpunkte ihres Schaffens und der ukrainischen Bühnenkunst insgesamt dar. Auch Volodymyr Vynnyčenko (1880–1951) bereicherte das ukrainische Theater wie auch die Prosa inhaltlich und sprachlich. Seine zahlreichen Theaterstücke, Erzählungen und Romane spielen in der ukrainischen Stadt, oft im Milieu von linksgerichteten Intellektuellen, Arbeitern und gesellschaftlichen Außenseitern und sind eine gelungene Kombination aus revolutionär-abenteuerlichen, gesellschaftskritisch-satirischen und erotischen Elementen, wobei auch die Soziolekte verschiedener Bevölkerungsgruppen verwendet werden, z. B. in „Kraft und Schönheit“ (ukrain. Syla i krasa, 1902). In seinen Werken wird in unterschiedlicher Ausgestaltung die Fähigkeit des Einzelnen sich selbst zu ändern problematisiert, so im Roman „Der schiefnäsige Mephisto“ (ukrain. Zapysky kyrpatoho Mefistofelja, 1917), oft in Verbindung mit der Verantwortung in sozialen und nationalen Auseinandersetzungen. Diese Thematik wird auch deutlich formuliert im Titel des Romans „Ehrlich sich selbst gegenüber“ (ukrain. Česnistʹ z soboju, 1906). Für Vynnyčenko hatten diese Fragen durchaus praktische Relevanz, da er aufgrund seiner politischen Aktivitäten Regierungsvorsitzender der selbständigen Ukraine von 1918/19 wurde. Nach der Eingliederung der Ukraine in die Sowjetunion emigrierte er und schuf noch weitere Romane und essayistische Schriften, so die erste ukrainische Anti-Utopie „Die Sonnenmaschine“ (ukrain. Sonjašna mašyna, 1928). Vynnyčenkos sehr populäres Werk wurde in der Sowjetunion Anfang der 30er Jahre aufgrund der politischen Rolle des Autors verboten. Für die ukrainische Moderne des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. ist wie bei ihren westlichen und östlichen Nachbarn die Betonung der ästhetischen Seite des Seins und der Autonomie des Kunstwerks charakteristisch. Das zeigen die Autoren, die sich um die Zeitschriften „Junge Muse“ (ukrain. Moloda muza) in der Westukraine und „Ukrainisches Heim“ (ukrain. Ukrajinʹska chata) in der Ostukraine zusammenschlossen – der Name letzterer Publikation verdeutlicht, dass man die nationale und soziale Rolle der Literatur in einer modifizierten Form weiterhin akzeptierte. Als einigende Klammer der ukrainischen Moderne wirkte die Abkehr von einer dem Realismus verpflichteten Schreibweise und volksaufklärerischen Intentionen. Wichtige Neuerungen lassen sich hauptsächlich in der Thematik und Sprache (u. a. Einführung städtischer Sprachmilieus) der Werke feststellen. Nicht zuletzt kam es Ende des 19. Jh. zur intensiven Rezeption zeitgenössischer westeuropäischer Literaturströmungen, z. B. bei M. Kocjubynsʹkyj, O. Kobylansʹka, L. Ukrajinka, V. Vynnyčenko u. a. Insbesondere diese Autoren und ihre Werke ebneten den Weg für die Diskussionen der ukrainischen Moderne über Ästhetik und die Rolle der Literatur. Die sowjetische Ukrainisierungspolitik der 1920er Jahre setzte die Bemühungen der ukrainischen Intelligenz des 19. und beginnenden 20. Jh. um kulturelle und auch politische Selbständigkeit weiter fort. Im 19. Jh. hatten diese Anstrengungen vornehmlich eine gesamtukrainische Schriftsprache und Literatur zum Ziel. Zu Beginn des 20. Jh. wurde dieses Stadium zwar im wesentlichen erreicht, aber die Konsolidierung der ukrainischen Sprache und Literatur war noch nicht abgeschlossen. Die in der 2. Hälfte des 19. Jh. vorherrschende Auffassung, Literatur habe nationalen und sozialen Belangen zu dienen, setzte sich nach den Revolutionen von 1917, die das Ende des Zarenreichs und den Beginn des Sowjetimperiums einleiteten, heftig diskutiert im literarischen Schaffen fort.
