Vertreibung
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1 Definition
Der Begriff bezeichnet die von staatlichen oder staatsnahen Institutionen organisierte, angeordnete oder inspirierte Zwangsaussiedlung größerer Bevölkerungsgruppen aus ihren Heimatgebieten. V.en finden häufig in Verbindung mit kriegerischen Auseinandersetzungen statt und haben in der Regel zum Ziel, ethnische, religiöse oder soziale Minderheiten aus bestimmten Gebieten zu entfernen. Oft geht es dabei um die gewaltsame Durchsetzung oder Absicherung von Territorialansprüchen oder um die Entfernung vermeintlich illoyaler Bevölkerungsgruppen aus politisch besonders gefährdeten Teilen des Staatsgebietes, manchmal aber auch um die Herstellung ethnischer Homogenität als Selbstzweck. Meist wird die V. über Staatsgrenzen hinweg vorgenommen, kann aber als Deportation auch innerhalb eines bestimmten Staatsgebietes erfolgen. Für die betroffenen Personengruppen geht die V. gewöhnlich mit dem Verlust des gesamten Besitzes einher. Zudem werden V.en in der Regel von Gewalt, häufig auch von gezielten Terrormaßnahmen bis hin zum Massenmord begleitet, um die zu vertreibenden Bevölkerungsgruppen zur Aufgabe ihrer Heimat zu zwingen. Das Trauma der V. besteht für die Opfer daher sowohl in der Erfahrung dieser Gewalt, als auch im plötzlichen und meist irreversiblen Verlust des gewohnten geographischen, kulturellen und sozialen Umfelds.
Im deutschen Sprachraum wurde mit „der“ V. über lange Zeit in erster Linie die V. der Deutschen aus Ostmitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges assoziiert. Durch die "ethnischen Säuberungen" im jugoslawischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre jedoch, die dank Berichterstattung in den Medien quasi vor den Augen der Welt stattfanden, erlangte V. als immer wieder angewandtes Mittel der Politik weltweit Aufmerksamkeit und Ächtung. Der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien wurde zudem zum Auslöser für eine intensive wiss. Beschäftigung mit dem Phänomen Zwangsumsiedlung. Dabei hat sich der religiös konnotierte Begriff V. (siehe die V. aus dem Paradies), der besonders die traumatische Opfererfahrung betont, von seiner Beschränkung auf den Kontext der V. der Deutschen gelöst. Neben dem Begriff V. haben zugunsten einer differenzierten Darstellung des oft komplexen Geschehens Termini wie Zwangsmigration und -umsiedlung, Aussiedlung, Bevölkerungstransfer, -verschiebung oder -austausch sowie der aus der Tätersprache stammende Euphemismus „ethnische Säuberung“, der besonders das politisch-ideologische Motiv hinter den V.en zum Ausdruck bringt, Eingang in die Wissenschaftssprache gefunden. Eine wiss. fundierte Gesamtdokumentation des europäischen V.sgeschehens steht bis heute aus.
2 Geschichte der V.en im Europa des 20. Jh.
V. ist ein Phänomen der Menschheitsgeschichte. Nie zuvor hat es jedoch eine so dichte Abfolge von Zwangsumsiedlungen sowie eine so große Zahl von Vertriebenen und bei V.en zu Tode gekommenen Menschen gegeben wie im Europa des 20. Jh. Besonders das noch zu Beginn des 20. Jh. von seiner ethnischen Gemengelage geprägte mittlere und östliche Europa wurde zum Schauplatz von V. und Deportation. Viele Landschaften und Städte Mittel- und Osteuropas haben ihr ethnisch-kulturelles Gesicht durch gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen rapide verändert, nicht zuletzt, weil V.en häufig von der gezielten Zerstörung von Kirchen, Friedhöfen und anderen kulturellen Zeugnissen der vertriebenen Bevölkerungsgruppen begleitet werden. Während die für die jeweiligen Zwangsumsiedlungen verantwortlichen Gesellschaften und Staaten dazu neigen, diese aus dem kollektiven Bewusstsein zu verdrängen, stellen V. und Heimatverlust für die Opfergruppen lange, zuweilen über Generationen nachwirkende Kollektiverfahrungen dar. Die V. selbst erweist sich häufig als ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Migrationsformen. Nicht immer lassen sich freiwillige und erzwungene Migration klar voneinander trennen. Oft gehen Abwanderung und Flucht, denen selbst bei gezielt geschaffenen schlechten Lebensbedingungen und bei Diskriminierung ein gewisses Maß an freier Entscheidung vorausgeht, fließend in V. und Deportation mittels Todesandrohung über, die den Betroffenen keine Alternative lassen. Zahlenangaben zu den Vertriebenen beruhen meist auf groben Schätzungen, sind daher vielfach ungenau und zuweilen widersprüchlich. Zum einen wurden nur die wenigsten Zwangsumsiedlungen exakt registriert oder entsprechende Dokumente sind nicht öffentlich zugänglich. Zum anderen ist es mitunter interpretationsabhängig, ob man von Zwangsmigration oder eher von Migration sprechen möchte. So schwanken die Angaben zur Gesamtzahl der im 20. Jh. von V. betroffenen Europäer zwischen 40 und 80 Mio. Menschen. Dieselben Unsicherheiten treten bei der Angabe von Todesopfern auf. Auch hier lässt sich rückwirkend nur schwer rekonstruieren, wer durch die V. selbst zu Tode gekommen ist, wer durch Kriegseinwirkungen, die den Hintergrund für die meisten gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen bilden. Dazu kommt die politische Instrumentalisierung von Opferzahlen. In der Regel neigen die Betroffenen zu möglichst hohen Schätzungen, während die Verantwortlichen die Zahlen eher niedrig ansetzen.
