Tschetschenien (Republik)
Tschetschenien (russ. Čečnja, tschetsch. Noxçiyçö).
Inhaltsverzeichnis |
1 Geographie
. ist mit rund 16.000 km² ein relativ kleines Land. Es liegt im zentralen bis östlichen Abschnitt nördlich des Großen Kaukasus, der Gebirgskette zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Nördlich des Gebirgsmassivs erstreckt sich heute eine binationale Gebietseinheit – T.-Inguschetien –, ein Subjekt der Russischen Föderation. Nördlich des Gebirgsmassivs erstreckt sich die Niederung der Flüsse Terek und Kuma, im Westen ein Mittelgebirge zwischen Terek und Sunža. Terek, Sunža und Argun sind Flüsse, die zum Terek-Becken gehören und der Gletscherregion entspringen. Die Wiesen und Schwarzerdeböden der Niederung bieten fruchtbares, landwirtschaftlich nutzbares Gebiet. Die traditionelle Wirtschaft der Tschetschenen ist daher auch Feldbau – Getreide, Obst und Gemüse werden in den Ebenen angebaut; Viehzucht, v. a. Schafzucht, gibt es auch im Gebirge. In Folge der kaukasischen Kriege im 19. Jh. intensivierten die Menschen die Pferdezucht, ebenso das traditionsreiche Waffenschmiedehandwerk.
Heutige Hauptstadt T.s ist Grosny. Hier leben hauptsächlich Russen, weniger als 10 % der dortigen Industriearbeiter waren Tschetschenen und Inguschen. Nach russischen Angaben waren 1989 in Grosny 50,6 % der Einwohner ethnische Russen, 30,6 % Tschetschenen und 5,4 % Inguschen. Heute ist die Stadt weitgehend zerstört, ähnlich T.s wenige weitere Städte Gudermes, Argun und Urus-Martan. Neue verlässliche Statistiken über Bevölkerungszahl oder Ethnien existieren aktuell nicht.
Die Bevölkerung des heutigen Tschetschenien schätzt man auf etwa 921.000 Menschen – zu Beginn der 1990er Jahre, vor den Kriegen, waren es noch etwa 1,2 Millionen. 75 % der Bevölkerung sind Tschetschenen, 20 % Russen, 1 % Armenier und 1 % Ukrainer. Doch in Tschetschenien leben auch Angehörige verschiedener kaukasischer Völker – Kumücken, Nogaier, Awaren, Osseten.
Die Tschetschenen sind eines der ältesten Völker Nordkaukasiens. Sie lebten in Siedlungen. Freie Geschlechterverbände bildeten politische und wirtschaftliche Einheiten. Soziale Basis der Tschetschenen war und ist eine Sippeneinheit mit zwei bis drei Siedlungen (›tejp‹), die sich auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführt. Die gesellschaftlichen Strukturen waren weitgehend egalitär, es gab weder Adel noch Fürstenherrschaft. Die politische Gewalt lag bei Volksversammlungen, die soziale Organisation beruhte auf Clan- und Sippenstrukturen. Allerdings unterscheiden sich die ethnisch heterogenen Sippeneinheiten nach ihrer örtlichen Herkunft bzw. Basis nach Tal- und Gebirgssippen. Letztere haben ein höheres Prestige.
Archaische Muster wie Blutrache (›kanly‹) und Gastrecht (›kunaklyk‹) prägen T.s Gesellschaft bis heute. Insgesamt ist die Rechtskultur stark von den Normen des Stammes-Gewohnheitsrechts (›adat‹) bestimmt. Dies hat sich nach dem Ende der Sowjetunion wieder verstärkt. Die Bevölkerung identifiziert sich stark mit lokalen Gemeinschaften wie Sippe, Dorf oder religiösen Institutionen, aber kaum mit der Nation. Die Tschetschenen gehören wie die Inguschen zur gleichen ethnischen und sprachlichen Gruppe der Wajnachen. Beide sind Teil des Nochči-Volkes, im 19. Jh. erhielten sie jedoch zwei verschiedene Namen. Die tschetschenische Sprache wurde erst im 20. Jh. als Schriftsprache kodifiziert, zunächst auf der Basis des arabischen, 1927 des lateinischen und 1938 des kyrillischen Alphabets. Sie blieb für fast alle Menschen bis heute Muttersprache und wurde durch das Russische nicht verdrängt.
2 Kulturgeschichte
Unter dem Einfluss Georgiens wurden die Tschetschenen zwischen dem 10. und 13. Jh. zum Christentum bekehrt. Aus Dagestan im Osten und Kabardinien im Westen setzte sich seit dem 16. Jh. der Islam durch, der sich ab dem 18. Jh. wegen des Widerstandes gegen die russische Kolonialmacht etablierte. Ebenfalls schon Mitte des 16. Jh. hatte es erste Berührungen zwischen Russland und Nordkaukasien gegeben. So errichtete Russland 1559 die Festung Tarki am Fluss Sunža und damit einen ersten Stützpunkt in T., 1587 entstand eines der ersten Kosakenheere in der Region. Russische Kosaken und die Bergvölker (›gorcy‹) in Nordkaukasien lebten lange Zeit friedlich nebeneinander. Dies änderte sich erst Ende des 18. Jh.: Die Kosaken-Siedlungen wurden größer, gegenseitige Überfälle nahmen zu, und die militärische Durchdringung Kaukasiens durch die russische Armee wuchs. 1707 erhoben sich tschetschenische Stämme erstmals gegen die Russen und zerstörten die Festung Tarki. 1785 bis 1791 kam es zum ersten Dschihad, zum Heiligen Krieg gegen die russische Armee, bei der Scheich Mansur der heute als Nationalheld T.s gefeiert wird, eine Gemeinschaft der kaukasischen Bergvölker gegen die Russen anführte. 1818 legte der Oberkommandierende der russischen Kaukasus-Armee, Aleksej P. Ermolov, die Festung Grosny („schrecklich“) an, die als Stützpunkt für die Strafexpeditionen gegen die kaukasischen Bergvölker diente.