8 Die 20er Jahre
Nach leidvollen Jahren und soziopolitischen Umbrüchen in Welt- und Bürgerkrieg kam es schließlich durch die militärische Überlegenheit der Roten Armee zu einer Stabilisierung der politischen und mit Einführung der NÖP (1921) der wirtschaftlichen Lage in der Sowjetunion. Ab 1923 begann man die nicht-russischen Nationalkulturen der Sowjetunion zu fördern. In der Ukraine wurden so ab 1925 neben dem Schutz der ukrainischen Sprache im öffentlichen Leben das Presse-, Verlags- und Bildungswesen ukrainisiert. Diese für das ukrainische Geistesleben neuartige und befreite Atmosphäre brachte eine vielfältige Literaturszene hervor, auf der bis zu ihrem gewaltsamen Ende in den beginnenden 1930er Jahren wesentliche Errungenschaften der u. L. des 20. Jh. erzielt wurden. Nachdem zahlreiche Vertreter der vorrevolutionären Literatur entweder in den 1910er Jahren verstarben (Franko, Kocjubynsʹkyj, Ukrajinka) oder nach der endgültigen Eingliederung der Ukraine in den Sowjetstaat emigrierten (z. B. Voronyj, O. Olesʹ, Vynnyčenko), gründete eine neue Schriftstellergeneration Literaturvereinigungen, die insbesondere zwischen 1925 und 1928 heftig über Funktion und Orientierung der u. L. und Kultur diskutierten. Einer der führenden Autoren und Diskutanten war Mykola Chvylʹovyj (1893–1933), der in seinen publizistischen Schriften für eine Neuorientierung des ukrainischen Geisteslebens unter Anlehnung an die europäische Kultur bei gleichzeitiger Abkehr von der russischen Kultur plädierte, die sich nach der Revolution selbst erst orientieren müsse; zudem lehnte er volksaufklärerische und propagandistische Aufgaben der Literatur ab und betonte die ästhetische Funktion von Kunst. Das literarische Werk Chvylʹovyjs umfasst neben früher Lyrik v. a. zahlreiche Erzählungen und Kurzromane, in denen er vielfältige Typen aus der Zeit des Bürgerkriegs schuf, Frauen- und Männergestalten, die ein lebendiges Bild dieser Epoche geben, z. B. in „Der gestiefelte Kater“ (ukrain. Kit u čobotjach); „Ich (Romantisches)“ – (ukrain. Ja [Romantyka]), „Redakteur Kark“ (ukrain. Redaktor Kark); in späteren Texten nimmt die satirische Intention zu, etwa in ›Ivan Ivanovyč‹ und „Der Revisor“ (ukrain. Revizor). Chvylʹovyjs literarische und publizistische Arbeiten sowie seine Aktivitäten als Organisator verschiedener ästhetisch ausgerichteter Literaturvereinigungen führten gegen Ende der 1920er Jahre zu harscher Kritik und Restriktionen der Partei. In der Ukraine kam es bereits ab 1930 zu den ersten Schauprozessen gegen Intellektuelle und Schriftsteller. Chvylʹovyj entging dem in einem letzten lauten Protest, als er sich 1933 erschoss und seine Beerdigung zu einer spontanen Massendemonstration gegen die Sowjetpolitik in der Ukraine wurde. Weitere bedeutende Autoren wie Olesʹ Dosvitnij (1891–1934), Mychajlo Jalovyj (eigentl. Julian Špol 1895–1937), Jurij Janovsʹkyj (1902–1954), Majk Johansen (1895–1937), Mykola Kuliš (1892–1937), Lesʹ Kurbas (1887–1937/1942), Arkadij Ljubčenko (1899–1945), Pavlo Tyčyna (1891–1967), Oleksandr Dovženko (1894–1956) waren Mitglieder der von Chvylʹovyj initiierten Vereinigungen wie