Zu den ersten großen Zwangsmigrationen kam es während der Balkankriege 1912–14 und der auf den Zerfall des Osmanischen Reiches folgenden Neuformierung des südosteuropäischen Staatensystems. Zehntausende von Türken, Bulgaren und Griechen flohen während der Kriegshandlungen aus ihren verstreuten Siedlungsgebieten in ihre jeweiligen Kernländer oder wurden dorthin vertrieben. Im Ersten Weltkrieg ordnete die Regierung des Osmanischen Reiches die Deportation von als politisch unzuverlässig eingestuften Bevölkerungsgruppen aus den Grenzgebieten Kleinasiens an, neben Griechen und Kurden betraf dies v. a. Armenier. Im Falle der Armenier gingen Deportation und V. 1915 in einen Völkermord über, dem bis zu 1 Mio. Menschen zum Opfer fielen. Einen weiteren Höhepunkt erreichten die Bevölkerungsverschiebungen im türkisch-griechischen Krieg von 1921–22, als nach griechischen Massakern an türkischen Zivilisten 1,2–1,5 Mio. Griechen aus ihren anatolischen Siedlungsgebieten nach Griechenland und später im Gegenzug rund 350.000 Türken aus Griechenland in die Türkei vertrieben wurden. Diese Vorgänge sollten für den Verlauf des europäischen V.sgeschehens insofern weit reichende Bedeutung erlangen, als die türkisch-griechischen Zwangsumsiedlungen im Frieden von Lausanne 1923 internationale Billigung fanden. Zwar wurde die Gewalt verurteilt, das Prinzip des Bevölkerungsaustausches zur Entflechtung ethnischer Mischgebiete und zur Herstellung möglichst homogener Nationalstaaten aber als probates Mittel der Konfliktlösung akzeptiert.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen trat zunächst eine Beruhigung ein, auch wenn Hunderttausende vor dem Bürgerkrieg in Russland flohen und es zur massenhaften und nicht immer freiwilligen Abwanderung von ethnischen Minderheiten aus den neuen Nationalstaaten Ostmitteleuropas kam. Hitler setzte jedoch eine neue Welle von V.en und Zwangsumsiedlungen in Gang, die während des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren ihren Höhepunkt erreichen sollte. Die Emigration und Flucht mehrerer Hunderttausend Juden aus Deutschland und dem an das Deutsche Reich angeschlossenen Österreich ist ebenso Teil des europäischen V.sgeschehens wie die seit Kriegsbeginn erfolgende, theoretisch freiwillige, faktisch aber erzwungene Umsiedlung von rund 800.000 Deutschen aus dem Baltikum, aus Wolhynien, Ostgalizien, der Bukowina, aus Bessarabien, der Dobrudscha sowie aus Südtirol im Rahmen der „Heim-ins-Reich“-Aktion. Um für die deutschen Umsiedler Platz zu schaffen, wurden rund 500.000 Polen und Juden aus den ins Reich eingegliederten polnischen Gebieten ins sog. Generalgouvernment abgeschoben. Dort nahmen die deutschen Besatzungsbehörden weitere interne Massenumsiedlungen vor, die letztlich in den Völkermord an Polen und Juden mündeten.
