Breslau (Stadt)
Breslau (poln. Wrocław, tschech. hist. Vratislav)
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1 Geographie
B. ist die Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien. Das Stadtgebiet, inmitten der fruchtbaren niederschlesischen Tiefebene auf ca. 120 m ü. d. M. gelegen, erstreckt sich auf 19 km in nordsüdlicher und 26 km in westöstlicher Richtung auf einer Fläche von 292,84 km² zu beiden Seiten der mittleren Oder. Die Lage im breiten Odertal beschert B. ein relativ mildes Klima: Die mittlere Temperatur beträgt im Januar –1,5 °C, im Juli 17,8 °C. Die jährliche Niederschlagsmenge beläuft sich auf 591 mm.
B. ist mit 634.630 Einwohnern (2006) viertgrößte Stadt Polens und ein Zentrum für Industrie, Handel, Dienstleistung und Verkehr von nationaler Bedeutung. B. ist Sitz eines Erzbischofs sowie eine der führenden Hochschulstädte des Landes mit bedeutenden Forschungs- und Kultureinrichtungen. Unter den Hochschulen sind v. a. die Universität B. (Uniwersytet Wrocławski), die Technische Hochschule (Politechnika Wrocławska) sowie die Medizinische Hochschule (Akademia Medyczna) zu nennen. Außerdem befindet sich in B. das ›Ossolineum‹ (Zakład Narodowy im. Ossolińskich), dessen Sammlungen zur Kultur und Geschichte Polens zu den bedeutendsten des Landes gehören.
2 Kulturgeschichte
Vermutlich waren es die böhmischen Přemysliden, die Mitte des 10. Jh. im Norden ihres Herrschaftsgebietes an strategisch bedeutender Lage auf einer Oderinsel (heute Dominsel [Ostrów Tumski]) eine Burg errichten – dort, wo die Bernsteinstraße von Norden kommend die Oder überquerte und unmittelbar südlich die ›Hohe Straße‹ kreuzte. Auf den böhmischen Gründer Vratislav I. geht wohl auch der älteste bekannte Ortsname ›Wrotizla‹ zurück, aus dem neben dem lateinischen ›Vratislavia‹ auch die beiden heute gebräuchlichen polnischen und deutschen Namensformen Wrocław bzw. B. entstanden sind.
Ende des 10. Jh. geriet die Burg samt Schlesien, als dessen politisches und kulturelles Zentrum B. schon früh fungierte, unter die Herrschaft der polnischen Piasten. Erstmals erwähnt wird B. in der Chronik des Thietmar von Merseburg, der von der Zusammenkunft zwischen Piastenherzog Bolesław I. Chrobry und Kaiser Otto III. in Gnesen (Gniezno) im Jahre 1000 berichtet. Ergebnis dieser Begegnung sei die Errichtung der Metropolie Gnesen gewesen, einer selbständigen polnischen Kirchenprovinz, zu der fortan auch ein Bistum B. gehörte.
Als Bischofssitz gewann B. erheblich an politischer Bedeutung. Als eines der wichtigsten Zentren der Piastenherrschaft, seit 1138 ständiger Sitz eines Herzogs, beherbergte B. bald einen der glänzendsten Höfe des mittelalterlichen Polen. Erstreckte sich die Macht seiner Herzöge anfangs noch auf ganz Schlesien, schwand sie bald durch territoriale Zersplitterung in eine Vielzahl schlesischer Herzogtümer dahin. Als dauerhafter Faktor der Stadtgeschichte dagegen erwies sich das bis heute bestehende Bistum B. B.s Bischöfe waren oft auch politisch einflussreiche Gestalten. Zudem gehen auf ihr Wirken viele der zahlreichen Kloster- und Kirchbauten in B. zurück, die bis heute zu den prägenden Elementen in Stadtbild gehören und von denen einige als Meisterwerke gotischer und barocker Baukunst gelten.