z. B. „Freie Akademie proletarischer Literatur“ (ukrain. VAPLITE). Kuliš revolutionierte zusammen mit dem Regisseur Kurbas die ukrainische Bühne in den 20er Jahren mit Stücken wie ›97, ›Chulij Churyn‹, ›Myna Mazajlo‹, „Der Volks-Malachij“ (ukrain. Narodnyj Malachij), „Sonata pathétique“ (ukrain. Patetyčna sonata). Kurbas integrierte mit dem Ensemble des Berezilʹ-Theaters auf ansprechende Weise realistische und folkloristische Traditionen in sein expressionistisch-experimentielles Theater und feierte damit auch im Ausland Erfolge. In der Filmkunst gehört Dovženko mit Filmen wie ›Zvenyhora‹, ›Arsenal‹, „Erde“ (ukrain. Zemlja) nicht nur zu den Pionieren des ukrainischen Kinos, sondern zählt neben S. Ėjzenštejn, V. Pudovkin und D. Vertov zu den bedeutendsten sowjetischen Filmemachern. Nach heftiger Kritik war Dovženko gezwungen, wegen „national-ukrainischer Abweichungen“ die Ukraine zu verlassen. Er ging Anfang der 1930er Jahre nach Moskau und drehte dort weitere Filme. P. Tyčyna gehört mit seiner symbolistischen Lyrik auch heute noch zu den populärsten Dichtern der Ukraine, insbesondere sein Gedichtband „Die Sonnenklarinetten“ (ukrain. Sonjašni kljarnety, 1918) gilt als Meisterstück, das neben reflexiver Naturlyrik auch die Revolution mit ihren nationalen und sozialen Implikationen thematisiert. Seit den beginnenden 30er Jahren wandelte sich dieser „heilige Dichter“ (G. Luckyj) durch politische Repression zu einem der Hofdichter Stalins. Eine weitere Dichterpersönlichkeit der 20er Jahre war der Futurist Mychajlo Semenko (1892–1938), der die europäische Orientierung der ukrainischen Künstler auf die Spitze trieb, mit Werken wie „Der Kobsar“ (ukrain. Kobzar, 1924) – einer giftigen Parodie auf den zur Ikone gewordenen Taras Ševčenko – und letztlich das Unverständnis seiner Zeitgenossen hervorrief. Mitglied der von Semenko initiierten verschiedenen Futuristengruppen war zeitweise der auch als Prosaautor erfolgreiche Geo Škurupij (1903–1937). Die Schriftstellervereinigung VAPLITE führte scharfe Diskussionen mit der Gruppe „Pflug“ (ukrain. Pluh), die als kommunistische Schriftstellerorganisation ländlicher Autoren, insbesondere mit der Person Serhij Pylypenkos (1891–1943) die volksaufklärerische Funktion der Literatur betonte, was in der Praxis bedeutete, die kommunistischen Zielsetzungen der Landbevölkerung zu vermitteln. Dies findet sich in den Werken der talentiertesten Autoren der Gruppe wie Hryhorij Epik (1901–1937), der später zu VAPLITE wechselte, und Andrij Holovko (1897–1972) –zensurbedingt – in „Unkraut“ (ukrain. Burʹan, 1927). Autoren, die sich neutral gegenüber den kommunistischen Machthabern verhielten und die Zusammenarbeit nicht verweigerten, wurden als „Weggefährten“ (ukrain. podorožnyky) bezeichnet. Zu diesen gehörten die Dichter, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Maksym Rylʹsʹkyj (1895–1964), Mykola Zerov (1890–1937), Pavlo Fylypovyč (1891–1937), Mychajlo Draj-Chmara (1889–1939) und Osvalʹd Burhardt (Pseud. Jurij Klen, 1891–1947), welche die Dichtergruppe der sog. Neoklassiker formten, deren Werke aber eher symbolistisch als klassizistisch