Mittelasien
Mittelasien (russ. Srednjaja Azija)
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1 Begriff
Als M. wird der überwiegend sunnitisch islamisierte, turko-iranische Kulturraum bezeichnet, der geographisch gesehen die inzwischen unabhängigen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan sowie die heutige chinesische Provinz Xinjiang und Nordafghanistan umfasst. Bis Anfang der 20er Jahre des 20. Jh. hieß dieses Gebiet Turkestan. Der Begriff M. wird in der modernen deutsch- und russischsprachigen Fachliteratur uneinheitlich verwendet, oft mit Zentralasien verwechselt oder als gleichwertiges Synonym benutzt. In der englischsprachigen Orientalistik existiert der Begriff nicht, dort ist die Bezeichnung ›Central Asia‹ üblich, die allerdings einen größeren Raum (die Mongolei, China) meint. Zur konkreten Bestimmung des bezeichneten Gebiets finden in den englischsprachigen Schriften in Anlehnung an verschiedene historische Zeiträume die Namensgebungen ›Russian‹ bzw. ›Soviet‹ bzw. ›Islamic Central Asia‹ Anwendung. Im Begriff M. mischen sich geographische („Mitte Asiens“), kulturhistorische („der islamisierte turko-iranische Kulturraum“) und politische (die fünf unabhängigen Staaten und Teilgebiete zweier anderer Staaten) Definitionen. Er entstand willkürlich, nicht zuletzt unter dem Einfluss der russischen Geographie, was an der südlichen (turkmenisch-iranischen) Grenze besonders augenfällig wird. Diese ist eine ausschließlich politische, da der Grenzverlauf zwischen Russland und Iran Ende des 19. Jh. durch Verhandlungen festgelegt wurde und sich keinesfalls an geographischen Bedingungen orientierte. Ungeachtet dessen hat sich M. als Begriff inzwischen im deutschen und russischen Sprachgebrauch fest eingebürgert. Die Unterscheidung zwischen M. und Zentralasien hat in der deutschen Geographie eine lange Tradition und geht auf die Werke von Alexander von Humboldt und Ferdinand von Richthofen (1833–1905) zurück. Die Diskussion um beide Benennungen im deutschen Sprachraum, die in der 2. Hälfte des 19. Jh. im Laufe der russischen Eroberungen aufkam und durch die russische Geographie beeinflusst war, hatte keinesfalls nur terminologischen Charakter, es ging vielmehr darum, ob und auf Grund welcher Merkmale eine Gliederung in zwei Regionen sinnvoll sein könne. Da sich M. und Zentralasien tatsächlich auch landschaftlich stark voneinander unterscheiden, spricht vieles dafür. Im Unterschied zu Zentralasien, wo Wüsten, Halbwüsten und Gebirgsketten vorherrschend sind, trägt die landschaftliche Beschaffenheit M. s keinen homogenen Charakter. Zur Verwechslung der beiden Termini trägt seit 1991 auch das Bestreben der Regierungen Kasachstans, Kirgisistans, Usbekistans, Tadschikistans und Turkmenistans bei, ihre Länder nicht als mittel-, sondern zentralasiatisch zu bezeichnen, das u. a. auf der Absicht beruht, sich auch namentlich von der Epoche des russischen Kolonialismus zu lösen. Diese neue Identifikation basiert auf der wörtlichen Übersetzung der englischen Bezeichnung ›Central Asia‹, ist aber aus wissenschaftlicher Sicht unbegründet, da sich die genannten Staaten nach wie vor in M., und nicht in Zentralasien befinden.