B.s Aufstieg zu einer Metropole von europäischem Rang beruhte jedoch ganz wesentlich auch auf einem wohlhabenden und politisch selbstbewussten Stadtbürgertum. Die vielversprechende Lage am Schnittpunkt zweier der wichtigsten europäischen Handelswege zog seit dem 12. Jh. im Rahmen der mittelalterlichen Ostsiedlung in großer Zahl Kaufleute und Handwerker an, neben Wallonen und Flamen v. a. deutschsprachige Siedler aus dem ›Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation‹. Am linken Oderufer, abseits des Bischofs- und Fürstensitzes auf der Dominsel, wurde im 13. Jh. eine großzügige Siedlung angelegt, deren schachbrettartiger Grundriss mit den drei quadratischen Marktplätzen sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Die Bürgerstadt, der bei ihrem Wiederaufbau nach Zerstörung im sog. Mongolensturm 1241 Magdeburger Stadtrecht verliehen wurde, gewann als Handelplatz rasch an wirtschaftlicher Bedeutung, geführt durch ein Patriziat, dass die Selbstverwaltungsrechte des von ihm dominierten ›Städtischen Rates‹ auf Kosten der herzoglichen Macht zunehmend auszubauen verstand.
Im Zuge einer allmählichen Entwicklung wuchs Schlesien immer mehr in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhang Böhmens und des Reiches hinein. 1335, im selben Jahr, in dem B. nach Aussterben seiner herzoglichen Linie vertragsgemäß an die böhmische Krone fiel, musste der polnische König Kazimierz Wielki (Kasimir der Große) zugunsten Böhmens auf Schlesien verzichten. Lediglich das Bistum B. blieb formal bis 1821 Teil der Diözese Gnesen. Im 15. und 16. Jh. erlebte B. seine wirtschaftliche Blüte als einer der reichsten und bedeutendsten Handelsmetropolen im mittleren Europa. Viele seiner eindruckvollsten Bauwerke wurden in dieser Zeit vollendet, darunter auch das Rathaus, dessen spätgotische Pracht vom damaligen Wohlstand wie vom Selbstbewusstsein des B.er Bürgertums zeugt.
Als 1526 die Habsburger auf den böhmischen Thron folgten und Schlesien Teil des Habsburgerreiches wurde, begann für B. eine politisch wie wirtschaftlich schwierige Zeit. Zum einen versuchte der Wiener Hof im Zuge einer allgemeinen administrativen Zentralisierung auch die städtischen Selbstverwaltungsrechte B.s zu beschneiden. Zum anderen wirkte sich der Aufstieg der Niederlande und Englands im 17. Jh. und die damit verbundene langfristige Verlagerung der Warenströme zu Ungunsten B.s aus. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, die Schlesien besonders hart trafen, taten ihr übriges, um B.s Wirtschaftskraft dauerhaft zu schwächen. Dazu kam, dass die Stadt, die Anfang des 16. Jh. zu einer Hochburg der Reformation geworden war, in konfessionellen Gegensatz zu den katholischen Landesherren geriet. Letztere mussten zwar mehrfach Religionsfreiheit garantieren, dennoch wuchs der Druck der Gegenreformation stetig an. Letztlich entstand in dieser Zeit das für B. so typische Nebeneinander von Protestantismus und Katholizismus, zu dem als dritte große Glaubensgemeinschaft das B.er Judentum trat. Architektonisch fand die Epoche Ausdruck in der Barockisierung des Stadtbildes, am eindrucksvollsten durch den Prachtbau der 1702 von Kaiser Leopold I. gegründeten Jesuitenakademie Leopoldina, der heute als Hauptgebäude der Universität dient.