sind. Von der Gruppe überlebten die Liquidationen der 1930er Jahre nur Rylʹsʹkyj, der sich wie Tyčyna der Partei andiente und der deutschstämmige Burhardt, der Ende der 20er Jahre nach Deutschland emigrierte. Zu den „Weggefährten“ rechnete man auch Autoren wie Borys Antonenko-Davydovyč (1899–1984), Jevhen Plužnyk (1898–1936) u. a., die sich zur Gruppe ›Lanka‹ (später MARS) zusammenschlossen. Ihr bedeutendster Vertreter Valerjan Pidmohylʹnyj (1901–1937) schuf mit seinen spätmodernen Romanen ›Ostap Šaptala‹ (1922), „Die Stadt“ (ukrain. Misto, 1928), „Kein zu großes Drama“ (ukrain. Nevelyčka drama, 1930) und zahlreichen Erzählungen urbanistische Prosa, die Fragen menschlicher Identität und die Möglichkeit, das eigene Schicksal zu gestalten, hinterfragt. Die Bedeutung der ukrainischen Literaturszene der 1920er Jahre für die ukrainische Kultur insgesamt lässt sich kaum überschätzen, dies schließt auch ihre Nachwirkungen mit ein, die bis heute reichen und die Ukraine in ihrem erneuten kulturellen Selbstfindungsprozess beeinflussen.
9 Literatur der Stalinzeit
Ende der 1920er Jahre begann Stalin die Sowjetunion zielstrebig durch Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und verstärkte Industrialisierung umzugestalten. Seine Politik gegenüber der Ukraine, die nationale Identifikation nur auf folkloristischer Ebene, nicht aber im intellektuellen und künstlerischen Bereich zuließ, vernichtete die vielfältige und erfolgreiche u. L. und Kultur oft mit samt ihren Schöpfern, wobei laut Goris Luckyj wenigstens 300 ukrainische Schriftsteller und Intellektuelle den Säuberungen zum Opfer fielen – zugleich starben in den Jahren 1932–34 Millionen Ukrainer in einer von der Moskauer Regierung forcierten Hungersnot. Der Moskauer Schriftstellerkongress 1934 beschloss die Gründung eines gesamtsowjetischen Schriftstellerverbandes. Publizieren konnten dann in der Regel nur Mitglieder dieses Verbands, der als Teil der sowjetischen Nomenklatura funktionierte. Die ideologische Bindung der Literatur wurde durch den sozialistischen Realismus sichergestellt, die Methode, nach der zu schreiben und zu interpretieren war. Die dogmatische Auslegung des sozialistischen Realismus bis Mitte der 1950er Jahren (mit einer kurzen Liberalisierung während des Zweiten Weltkriegs) führte in der Sowjetliteratur zu heute allenfalls für die Literaturwissenschaft interessanten Werken. Bedeutende Autoren der 1920er wie Tyčyna, Mykola Bažan, Rylʹsʹkyj, Janovsʹkyj produzierten wie alle anderen Autoren (Ivan Le, Oleksandr Korničuk, Leonid Pervomajsʹkyj, Andrij Malyško, Mychajlo Stelʹmach, Olesʹ Hončar) dieser Zeit die von der Partei geforderten Texte über die landwirtschaftliche Kollektivierung, den sozialistischen Aufbau, industrielle Großprojekte, den Kampf gegen den sog. bourgeoisen Nationalismus, den Zweiten Weltkrieg, den Anschluss der westukrainischen Gebiete, die Freundschaft zwischen Russland und der Ukraine. Stilistisch fallen diese Werke oftmals in die ethnographische Prosa des frühen Realismus zurück und sprachlich findet in Orthographie und Lexik eine allmählich Russifizierung des Ukrainischen statt.
