Waräger
Waräger (altnord. væringjar, altruss. varęzi, varjagi bzw. varjazi, griech. varaggoi)
W. ist eine Sammelbezeichnung für Skandinavier in Osteuropa und im engeren Sinne für skandinavische Söldner im Dienst altrussischer Fürsten sowie für Mitglieder der Leibgarde des byzantinischen Kaisers. Als dessen Söldner treten die W. ab Mitte des 9. Jh. in Erscheinung. Um 988 wurde unter Basileios II. die sog. „W.-Garde“ gegründet, die bis zum Fall Konstantinopels (1204) Bestand hatte und in deren Reihen auch Franken, Engländer u. a. dienten. Ihr wohl prominentestes Mitglied war der spätere norwegische König Haraldr harðráði Sigurðarson (Offizier in Byzanz ca. 1034–43). Historisch gut begründet ist die Annahme, dass sich die Bezeichnung W. (nicht aber das Wort, welches direkt aus dem Altnordischen ins Altrussische entlehnt wurde) seit der zweiten Hälfte des 10. Jh. von Byzanz aus auch nach Norden verbreitete und dort an die Stelle des bis dahin üblichen Terminus ›Rusʹ‹ trat.
Die altrussische Nestorchronik berichtet für das Jahr 862 von der Berufung der W.-Fürsten Rjurik, Sineus und Truvor durch ostslawische und finnische Stämme, die ihnen die Herrschaft anbieten (sog. „Berufungssage“). W. ist hier ethnische Bezeichnung für ein Volk (wohl v. a. Schweden aus Uppland und Gotland), das jenseits der Ostsee lebt und wird z. T. synonym zum Begriff ›Rusʹ‹ verwendet. Während der Regierungszeit der Kiewer Fürsten Vladimir Svjatoslavič (ca. 980–1015) und Jaroslav Vladimirovič (1019–54) hingegen wurden fast ausschließlich aus Skandinavien angeworbene Söldner als W. bezeichnet.
In der ältesten Fassung des russischen Rechts (russ. Russkaja pravda) meint W. einen rechtlich privilegierten skandinavischen Händler, in späteren nordrussischen Dialekten bedeutet W. „von Dorf zu Dorf ziehender Händler“. Der Vorstoß skandinavischer Expeditionsverbände an die großen Ströme des Osteuropäischen Tieflandes in das Siedlungsgebiet der Finnen, Balten und Ostslawen schon vor Mitte des 9. Jh. ist durch schriftliche und archäologische Zeugnisse belegt. Priorität hatte anfangs der über das Flussnetz der Wolga verlaufende Fernhandel zwischen dem Ostseegebiet und den mittelasiatischen Märkten (bei einzelnen kriegerischen Unternehmungen erreichten die W. sogar das Kaspische Meer).
Bedingt durch die Schwäche des Chasarenreiches und den damit zusammenhängenden Rückgang des Wolgahandels gewann ab der zweiten Hälfte des 9. Jh. der Handelsweg über die Flüsse Volchov, Lovatʹ und Dnjepr zum Schwarzen Meer nach Byzanz (der sog. „Weg von den W. zu den Griechen“) zunehmend an Bedeutung, wovon u. a. der erfolglose Angriff auf Konstantinopel durch die ›Rusʹ‹ (griech. Rōs) im Jahre 860 sowie die in der Nestorchronik unter den Jahren 912 und 945 angeführten Friedens- bzw. Handelsverträge mit Byzanz zeugen. Mit dieser Umorientierung steht auch die Gründung des Kiewer Reichs unmittelbar in Zusammenhang, wobei die Frage nach dem Anteil der W. an dessen Entstehung (sog. W.-Frage) bis in jüngste Zeit heftig diskutiert wurde.
Frühzeitig waren die skandinavischen (Raub-)Händler, nicht zuletzt aufgrund ihrer relativ geringen Zahl, zu einem friedlichen Zusammenleben mit der an den Transithandelswegen ansässigen Bevölkerung gezwungen. Obwohl bis Mitte des 11. Jh. enge wirtschaftliche, politische und verwandtschaftliche Beziehungen zu Skandinavien bestanden und immer wieder neue warägische Söldner ins Kiewer Reich gelangten, wurden sie hier relativ rasch slawisiert. Ihr eigener kultureller Einfluss blieb, wie Personennamen zeigen, hauptsächlich auf die Oberschicht beschränkt.
Davidson H. R. E. 1976: The Viking Road to Byzantium. London. Blöndal S. 1978: The Varangians of Byzantium. Cambridge. Heller K. 1993: Die Normannen in Osteuropa. Berlin (= Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 195). Simek R. 1998: Die Wikinger. München. Sitzmann A. 2003: Nordgermanisch-ostslavische Sprachkontakte in der Kiever Rusʹ bis zum Tode Jaroslavs des Weisen. Wien (= Wiener Studien zur Skandinavistik 6).