1741 wurde Schlesien vom preußischen König Friedrich II. erobert. B., nun zweite preußische Stadt nach Berlin, diente Friedrich II. während der Schlesischen Kriege mehrfach als Winterquartier. Dazu wurde das Palais Spaetgen zur königlichen Residenz ausgebaut. Für die wirtschaftliche Lage der Stadt erwiesen sich Preußens Kriege allerdings als fatal. B. musste zu deren Finanzierung hohe Abgaben entrichten, während der Handel weitgehend zum Erliegen kam. Eine Besserung sollte erst zu Beginn des 19. Jh. eintreten, als Schlesien vom wirtschaftlichen Aufschwung Preußens erfasst wurde. B., dessen Bevölkerung sich binnen kurzem vervielfachte (1799: 58.270, 1843 103.204 Einwohner) und dessen Stadtgebiet sich weit über die alten Grenzen ausdehnte, wurde zu einer modernen preußischen Großstadt. Sie erlangte Bedeutung sowohl als Industriestandort als auch als Stadt von Wissenschaft und Kultur. Entscheidend erwies sich für letzteres die Gründung der Universität, die 1811 durch Verschmelzung der Jesuitenakademie mit der nach B. verlagerten ›Viadrina‹ aus Frankfurt an der Oder entstand. 1854 kam das Jüdisch-Theologische Seminar hinzu – bis zu seiner Schließung 1938 eine der bedeutendsten Ausbildungsstätten für Rabbiner in Europa. 1910 sollte die Gründung der Technischen Hochschule folgen.
B. und Schlesien waren zunächst Vorreiter der Industrialisierung in Deutschland, wurden aber gegen Ende des 19. Jh. immer mehr von den aufstrebenden Industriezentren in West- und Mitteldeutschland überflügelt. B. begann in der Hierarchie der deutschen Städte zu sinken. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Stadt infolge des deutsch-polnischen Zollkriegs auch ihre traditionelle Funktion als Drehscheibe im Ost-West-Handel einbüsste, verschlechterte sich ihre wirtschaftliche Lage weiter. B. wies bald eine höhere Wohndichte und eine dürftigere Infrastruktur als vergleichbare Städte im Reich auf. Dies mündete in den 20er Jahren jedoch zum Vorteil der Stadt in Bemühungen um eine durchgreifende städtebauliche Modernisierung. Dem Wirken einer Avantgarde von Architekten wie Max Berg (1870–1947) und Hans Poelzig (1869–1936) im B. dieser Jahre verdankt die Stadt, dass ihr einzigartiger architektonischer Reichtum von der Gotik über den Barock zum Klassizismus und Historismus um bedeutende Werke der klassischen Moderne ergänzt wurde.
Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten begann die Zerstörung des alten B., zunächst durch die Vertreibung und Ermordung der rd. 20.000 B.er Juden, die eine der Säulen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Stadt gewesen waren. Die Vernichtung der drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands wurde sinnfällig durch die Inbrandsetzung der ›Neuen Synagoge‹ – damals der zweitgrößte Synagogenbau in Deutschland – in der Pogromnacht vom am 9.11.1938. Während des Zweiten Weltkrieges erfuhr B. durch Ausbau seiner Rüstungsindustrie sowie als logistisches Zentrum für die Versorgung der Ostfront zunächst einen beträchtlichen wirtschaftlichen Aufschwung. In den letzten drei Kriegsmonaten jedoch wurde die von Hitler zur „Festung“ erklärte Stadt in schweren Kämpfen zwischen Roter Armee und Wehrmacht zu rd. 60 % zerstört.
Das Kriegsende 1945 erwies sich als tiefe Zäsur in der Stadtgeschichte, fiel doch Schlesien durch Beschluss der Siegermächte an Polen. In B. sollte ein vollständiger Bevölkerungsaustausch sicherstellen, dass die Stadt, unter deren über 600.000 Einwohnern in der Zwischenkriegszeit (1939: 629.565) nur einige Tausend Polen gelebt hatten, rein polnisch werden würde. 1945–48 erfolgte die Aussiedlung der rd. 250.000 sich noch in B. aufhaltenden Deutschen und ihre Ersetzung durch polnische Ansiedler aus allen Teilen Vorkriegspolens. Die Stadt wuchs von da an rasch an und erreichte Mitte der 80er Jahre ihre Vorkriegsbevölkerung. Die Spuren einstiger deutscher Besiedlung wurden weitestmöglich beseitigt und die deutsche Geschichte der Stadt aus dem kollektiven Gedächtnis des polnischen B. verdrängt. Dies hatte auch damit zu tun, dass B. als größte Stadt der polnischen Westgebiete zur Bühne patriotischer Feierlichkeiten wurde, angefangen mit der aufwendigen Propagandaschau „Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete“ (Wystawa Ziem Odzyskanych) im Sommer 1948.