10 Literatur der Diaspora
Die in der Zwischenkriegszeit in der Westukraine, Transkarpatien, Warschau und Prag lebenden ukrainischen Autoren schrieben in ihren oft neoromantisch verfassten Werken über nationale und historische Themen, wie z. B. Bohdan-Ihor Antonyč (1909–1937), Jevhen Malanjuk (1897–1968), Ulas Samčuk (1905–1987), Svjatoslav Hordynsʹkyj (1906–1993) Bohdan Lepkyj (1872–1941), Bohdan Kravciv (1904–1975), die Dichter der sog. Prager Schule wie Oleh Olʹžyč (1907–1944), Olena Teliha (1907–1942, beide fielen der Gestapo zum Opfer) u. a. Die meisten dieser Autoren flohen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Sowjetarmee weiter nach Westen und gelangten über Deutschland nach Nordamerika, wo viele von ihnen ihr literarisches Werk fortsetzten. Einige schlossen sich während ihres Aufenthaltes in den diversen Flüchtlingslagern in Deutschland zur „Ukrainische Künstlerbewegung“ (ukrain. Mystecʹkyj ukrajinsʹkyj ruch, MUR) zusammen, deren Mitglieder Jurij Kosač, U. Samčuk, Jurij Ševelʹov u. a. zwischen 1945–49 eine rege Publikations- und organisatorische Tätigkeit entwickelten.
11 Literatur der Chruščëv- und Brežnev-Ära
Nach Stalins Tod entspannte sich die Situation in der sowjetischen Gesellschaft und Kultur allmählich und 1956 erscheint als erstes Werk des „Tauwetters“ in der Ukraine die Prosa „Verzauberte Desna“ (ukrain. Začarovana Desna) von O. Dovženko. Nach Chruščëvs Rede auf dem 20. Parteitag wurden halbherzig auch einige Autoren rehabilitiert, in geringer Auflage und sehr selektiv herausgegeben, wobei aber wesentliche Schriftsteller wie Semenko, Chvylʹovyj oder Pidmohylʹnyj fehlten. Manche Autoren, die bereits während des Stalinismus publizierten, interpretierten den sozialistischen Realismus nun freizügiger, so Hryhorij Tjutjunnyk (1920–1961) im Roman „Der Strudel“ (ukrain. Vyr, 1960) und zugleich begann eine junge Künstlergeneration, die später „Sechzigerjahre“ (ukrain. Šistdesjatnyky) genannt wurde, sich demonstrativ von der Literatur und Kunst der durch den Stalinismus kompromittierten vorangehenden Generation abzuwenden und die Rückkehr zu den Ursprüngen, d. h. Marx und Lenin zu fordern. Vor diesem Hintergrund entstand erstmals eine größere Dissidentenbewegung, deren Schriften im Samvydav (ukrain., russ. Samizdat) zirkulierten, so Ivan Dzjubas (1931) offener Brief „Internationalismus oder Russifizierung?“ (ukrain. Internacionalizm čy rusyfikacija?, 1964), die Texte von Ivan Svytlyčnyj (1929–1992), Ihor Kalynecʹ (1939) oder Mychajlo Osadčy (1936) u. a. In offiziellen wie inoffiziellen Texten spielte die nationale Komponente in Geschichte und Gegenwart wieder eine wichtige Rolle. Das liberalere kulturpolitische Klima begünstigte alle Kunstbereiche. Literarisch äußerte sich das deutlich in der Dichtung von Ivan Drač (1936), I. Kalynecʹ, Vitalij Korotyč (1936), Lina Kostenko (1930), Dmytro Pavlyčko (1929), Vasylʹ Stus (1938–1985), Vasylʹ Symonenko (1935–1963), Mykola Vinohranovsʹkyj (1936) u. a., welche die Entwicklung eigenständiger Persönlichkeiten und eine humanistischen Werten verpflichtete Gesellschaft thematisierten sowie frische Metaphern und Wortschöpfungen bzw. Symbole