Černihiv (Stadt)

Černihiv (ukrain., litau. hist. Černigovas, poln. hist. Czernihów, russ. hist. Černigov)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die Stadt Č. liegt in der nördlichen Ukraine am Ufer des Flusses Desna, ist administratives Zentrum des gleichnamigen Gebietes und hat 299.000 Einwohner (2006), mehrheitlich ukrainischer Nationalität. Č. hat eine Fläche von 71 km² und liegt ca. 140 m ü. d. M. Die mittlere Temperatur beträgt im Januar –7,1 C°, im Juli 18,7 C°. Die jährliche Niederschlagsmenge beläuft sich auf 601 mm.

Č. ist durch Autobahnen mit Kiew, Odessa, Moskau und St. Petersburg verbunden, ebenso wird der Desna-Fluss als Verkehrsader genutzt. Č. verfügt über einen Flughafen. Wichtige Industriezweige sind der Maschinenbau, die Chemie-, Textil- und Lebensmittelindustrie. Durch den Getreide-, Leinen-, Kartoffel- und Zuckerrübenanbau gehört das Gebiet um Č. zu den am höchsten entwickelten Agrargebieten der Ukraine.

Zu den wichtigsten Bildungseinrichtungen gehören die „Staatliche Technologische Universität“ (Černihivsʹkyj deržavnyj technolohivnyj universytet), die „Staatliche Pädagogische Universität T. Ševčenko“ (Černihivsʹkyj deržavnyj pedahohičnyj universytet) und das „Staatliche Universität Institut für Ökonomie und Verwaltung“ (Černihivsʹkyj deržavnyj instytut ekonomiky i upravlinnja). Zentrale Kultureinrichtungen sind das „Musikalisch-Dramatische Theater T. Ševčenko“ (Musyčno-dramatyčnyj teatr) und die Philharmonie. Sehenswert ist das Literaturmuseum und die Gedenkstätte für den ukrainischen Schriftsteller Mychailo M. Kocjubynsʹkyj.

2 Kulturgeschichte

Die Erstbesiedlung des Gebietes fand in der Altsteinzeit statt, aus der Skythenzeit (5. Jh. v. Chr.) gibt es ebenfalls Funde. Um 500 ließen sich dann der slawische Stämme (Severjane) im Desnabecken nieder. Im 6.–8. Jh. hatten sich bereits Burg- und Handelsorte gebildet. Neben Kiew und Perejaslavlʹ war das erstmals 907/944 erwähnte Č. einer der ältesten und wichtigsten Orte, aus denen sich die Kiewer Rus herausbildete. Č. entwickelte sich zu einem bedeutenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentrum. Die kunstvollen auf die zweite Hälfte des 10. Jh. datierten Fassungen für Auerochsenhörner, die in einem der ca. 200 Gräber (Kurgane) auf den Boldyn-Hügeln (Boldynij gori) in der heutigen Stadtmitte, dem sog. Schwarzen Grab (Čorna mohila), gefunden wurden, zeugen hiervon.

Nach dem Tod Vladimirs I. von Kiew wurde 1024 Mstislav Vladimirovič Fürst von Kiew und Č. In dieser Zeit wurde der Grundstein für die „Erlöser-Verklärungskathedrale“ (Spaso-Preobražensʹkyj sobor, um 1030) gelegt, das älteste erhaltene ostslawische Bauwerk. Etwa um dieselbe Zeit entstand ein erstes Höhlenkloster auf den Boldyn-Hügeln, das auf Antonij Pečersʹkij, den Begründer des Kiewer Höhlenklosters zurückgehen soll. Ihm folgten bis ins 19. Jh. weitere Höhlenanlagen.

In der zweiten Hälfte des 11. Jh. war Č. eine der größten Städte der Rus, Suffraganbistum von Kiew (seit 988) und Zentrum eines Teilfürstentums, das Baumeister und Handwerker zahlreich anzog. Bemerkenswerte Leistungen wurden v. a. auf dem Gebiet der Geschirrbemalung, der Innenausstattung von Schlössern, Kirchen und Klöster sowie der Vergoldung und Silberschwärzung erreicht. In den Klöstern wurden Chroniken und Lehrbücher sowie zahlreiche andere religiöse und weltliche Schriften geschaffen. Auf den Č.er Fürst Svjatoslav Jaroslavovič (1054–73) geht die Einrichtung einer großen Bibliothek zurück.