In den 50er Jahren begann der Wiederaufbau des schwer zerstörten Stadtzentrums, wobei die historische Rekonstruktion der Warschauer Altstadt als Vorbild diente. Nach schwierigen Anfängen in der Nachkriegszeit, die auch mit der völkerrechtlich ungeklärten Situation der deutsch-polnischen Grenze und den psychologischen Folgen des Bevölkerungsaustausches zu tun hatten, gelang die wirtschaftliche und kulturelle Wiederbelebung B.s. Unternehmen wie die aus den ›Linke-Hofmann-Werken‹ hervorgegangene Waggonbaufabrik ›Pafawag‹ zählten bald zu den führenden Industriebetrieben des Landes. Zudem wurde B. zu einer wichtigen polnischen Hochschulstadt, in der namhafte Gelehrte wie der Mathematiker Hugo Steinhaus (1887–1972) oder der Medziner Ludwik Hirszfeld (1884–1954) wirkten. Mit dem in den 40er Jahren aus Lemberg nach B. transferierten ›Ossolineum‹ erhielt die Stadt eine der bedeutendsten Sammlungen Polens zur polnischen Literatur- und Kulturgeschichte. Zudem machte sich B. in den 60er Jahren, nicht zuletzt durch das Wirken des Regisseurs Jerzy Grotowski (1933–99), als Stadt des modernen Theaters einen Namen. Auch wenn B.s kulturelles Leben unter der Zentralisierung in der Volksrepublik Polen litt, konnte sich B. neben Warschau und Krakau als eines der führenden Kulturzentren des Landes behaupten. In den 80er Jahren entstand in B. eines der aktivsten Zentren der Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Von sich reden machte B. in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch durch die „Orangene Alternative” (Pomarańczowa Alternatywa), einer Abfolge von Straßen-Happenings, die den real existierenden Sozialismus durch karnevaleske Aktionen zum öffentlichen Gespött machten.
Seit der Wende von 1989 gehört B. zu den besonders dynamischen Städten Ostmitteleuropas und als Magnet für Auslandsinvestionen v. a. im Maschinenbau, in der Elektronik sowie der Informationstechnologie. Erhebliche Mittel sind inzwischen in die Restaurierung der Altstadt und in die Vollendung von Rekonstruktionsprojekten investiert worden, die vor 1989 liegen geblieben waren. Außerdem existieren ambitionierte Planungen zur Modernisierung und zum Ausbau der städtischen Infrastruktur. Infolge der veränderten politischen Situation nach dem Ende des Kalten Krieges und der endgültigen Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze durch das wiedervereinigte Deutschland 1990 begann auch in B. eine Debatte über die deutsche Vergangenheit der Stadt. Dabei scheint sich auf Seiten seiner heutigen Bürger das Bedürfnis durchzusetzen, auch B.s deutsche Geschichte als wesentlichen Teil des historischen Erbes anzuerkennen und in das lokale Gedächtnis der polnisch gewordenen Stadt zu integrieren.
Harasimowicz J. (Hg.): 1997-1999. Atlas Architektury Wrocławia, 2 Bde., Wrocław. Harasimowicz J. (Hg.): 2000. Encyklopedia Wrocławia. Wrocław. Davies N., Moorehouse R. 2002: Microcosm. A Portrait of a Central European City. London. Thum G. 2003: Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin. Zabłocka-Kos A. 2006. Zrozumieć miasto. Centrum Wrocławia na drodze ku nowoczesnemu city, 1807-1858. Wrocław.