aus der nationalen Vergangenheit in erneuerten literarischen Formen (Etüde, Versroman, Gleichnis, Ballade u. a.) verwendeten. Auch in der Prosa kam es zu Innovationen in der Darstellungsweise, insbesondere im historischen Genre, z. B. Pavlo Zahrebelʹnyjs (1924) Roman „Das Wunder“ (ukrain. Dyvo, 1968) über den Bau der Kiewer Sophienkathedrale; der Autor erregte dann in den 70er und 80er Jahren mit seiner Darstellung ukrainischer Geschichte und ihrer Akteure Aufsehen, so in ›Roksolana‹ (1980), „Ich, Bohdan“ (ukrain. Ja, Bohdan, 1983). Auch Hončars Roman „Die Kathedrale“ (ukrain. Sobor, 1968) thematisiert das Erinnern der eigenen Geschichte. Der Roman wurde kurz nach seinem Erscheinen wegen „nationalistischer“ Abweichungen eingezogen und erst 1988 wieder publiziert. Zuweilen werden historische Stoffe mit einer ukrainischen Variante (ukrain. chymerna proza) magischen Realismusʹ verknüpft, z. B. in Oleksandr Ilʹčenkos (1909–1994) beliebtem Roman „Der Kosakenstamm stirbt niemals aus“ (ukrain. Kozacʹkomu rodu nema perevodu, 1959). Dies setzt sich in den 1970ern und 80ern fort, als verstärkt ukrainische Traditionen im Spiegel eines mythologisierenden Welt- und Geschichtsverständnisses aufgegriffen werden, wie in Valerij Ševčuks (1939) Romanen „Das Haus am Berg“ (ukrain. Dim na hori, 1983) oder „Drei Blätter vor dem Fenster“ (ukrain. Try lystky za viknom, 1986). Auch Volodymyr Drozds (1939) und Roman Ivanyčuks (1929) Romane wenden sich von materialistisch-positivistischen Wirklichkeitskonstruktionen ab, betonen die irrationalen Aspekte des Daseins und aktivieren ein mythisiertes Weltbild. Ab 1965 kam es zu ersten Verhaftungen und Geheimprozessen, die Vjačeslav Čornovil (1937–1999) im Weißbuch „Vergehen des Denkens“ (ukrain. Lycho z rozumu, 1967) dokumentierte und analysierte. Im Zuge der erneuten Repressionen wurden die weltanschaulichen und charakterlichen Unterschiede der Künstler deutlich. Während D. Pavlyčko, I. Drač u. a. sich dem von der Partei vorgegebenen Diskurs anpassten, wurden andere aus der Literatur ausgeschlossen, wie V. Ševčuk oder L. Kostenko, die beide ab Mitte der 1970er kaum noch veröffentlichten, erst in der 2. Hälfte der 1980er erschienen ihre Werke wieder zahlreicher. Weiteren Verhaftungswellen mit Lagerstrafen oder Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten in den 1970ern fielen I. Kalynecʹ, V. Stus (der 1985 im Lager umkam), Jevhen Sverstjuk, I. Svytlyčnyj u. a. zum Opfer.
12 New Yorker Gruppe
In der Emigration formierte sich Ende der 1950er Jahre eine bereits in Nordamerika aufgewachsene Generation ukrainischer Autoren zur New Yorker Gruppe. Im Gegensatz zu den älteren ukrainischen Exilautoren mit ihren oft nationalen Zielen verpflichteten Werken stellte diese mit Emma Andijevsʹka (1931), Bohdan Bojčuk (1927), Patrycija Kylyna (1936), Bohdan Rubčak (1935), Jurij Tarnavsʹkyj (1934), Ženja Vasylʹkivsʹka (1929) und Vira Vovk (1926) – bei aller stilistischer und thematischer Verschiedenheit – ihre Werke ausdrücklich in den Kontext der zeitgenössischen Weltliteratur und gab damit anderen Exilschriftstellern einen Anstoß, sich von nationaler Programmatik zu befreien.