Geprägt nicht nur von slawischen und byzantinischen, sondern insbesondere westeuropäischen Einflüssen entstand in Č. im Verlauf des 12. Jh. ein dem romanischen ähnlicher Architekturstil, in dem neben der „Verklärungskathedrale“, die „Boris-und-Gleb-Kathedrale“ (Borysoglibsʹkyj sobor, 1120–23), die „Freitagskirche“ (Pʹjatnicʹka cerkva [Sv. Parasky], um 1200) und die Eliaskirche (Illinsʹka cerkva, Anfang des 12. Jh.), das Katholikon des „Mariä Himmelfahrts-Jelecʹ-Klosters“ (11. Jh.) und die „Mariä Verkündigungs-Kirche“ (Blagoviščensʹka cerkva, um 1186) erbaut worden sind. Von der einst sehr prunkvollen Ausstattung sind Fresken- und Mosaikenfragmente bis heute erhalten. Der dreiteilig angelegte Stadtkern der Fürsten- und Bischofsresidenz Č. zählte bis zu 20 sakrale Steinbauten.

1239 wurde Č. von den Mongolen eingenommen und niedergebrannt. Das Gebiet geriet in Abhängigkeit von der Goldenen Horde. Mitte des 14. Jh. übernahm schließlich der litauische Fürst Algirdas die Macht. Č. erlebte einen erneuten Aufschwung als Handels- und Festungsstadt. Nach zwei Zerstörungen durch die Krimtataren und jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit den Moskauer Fürsten wurde Č. um 1503 in das Territorium der Moskauer Rus eingegliedert.

Nach der sog. Zeit der Wirren (1584–1613) ging das Fürstentum samt Stadt 1618 an Polen-Litauen, das Č. 1611 eingenommen hatte. 1635 wurde das seit 1623 unter Magdeburger Stadtrecht stehende Č. Hauptstadt der gleichnamigen Woiwodschaft. Aus dieser Zeit stammt das Dreifaltigkeitskloster (Trojicʹkij monastyr), wie das Kollegium (1702) und die Katharinenkirche (Katerynynsʹka cerkva, 1715), ein Prachtbau des sog. Kosakenbarocks. Sehenswert ist auch das Gebäude der kosakischen Regimentskanzlei (das Jakiv Lysohub-Haus).

1648 wurde Č. eines der Zentren des Kosakenhetmanats. Pogrome während des nach Bohdan Chmelʹnycʹkyj benannten Aufstandes löschten die seit dem Mittelalter in Č. siedelnde jüdische Bevölkerung nahezu aus. Im Frieden von Andrusovo (ukrain. Andrusiv) 1667 fiel die Stadt an Russland. 1781 wurde Č. russischer Verwaltungssitz, ab 1802 Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Zu dieser Zeit war das Gebiet noch immer ein Agrarland. Mit der Bauernbefreiung 1861 setzte die Industrialisierung (Lebensmittelindustrie) ein. Um 1926 waren rund ein Drittel der Stadtbevölkerung Juden. Im Verlauf der Revolution 1917 und dem folgenden Bürgerkrieg unter wechselnder weißer, roter und nationalukrainischer Herrschaft, wurde Č. 1919 Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, ab 1932 Gouvernementshauptstadt.

Im Zweiten Weltkrieges strategisch bedeutsam für den Vormarsch der Wehrmacht stand Č. von September 1941 bis September 1943 unter deutscher Besatzung. 1941 entstanden auch die ersten Partisaneneinheiten um Č. Etwa 50.000 Zivilisten und Soldaten verloren hier ihr Leben. Zu Kriegsende zählte Č. zu den am meisten zerstörten Städten der Sowjetunion, betroffen waren v. a. Industrie- und Wohnviertel. Die Nachkriegsjahre waren dem Wiederaufbau der Wirtschaft und Infrastruktur gewidmet.

Zahlreichen Parkanlagen und einer Altstadt, die unter den Städten der Rus einen der höchsten Bestände mittelalterlicher Baudenkmäler aus „vormongolischer Zeit“ aufweist, verdankt Č. seine große touristische Popularität.

http://chernigiv.osp-ua.info/ [Stand 29.9.2006].

(Julia Schatte)

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