Eine lange Phase russischer Kolonialpolitik und tschetschenischen Widerstandes folgte. Die Tschetschenen beteiligten sich zwischen 1832 und 1859 am vom Imam Schamil, der in dieser Zeit eine Art stammübergreifenden islamischen Staat in Nordkaukasien begründete, angeführten Krieg gegen die Russen. Nach der endgültigen Unterwerfung der Aufständischen durch die russische Armee 1865 verließ rund ein Fünftel der Tschetschenen seine Heimat; in den folgenden Jahrzehnten emigrierten weitere. Eine tschetschenische Diaspora entstand u. a. in der Türkei. In T. kam es auch in der Folgezeit zu Vertreibungen und Umsiedlungsaktionen, die von neuen Aufständen begleitet wurden. Sie sind im Bewusstsein der Menschen bis heute präsent.
Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde ein Scheich des NakschbandiNaqshbandiya-Ordens, einer sufitischen Bruderschaft, zum Imam von Dagestan und T. gewählt; ein anderer religiöser Führer proklamierte ein „Nordkaukasisches Emirat“. Die Bolschewisten unterstützten Projekte der Staatenbildung zunächst. So kam es im Januar 1920 zur Gründung einer autonomen Sowjetrepublik der Bergvölker, die aber schnell wieder in ihre ethnischen Bestandteile zerfiel. 1922 entstand ein tschetschenisches, 1924 ein inguschisches autonomes Gebiet. Die beiden wurden 1934 vereinigt und zwei Jahre später als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) T.-Inguschetien konstituiert.
In den 1930er Jahren wurden die islamischen Institutionen in der UdSSR aufgelöst, der Islam systematisch unterdrückt, die Moscheen weitgehend geschlossen. Bei Tschetschenen und Inguschen stieß der Stalin-Terror aber auch wegen der Kollektivierung der Landwirtschaft auf heftigen Widerstand. Ab 1929/30 begann der Kampf gegen die Rote Armee. Eine Verhaftungs- und Hinrichtungswelle ab 1937, mit der der NKWD einen „Generalschlag gegen antisowjetische Elemente“ versuchte, trieb eine Vielzahl von Tschetschenen und Inguschen der Guerilla zu. 480.000 Angehörige der beiden Völker wurden 1944 unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Nationalsozialisten kollektiv nach Zentralasien deportiert; viele von ihnen starben bereits auf dem Weg dorthin, viele der Zurückgebliebenen fielen Vernichtungsaktionen zum Opfer. Die Biographie der heute lebenden Tschetschenen und Inguschen ist noch von der Deportation geprägt. Viele wuchsen in Kasachstan auf, wo ein Großteil der deponierten Familien angesiedelt worden waren.
1957 wurden beide Völker rehabilitiert und kehrten in ihre autonomen Gebietseinheiten zurück. Allerdings blieb eine vollständige territoriale Rehabilitierung aus: Teile des ursprünglichen Republikterritoriums, die nach der Deportation anderen Gebietseinheiten (Stavropolʹ, Georgien, Dagestan, Nord-Ossetien) zugeschlagenen Abschnitte, blieben unter deren Verwaltung. Verschiedene ehemalige Bergsiedlungen blieben gesperrt, einige wurden geräumt, ihre Einwohner in die Täler umgesiedelt. Nach Wiederherstellung der ASSR wurde mit sechs Moscheen und 20 registrierten Mullahs in Grundzügen ein offizieller Islam nur rudimentär wieder hergestellt. Entsprechend breiter war der Wirkungskreis der islamischen Organisationen im Untergrund.
Die kaukasischen Völker sind heterogen – auch hinsichtlich ihres Glaubens. Im Hinblick auf den Islam lässt sich von einem Ost-West-Gefälle sprechen: Zwischen Dagestan, wo der Hochislam in arabischer Sprache bis in frühsowjetische Zeit hinein verwurzelt blieb, und den westkaukasisch-adygejischen oder tscherkessischen Ethnien, die auch im religiös begründeten Verteidigungskampf gegen Russland nicht zu strengen Muslimen wurden. Tschetschenen und Inguschen sind Sunniten hanafitischerRechtsschule. 1985 bestanden angeblich 210 nichtregistrierte „Vereinigungen von Gläubigen“ und über 20 lokale Niederlassungen sufitischer Orden. Beide standen stärker als andere vom Islam geprägte Völker unter dem Einfluss von Sufi-Organisationen und sog. „nichtregistrierter Mullahs“.
Bereits 1994 bis 1996 herrschte in T. Krieg, seit 1999 befindet sich die kaukasische Republik erneut im Krieg mit der Russischen Föderation, von der es sich unabhängig erklärt hat.
Brežná I. 1997: Die Wölfinnen von Sernowodsk. Reportagen aus Tschetschenien. Stuttgart. Gammer M. 1994: Muslim Resistance to the Tsar. Shamil and the Conquest of Chechnya and Daghestan. London. Götz R., Halbach U. 1994: Politisches Lexikon Russland. München. Halbach U. 1996: Der Islam in Russland. Köln.
(Tanja Wagensohn)