13 Spät- und postsowjetische Literatur
Die politische und soziokulturelle Stagnationsphase seit Ende der 60er Jahre wurde in der 2. Hälfte der 1980er Jahre durch die Reformpolitik Gorbačëvs beendet. Die bisher nicht rehabilitierten Schriftsteller der 1920er und 30er Jahre wie Chvylʹovyj, Pidmohylʹnyj, Vynnyčenko, Semenko kehrten allmählich in die Literatur zurück. Verbotene und zensierte Autoren und ihre Werke aus dem 19. und 20. Jh. wurden wieder, Exilautoren erstmals publiziert. Die Reaktorkatastrophe von Čornobylʹ 1986 rüttelte die ukrainische Gesellschaft vollends wach und immer häufiger wurde die als „geistiges Čornobylʹ„ bezeichnete Zersetzung der ukrainischen Sprache und Kultur während der Sowjetzeit offen diskutiert. In dieser von Repressionen zunehmend freien Atmosphäre erschienen als Auftakt einer Renaissance der u. L. in postsowjetischer Zeit u. a. die ersten Gedichtbände von Viktor Kordun (1946), Ihor Rymaruk (1958) Oksana Zabužko (1960) und Mykola Rjabčuk (1953). Man publizierte Werke, die für die Schublade oder den ›Samvydav‹ und Untergrund geschrieben waren, so Mykola Vorobjovs (1941), Oleh Lyšehas (1949) Dichtung, Volodymyr Dibrovas (1951) Prosa. In Lʹviv schließen sich Jurij Andruchovyč (1960), Viktor Neborak (1961) und Oleksandr Irvanecʹ (1961) zu der wenige Jahre später äußerst populären Gruppe ›Bu-Ba-Bu‹ (›Burlesk-Balahan-Buffonada‹) zusammen. Die Publikation bisher verbotener Literatur setzt sich auch während der 1990er Jahre fort und so existieren in einer bunten Vielfalt nun sozialistische neben ›Samvydav‹-Literatur, unzensierten Werken, Texten der Schubladen-, Exil- und Gegenwartsliteratur. All diese Texte aus unterschiedlichen Jahrzehnten und weltanschaulichen Systemen beanspruchen Aktualität und spiegeln damit die gesamte soziokulturelle Situation, die Unübersichtlichkeit und den Neubeginn in Gesellschaft und Politik wider. Nach zu Beginn oft hilflosen und von Pathos getragenen Versuchen, die verbotenen Autoren in den Literaturkanon zu integrieren, entstanden gegen Ende der 1990 Jahre erste fundierte Arbeiten, welche die Ukrainistik im Ausland und die internationale Forschung reflektieren sowie die Spezifik bisheriger (sowjetischer und nationaler) ukrainischer Geschichtsschreibung kritisch diskutieren. Ende der 1980er Jahre beginnt sich die Literaturszene allmählich zu dezentralisieren, neben Kiew entstehen regionale literarische Zentren wie Charkiv, Ivano-Frankivsʹk, Lʹviv, Žytomyr. 1997 treten zahlreiche wichtige Gegenwartsautoren, wie Ju. Andruchovyč, I. Rymaruk, O. Zabužko, S. Žadan (1974) aus dem Schriftstellerverband (ukrain. Nacional’na spilka pys’mennykiv Ukrajiny, NSPU, „Nationaler Verband der Schriftsteller der Ukraine“, gegr. 1934) aus und gründeten den neuen Verband „Assoziation ukrainischer Schriftsteller“ (ukrain. Asociacija ukrajins’kych pis’mennyiv, AUP). Im literarischen Prozess seit den ausgehenden 1980er Jahren finden sich Parallelen zu Entwicklungen der 1920er Jahre sowie zum Beginn der modernen Literatur im frühen 19. Jh. Diese betreffen die Sprache der Literatur, die programmatisch gegen die der vorangehenden Generation(en) verstößt sowie die Konzeption der u. L. als eigenständige von Russland und Polen unabhängige Größe und Teil der europäischen Literaturtradition.
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