2 Geschichte
Frühe menschliche Siedlungen (z. B. Teshik-Tash, Usbekistan), die in M. entdeckt wurden, werden auf den Beginn der Steinzeit datiert. Schon im Neolithikum wurden in der Region Ackerbau und Viehzucht auf der Basis künstlicher Bewässerung betrieben. Erste urbane Siedlungen (wie Altyn-Tepe, Turkmenistan) entstanden im 6.–5. Jt. v. Chr., Ende des 2.–Anfang des 1. Jt. v. Chr. die Reiche Baktrien, Sogdien und Chorezm (russ., usbek. Xorazm). Mitte der 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr. – Anfang des 8. Jh. n. Chr. verlief durch M. die sog. Seidenstraße, ein System von Karawanenwegen, die Handelsgüter aus China bis zur Levante und weiter auf dem Seeweg bis nach Rom und umgekehrt transportierten. Um ca. 550 v. Chr. wurde M. zum Großteil von dem altpersischen König Kyros II. (III.) erobert und ins Achämenidenreich eingegliedert. In den Jahren 329–327 v. Chr. besetzten die Truppen von Alexander dem Großen die Region, die nach dessen Tode an das Seleukidenreich fiel. Mitte des 3. Jh. v. Chr. wurde im Westen M.s das Partherreich und auf dem Gebiet Baktriens und Sogdiens das griechisch-baktrische Reich gegründet. 2.–1. Jh. v. Chr. gab es in M. eine Reihe kleinerer Staaten. Einen wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkt erreichte die Region unter der Kušan-Dynastie (1.–4. Jh. n. Chr.). Ab Mitte des 5. Jh. n. Chr. war M. Teil des osttürkischen Khaganats, dann im 8. Jh. wurde es Teil des arabischen Kalifats. In dieser Zeit setzt sich auch die Islamisierung M.s ein. Im 9. Jh. erlangte die Region de facto ihre Unabhängigkeit und die neuen Reiche der Samaniden und Tahiriden entstanden. Ende des 10. Jh. herrschten die turkstämmigen Karahaniden im Osten M.s und südlich des Amudarja die Ġaznawiden. Die mongolische Eroberung M.s, die 1219 begann, verlief blutig und zog die vollkommene Zerstörung der urbanen Zentren nach sich. Ende des 14. Jh. wurde M. unter der Herrschaft von Timur politisch geeint. Die anschließende Blütezeit in Architektur, Kunst und Handwerk beruhte allerdings zum grössten Teil auf der Ausbeutung der Anrainergebiete M.s durch die Mongolen. Anfang des 16. Jh. wurden die Timuriden durch eine usbekische Stammeskonföderation vertrieben, das Reich der Šaybānīden entstand, das nach der Verlagerung seiner Hauptstadt von Samarkand nach Buchara „Khanat von Buchara“ (später Emirat) hieß. Um diese Zeit erstarkte in Chorezm das Khanat von Chiva (russ., usbek. Xiva). Anfang des 18. Jh. entstanden das Khanat von Kokand (russ., usbek. Qo‘qon) und eine Reihe kleiner, halbunabhängiger Territorien. In den 40er Jahren des 18. Jh. eroberte der iranische Herrscher Nadir Schah Teile von M. Nach seinem Tode kam die Manġiten-Dynastie in Buchara an die Macht, die sich bis 1920 halten konnte. Ab Mitte der 60er Jahre des 19. Jh. begann die russische Eroberung M.s, die erst 1895 endete. Die russische Expansion brachte für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung M.s einen enormen Aufschwung. Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem folgenden Bürgerkrieg wurde M. sowjetisch. Im Laufe der national-staatlichen Neugliederung, die in den 20er und 30 er Jahre des 20. Jh. von den neuen Machthabern durchgeführt wurde, entstanden die sozialistischen Teilrepubliken Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ihre Unabhängigkeit erklärten.
Bregel Y. 1992: Central Asia in the 12th –13th/18th-19th centuries. Yarshater E. (ed.): Encyclopaedia Iranica, vol. V. Costa Mesa, 193–205. Sidikov B. 2003: „Eine unermessliche Region“. Deutsche Bilder und Zerrbilder von Mittelasien (1852–1914). Berlin.