Ženščina i Rossija

Ženščina i Rossija (russ., „Die Frau und Russland“); feministischer Almanach, erschien im Herbst 1979 in 10 Exemplaren im Samisdat und markiert den Beginn der inoffiziellen Frauenbewegung in der UdSSR. Neben der russischen gab es eine französische, wenig später auch eine deutsche (›Courage‹ 9/1980) und italienische Ausgabe. Ž. i R. wurde von der Malerin und Dichterin Tatʹjana Mamonova initiiert und verantwortlich herausgegeben; zu den Beiträger- und Herausgeberinnen zählten weiterhin Tatʹjana Goričeva, Julija Voznesenskaja und Natalʹja Malachovskaja. Der Almanach enthält publizistische und literarische Beiträge, die überwiegend die Situation der Frauen in Russland darstellen. Angeprangert wird die Diskrepanz zwischen gesetzlicher Gleichstellung von Mann und Frau und der tatsächlichen patriarchalen Gesellschaftsordnung, die Vielfachbelastung der Frauen, die in den Produktionsprozess „gleichberechtigt“ eingebunden sind, Haus- und Familienarbeit zusätzlich leisten müssen, dies zudem unter den erschwerten Bedingungen einer schlechten Versorgungslage, menschenunwürdigen Zuständen in staatlichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung, Krankenhäusern und Entbindungsstationen. Hier wird der Unterschied zum westlichen feministischen Diskurs deutlich: während dieser in den 70er/ 80er Jahren von theoretischen Debatten und (politischen) Strategien zur Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben geprägt ist, berühren die Beiträge in Ž. i R. weder primär politische Themen, noch wird eine theoretische Grundlegung der russischen Frauenbewegung angestrebt.

Die Herausgeberinnen von Ž. i R. verfolgen den Ansatz, durch Bewusstmachung der tatsächlichen Lebensbedingungen der Frauen in Russland, einer unabhängigen, demokratischen Frauenbewegung (zu deren Organisation sie ausdrücklich aufrufen) den Weg zu ebnen. Eine besondere Rolle kommt im Almanach der Kunst zu: nahezu alle Autorinnen sind Künstlerinnen bzw. Schriftstellerinnen; in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Alltag wird eine Möglichkeit seiner Transzendierung gesehen. Phantasie, die Fähigkeit der künstlerischen Umsetzung des eigenen Erlebens werden – wie z. B. die Erzählung von Sofʹja Sokolova zeigt – als „weibliche“ Qualitäten gesehen, die Möglichkeiten der Überwindung der individuellen Situation in sich bergen. Während der Arbeit an der zweiten Ausgabe von Ž. i R. spaltete sich die Frauengruppe in einen (westlich-)feministisch determinierten Teil um Mamonova und eine Gruppe um Goričeva, die sich an christlichen Werten orientierte, den ›Klub Marija‹ gründete und eine gleichnamige Samisdat-Zeitschrift herausgab.

Die Frauen des ›Klub Marija‹ (u. a. Voznesenskaja, Malachovskaja) sehen die Frauenbewegung spirituell verankert in der christlichen Heilslehre. Von Goričeva bereits in Ž. i R. dargestellt, ist für dieses metaphysisch-religiöse Verständnis des Feminismus die Figur der Gottesmutter, die die Leidensfähigkeit, welche „der russischen Frau“ zugeschrieben wird, spiegelt und zur Vollendung führt, zentral. Sie wird als Wegbegleiterin, Orientierung und spirituelle Kraft der russischen Frauenbewegung aufgefasst. Mamonova lehnte diese Anbindung an das (orthodoxe) Christentum ab; sie trat für eine religionsunabhängige Verortung feministischer Positionen in einer breiten Frauenbewegung ein. Sie edierte den zweiten Band von Ž. i R. unter dem Titel „Russländerin“ (russ. Rossijanka). Unmittelbar nach Erscheinen von Ž. i R. wurden seine Urheberinnen vom KGB auf das Schärfste verfolgt und bedroht; Mamonova wurde 1980 zur Emigration gezwungen; sie lebt heute in den USA, wo sie als Journalistin, Buchautorin und Hochschullehrerin den russischen Feminismus vertritt. Wenig später wurden auch Voznesenskaja, Malachovskaja und Goričeva des Landes verwiesen. Eine starke unabhängige und demokratische Frauenbewegung, wie sie die Herausgeberinnen von Ž. i R. - auch in Abgrenzung zur Dissidentenbewegung, in deren Struktur sie keine Verwirklichung feministischer Positionen erkennen konnten – initiieren wollten, entstand zu Sowjetzeiten nicht.

Köbberling A. 1993. Zwischen Liquidation und Wiedergeburt. Frauenbewegung in Russland von 1917 bis heute. Frankfurt a. M.

(Martina Warnke)


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