Neben der deutschen erwies sich seit den 1930er Jahren auch die sowjetische Regierung als treibende Kraft bei der Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen, angefangen mit der Deportation der sog. Kulaken während der Kollektivierung der Landwirtschaft. Wie bei späteren sowjetischen Deportationen kam es hier zu hohen Opferzahlen durch Erschießungen sowie mangelnde Fürsorge für die Deportierten, die oft schutzlos extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt wurden. Während des Zweiten Weltkrieges ließ Stalin] aus Furcht vor vermeintlich illoyalen ethnischen und sozialen Gruppen Hunderttausende von Finnen, Esten, Letten, Litauern, Polen, Weißrussen, Ukrainern und Juden aus den westlichen Grenzgebieten nach Sibirien und Mittelasien deportieren, 400.000 Menschen allein aus dem besetzen Ostpolen und Baltikum. Rund 400.000 Finnen flohen 1940 nach dem Ende des Winterkrieges aus den an die Sowjetunion gefallenen finnischen Territorien nach Finnland. Unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurden 950.000 Deutsche aus der Ukraine und der Wolgaregion, 1943–44 rund 1 Mio. Karatschaier, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Krimtataren, Turko-Mescheten, Kurden und Armenier aus ihren Siedlungsgebieten in der Kaukasusregion und auf der Krim ins Landesinnere zwangsumgesiedelt. Die Massendeportationen innerhalb der Sowjetunion endeten erst in den 1950er Jahren.
Auch in Südosteuropa kam es während des Krieges zu Massenumsiedlungen, ausgelöst v. a. durch die Wiener Schiedssprüche von 1938 und 1940, die Hunderttausende von Ungarn, Rumänen, Bulgaren und Serben zur Aufgabe ihrer Heimat zwangen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges entschieden die Siegermächte bei der Neuordnung der europäischen Landkarte, dass in den ostmitteleuropäischen Staaten keine größeren deutschen Minderheiten zurückbleiben sollten. Da gleichzeitig der polnische Staat nach Westen verschoben und weite Teile Deutschlands an Polen und die Sowjetunion abgetreten worden waren, kam es zu einer weiteren gewaltigen Welle von Zwangsumsiedlungen. 1945–48 wurden rund 9 Mio. Deutsche aus den an Polen und die Sowjetunion abgetretenen Gebieten sowie 3,2 Mio. aus den deutschen Siedlungsgebieten innerhalb der Tschechoslowakei nach Restdeutschland ausgesiedelt bzw. durften nach kriegsbedingter Flucht nicht mehr in ihre Heimatorte zurückkehren. Dazu kam die Abschiebung von 200.000 Deutschen aus Ungarn, 350.000 aus Jugoslawien, 50.000 aus Rumänien. Im gleichen Zeitraum mussten rund 1,5 Mio. Polen die an die Sowjetunion gefallenen ostpolnischen Gebiete verlassen, während im Gegenzug 500.000 Ukrainer aus Polen in die Ukraine ausgesiedelt wurden. 1947 wurden zudem rund 150.000 Ukrainer und Weißrussen innerhalb Polens in die neuen Westgebiete deportiert. Ende der 1940er Jahre kamen die Zwangsumsiedlungen in Ostmitteleuropa zum Stillstand. Die V. der Deutschen ging 1950 in eine anhaltende Emigration in die Bundesrepublik Deutschland über, die über die Jahre noch einmal mehrere Mio. Deutsche aus Osteuropa betreffen sollte.
Nach dem Ende des Kalten Krieges kam es auf dem Balkan zu neuen V.en. Nachdem Ende der 1980er Jahre rund 300.000 Türken wegen Diskriminierung aus Bulgarien flohen, erreichte die Geschichte der Zwangsmigrationen im 1991 ausbrechenden jugoslawischen Bürgerkrieg einen neuen Höhepunkt. Im Zuge „ethnischer Säuberungen“ auf dem Territorium des zerfallenden Jugoslawien wurden Hunderttausende von Kroaten, bosnischen Muslimen, Albanern und Serben aus ihrer Heimat vertrieben. Zehntausende fanden dabei den Tod, unzählige Kulturschätze fielen der bewussten Vernichtung anheim.
Bingen D., Borodziej W., Troebst S. (Hg.) 2003: Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden. Ladas S. P. 1932: The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greek and Turkey. New York. Lemberg H. 1992: „Ethnische Säuberung“. Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen? Aus Politik und Zeitgeschichte 46, 27–38. Naimark N. M. 2001: Fires of the Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe. Cambridge, Mass. Várdy S. B., Tooley T. H. (Hg.) 2003: Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe. Boulder, Colo.